Kurze Gedanken auf einer Zugfahrt

Geht ein Plan nicht auf, muss er neu justiert werden. Die Lebenskunst ist es wohl, darin nicht eine Ungerechtigkeit oder ein Ärgernis, sondern eine Chance zu sehen.

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Wie die Menschen in die Züge drängen, wie stumpfes, stieres Vieh, ist mir schon geradezu ekelhaft. Hier könnte, meine ich, die Zivilgesellschaft üben. Doch wie macht man das? Wo setzt man an?

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„Plötzlich war es so dunkel, dass ich im Norden kaum mehr den schwarzen Himmel und das schwarze Meer unterscheiden konnte. Nur die hellen Lichter der fernen Fischkutter zogen langsam am Horizont entlang; wie große Mähdrescher, die die Dunkelheit einfuhren, markierten sie die Trennlinie zwischen den beiden.“ (Robert Macfarlane, Karte der Wildnis)

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Der Punkt Baden-Württembergs, der am weitesten von einer Bahnlinie entfernt liegt, dürfte in Hohenlohe liegen, das legt die Streckenkarte nahe.

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Der Friede des Abends im letzten Licht. Die Menschen auf den Bahnsteigen, Massen untertags, Verlorene nachts, sind in dieser Stunde befreundeten Wesen gleich. Selbst der Güterzug fährt behutsamer durch den Bahnhof als gewohnt.

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„Wie gut: Zu gehen und zurückzukehren. / Man könnte Schlimmeres sein als Birkenschaukler.“ (Robert Frost, Birken)

Allgäu_Hoinzen

Sauber aufgereihte „Hoinzen“

Ein lettisches Käsebrötchen fährt durch die Nacht

Mit weichem Ghee eingerieben und mit Kreuzkümmel, Kardamom und Kurkuma bestreut, wäre durchaus eine erotische Alternative zu irgendwelchen Schokoladenspielchen.

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Ein lettisches Käsebrötchen fährt dreimal durch die Nacht. So unterschiedlich können Übersetzungen sein, erklärt das Radio. Habe ich wirklich einen Unterschied zwischen erster und dritter Übertragung gehört? Auf dem Papier ein Knall, die Peitsche des Puppenspielers ein schwarzer Blitz. Und der Wagen, el carro del titiritero, rumpelt durch den Regen. Meine Reise heute: nur noch Träume. Woanders Trauer um Hund, Katze, Kindheitsheld. Das Haus ist still.

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Weichenstörung ist ein Wort, das die Gesichter beschattet. Das Phlegma wird zur Unruhe eines orientierungslosen Schwarms. Steige ich hier aus oder nicht? Was machen die anderen? Jemand löst sich, seine Tat reißt weitere mit, andere zögern länger, wieder stürzt jemand hinaus, eine Person aber herein, alle auf der Suche nach dem Glück der schnellsten Weiterfahrt. Ein Handy schlägt an, es klingt wie an der Rezeption des Krankenhauses in „Bloodlines“, regnerische Nacht über Santa Monica und du das Vampirküken auf deiner ersten oder zweiten Mission, gestern noch Mensch, heute ein Raubtier in einer plötzlich ganz anders gewordenen Welt.

Hanse ruft

In Flachdeutschland. Ich habe Angst, dass mir der Himmel auf den Kopf fällt.

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Die oberschwäbische Reisegruppe, ganz im Saft ihres Dialektes, ist Staunen über die ungewohnten Klänge der norddeutschen Rentnerinnen vor ihnen. „Doa verstoasch alles. Aber dia it eis.“ (Übersetzungshilfe? Da verstehst du alles. Aber die nicht uns.)

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Ich passiere das Logenhaus der Freimaurer und steige ein paar Stufen in eine Matroschka aus hellroten Ziegeln hinauf. Denn wer das Hotel betritt, sieht sich darin weiteren Hotels gegenüber. Das ist beim ersten Mal verwirrend.

Die losen Marmorplatten des Treppenhauses knirschen unter den Schuhsohlen. Im dritten Stock wende ich mich nach links, denn rechts liegt das falsche Hotel. Eine hohe Tür aus weiß lackiertem Holz und Messing, dahinter Teppiche und Stille. Mein Zimmer liegt der Rezeption genau gegenüber. Es ist tadellos, wenn auch das schmalste Hotelzimmer, das ich je gesehen habe. Ich höre das Papierrascheln der Rezeptionistin. Es gab, wenn ich mich recht erinnere, nie zuvor in meinem Leben einen Grund, weshalb eine Universität mir hätte ein Hotelzimmer bezahlen sollen. Jetzt weiß ich, wie das ist.

Morgen Früh darf ich nicht vergessen, der Frühstücksdame ins Gesicht zu sehen, wenn ich etwas sage, denn ansonsten kann sie mir nicht von den Lippen lesen.

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„They hired a guy called Mark.“

Das könnte der Anfang einer Geschichte sein.

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Seminar, Abendessen an der Sternschanze, Texte bearbeiten für den nächsten Tag, bis die Augen zufallen. Die Menschen sind dankbar.

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Diese furchtbare Betretenheit in Frühstücksräumen und anderen Fällen, wo fremde Menschen in einem Zimmer zusammenkommen: jedes Wort ein Flüstern, jede Bewegung ein Eiertanz, Blicke aus Augenwinkeln, steife Haltung.

Dann kommt endlich der Typ mit der Mark-Geschichte von gestern – T-Shirt, das weiße Haare schnittig, der Körper sportlich, die Arme sehnig – und mischt den Raum auf. Er könnte sich auch im Outback behaupten, hier unterhält er sich über religiöse Minderheiten im Irak oder Publikationsunterschiede zwischen Amsterdam, Kalifornien und Japan. Er ist die einzige authentische Person im Raum.

Fünf Minuten später reden die Menschen an allen Tischen, wie befreit von unsichtbaren Fesseln.

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Tage in Hamburg zwischen Sonne und Regen. Wirklich nass werde ich erst, als ich in Stuttgart aus dem Zug steige.

Kant abgeworfen

„Unser dummer europäischer Kulturrelativismus ist eigentlich nur linksgewendeter Heidegger.“ Tischgespräche.

Da stehe ich beim Väterchen. Ein Reiterhelm treibt in den Wellen, kommt nicht voran, weil der Riemen in Geäst verhangen. Metallisch knarzt es, wo Kahne an Landungsbrücken liegen. Der Wind weht streng und frisch, als wäre es hier das Meer und nicht der Rhein. Wo ich stehe, hatten die Römer vor fast 2000 Jahren eine feste Brücke über den Fluss gebaut. Drüben leuchtet das Oktagon des „Pegelhauses“, einst das Fundament eines Tretradkrans, diesen Hamsterrädern bekannt von Abbildungen mittelalterlicher Großbaustellen. Wellen klatschen an das Ufer, flache Holländer schieben sich surrend stromaufwärts, stromabwärts. „Sulamaro“ – ist der Schiffsname ein Anklang an Indonesien, an die exotische Welt der niederländischen Kolonialvergangenheit? Somerset Maugham und Eric Ambler sehen mit mir dem Schiffe nach.

Nach zwei Tagen unter Kantianern ist mir nach Ausschreiten. Ich lasse den Uferstreifen mit seinen furchtbar schlechten Sprachwitzen hinter mir: „Schauen Sie mal R(h)ein“ oder „Koblenz & die Region Mittelrhein – immer ein guter ‚Diehl‘“ (wenn das Hotel wenigstens die Anführungszeichen weggelassen hätte). In Pfaffendorf überrascht mich die Bäckereiverkäuferin mit der Frage „Mögen Sie Zimt?“. Aber ja doch, und sie schiebt noch ein Zimtbrötchen in die Tüte. Eine Gasse führt auf ein Drehkreuz zu, dahinter wird der Weg zum Pfad, schlagartig ändert sich die Stimmung. Vom Rhein ist hier nichts mehr zu ahnen, ein Bach plätschert in einem lauschigen Tal, es fehlt nur noch das Mühlrad der Romantik. Doch der Straßenverkehr gleich hinter der Böschung beschwert den Flug der Fantasie.

Es geht also ein wenig hinauf, immer am sandigen Bach entlang. Mauern aus Schieferplatten stützen die Hänge. Manche Bäume kenne ich nicht. Der immer noch ungelesene Baumführer fällt mir ein, den ich doch eigens im letzten Jahr für solche Fragen erworben habe. Er liegt wohl in dem Bücherberg auf dem krummen Stuhl, den ich keinem Gast mehr zumuten will, vielleicht auch in dem Stapel dort im Regal neben der russischen Puschkin-Ausgabe, die ich überhaupt nicht lesen kann und nur der archaischen Bilder wegen einmal in einem Antiquariat erworben hatte.

Das militärische Sperrgebiet oben auf der Rheinhöhe liegt ganz friedlich im Sonnenschein, dann geht es durch „das schlimmste Schlammloch von Koblenz“, wie mir ein Radfahrer bestätigt. Auf der Wiese knallt es dann doch, noch ein Schuss, der Himmel ist plötzlich zugezogen. In Schleifen und Winkeln zieht sich der nasse Weg über der Stadt hinweg. Jeden Kilometer ändert sich das Gesicht des Waldes, das hält ihn interessant. Wanderer – nicht Spaziergänger, sondern Wandersleute – kommen mir immer wieder entgegen. Wie einsam erscheinen mir, in dieser Hinsicht, die württembergischen Wege!

Vom Lichten Kopf geht es dann steil nach Lahnstein hinab. Was sich mir von dort unten zeigt – gereihte Würfel und ein Fluss in seinem Gefängnis aus Kanalmauern –, ist reizlos. Der Weg schweift auf halber Höhe in einem weiten Schwung die Lahn aufwärts und fällt nach einem Halbbogen erneut ab, noch steiler als zuvor. Mountainbiker rutschen mit durchgedrückten Bremsen den Grat hinab mit seinen senkrecht stehenden Platten, als wäre unter einer Erdschicht der Rücken eines Stegosauriers nur schlecht getarnt.

Und noch einmal schwenkt der Weg in einem Bogen zurück. Südhangig schichtet sich der Fels in einer Palette aus Grau und Rost und Umbra, gefleckt von dem Gelb, Grün, Weiß der Flechten. Es ist ein Eidechsenreich, wie die Pfalz, wie die Hänge um Toledo, auch wenn ich die Reptilien noch nicht sehe.

Der dritte Abstieg wird der schönste, hinein in die Ruppertsklamm. Matschig ist der Saumpfad am Bachlauf, dann verschwindet der Weg ganz. Die Füße suchen Halt auf glitschigen Steinen, ein paar Mal helfen Drahtseile beim Abstieg über den Fels. Es ist beinahe Wildnis hier, das Plätschern stimmt heiter, wer mir entgegenkommt, lacht. Und ich habe Kant abgeworfen und trage nur noch ein paar Bücher im Rucksack und folge dem Wasser hinab zwischen den Wänden aus Sandstein und Schiefer. Und fließe.

Das Entsetzen liegt auf beiden Seiten, als ich meinen reservierten Platz in einem Abteil mit feiernden Techno-Freunden auf der Reise zu einem Festival finde. Rückzug in den Gang? Flucht in den digitalen Raum, hinter die Seiten eines Buches? Erst zögerlich, dann immer neugieriger suche ich das Gespräch. Eine Stunde und manche Anekdote später trinke ich von den in Wodka aufgelösten Eisbonbons und klatsche unter Johlen Hände ab, als die Raver den Zug verlassen. Beinahe hätten sie mich noch mitgenommen auf ihr Time Warp. Und wir alle haben wieder einmal menschlich gelernt in unserer Begegnung. Vielleicht war Kant da ja doch wieder unter uns.

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Rheinsteig

Wanderer in der Nacht

Zum Abschied leuchten mir Geißhorn, Hochvogel, Großer Daumen, Widderstein noch einmal schneeweiß auf. Das Massiv der Zugspitze im Osten entflammt im Licht der untergehenden Sonne orangefarben, die Nagelfluhkette gen Bregenzer Wald beschattet sich bereits. Mir ist eigenartig traurig und mutlos zumute. Im Norden, wohin der Zug sich wendet, dunkle Wolkenbänke.

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Es lacht die Gesellschaft am großen Tisch. Weingläser heben sich blitzend ins Licht, Worte wie „Klappentext“ oder „Verlagskanäle“ retten sich aus dem Stimmengewirr. Am kleinen Tisch, einen halben Raum entfernt, sitzt der einzige andere Gast, ein Lektor, hungrig vom langen, späten Treffen mit dem Herausgeber, dem Büro entronnen, und lächelt milde in seinen Primitivo.

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Güterzüge schneiden sich durch die Nacht, eine junge Frau kotzt, locker sitzt die Aggression der Männer, ein altes Wesen irrt von Bahnsteig zu Bahnsteig auf der Suche nach Pfandflaschen oder ein bisschen Linderung des Schmerzes längst verlorener Hoffnungen.

Und du lässt dir ein Fell wachsen, als wärst du ein Tier.

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ایها المسافرون في الیل

Der Schweigsame

Seine beiden Brüder arbeiten im Ausland. Er pendelt sechs Tage die Woche über die vom steten Infarkt bedrohten Straßen in die Hauptstadt oder vielleicht hat er dort auch ein Zimmer, das weiß ich nicht mehr. Er ist Elektroingenieur, arbeitet mit Systemen aus Deutschland, aus Frankreich. Im Ausland war er noch nie, außer in der Türkei auf einer Geschäftsreise. Sein Jahresurlaub beträgt 15 Tage, in diesem noch jungen Jahr hofft er, seinen Bruder in Deutschland besuchen zu können. Im Sommer ist er an den freien Tagen im elterlichen Haus in den Bergen. Alle gehen im Sommer, wann immer es möglich ist, in die Berge, zurück zu ihren Wurzeln, dorthin, wo sie einst herkamen und noch immer Grund und Boden besitzen und Olivenhaine verpachten und ihr eigenes Öl produzieren.

Dort geht er auch auf die Jagd. Die Jagd auf Vögel hat Tradition im Libanon; stapft man über Felsen zu den Katakomben aus antiker Zeit, stoßen die Stiefel gegen leere Patronenhülsen. Die Zahl der Zugvögel nimmt stark ab. Er zeigt mir Fotos von Kühlerhauben voller erlegter Vogeltiere. Manche kennen keine Grenze, sagt er. Manche jagen unfair, erklärt er. Die Jagd ist seine Leidenschaft, vielleicht seine einzige. (Wochenends dann Parties: harmlose Geselligkeit, ein Tisch voller Vorspeisen, Musik, Wodka. Er ist maronitischer Christ.) Hobbies kennen viele nicht in den arabischen Ländern, unseren Zwang zur unentwegten individuellen Perfektionierung noch weniger. Es ist eine Wir-Gesellschaft, keine Ich-Gesellschaft wie die unsrige. Wer jung ist, lernt oder eher noch: lernt und arbeitet. Später schuftet er, wenn er das Glück hat, eine feste Arbeit zu haben, und in der restlichen Zeit sitzt man mit der Familie zusammen (Zigarette, Essen, Kaffee, und immer noch mehr Essen und dazwischen Blicke auf den Fernseher, der immer läuft), und wenn man das nicht tut, dann hängt man mit Freunden ab.

Er ist schweigsam. Er raucht, wie viele, vielleicht raucht er sogar noch mehr, vielleicht fällt es auch nur auf, weil er sich wenig an den Gesprächen, am Schwatzen beteiligt. Manchmal steht er auf und geht unruhig ein paar Schritte hin und her, bleibt – die Jacke übergezogen – im Raum stehen, zündet sich dann eine neue Zigarette an. Er ist schweigsam und manchmal wenig greifbar, aber unfreundlich ist er nicht. Voller Loyalität holt er, als sein Bruder keine Zeit hat, den Gast ab, führt ihn aus in ein Café, bezahlt (selbstverständlich) die Getränke. Raucht, schweigt bis zu meiner nächsten Frage. Und dann, unerwartet, ein Ausbruch trockenen Humors.

Das Sitzen ist nicht sein Ding, das stundenlange Sitzen bei seiner Arbeit ist ihm zuwider. Trotzdem hat er sich mit mir an dem Tisch eines Cafés niedergelassen. Wir können auch ein bisschen herumlaufen, schlage ich ihm vor. Wohin denn?, gibt er bitter zurück. Es gibt hier nichts. Er hat recht. Es gibt hier nichts. Das ist das, was mich vielleicht am unmittelbarsten abstößt im Nahen Osten: die Reizlosigkeit des äußeren Raums – die Kargheit der Landschaft, die nichts von der Würde einer fernen Sandwüste – diesem törichten Klischee der arabischen Welt – hat; die Rohheit vieler Bauten, die keineswegs nur durch Armut oder gar Schlendrian bedingt ist, sondern einer inneren Logik gehorcht, Ausdruck einer immanenten dauerhaften Unfertigkeit ist, wenn etwa Generationen ein Haus aufstocken – auf das Betonflachdach mit seinem rostigen Gestänge eine weitere Mauer hochziehen; der Müll und der Staub und die Abgase und ein Verkehr, der so anders funktioniert und mir bei meiner ersten Begegnung erschien, als wäre ich in einen mörderischen Dschungel ausgesetzt …

Noch schlimmer ist in Ländern wie Syrien oder dem Libanon das Fehlen von Ruhepunkten im öffentlichen Raum, vielleicht überhaupt von öffentlichem Raum an sich. Die wenigen Parks – vertrocknet und oft vermüllt; die Cafés – im Winter zu kalt und oft genug sowieso ganz und gar nicht zu vergleichen mit einem Café aus der romanischen Welt (diesen wunderbaren Häfen) oder aber wie hier im Libanon Filialen einer westlichen Kette. Wie oft habe ich mir einen einladenden Platz gewünscht, eine Bank neben der Kirche oder der Moschee, unter einem Baum, vor dem Dorfbrunnen. Überhaupt eine Bank. Alles scheint hier nach innen gerichtet, ins Häusliche, in den Schutz der eigenen vier Wände. (Und dann diese Momente, wenn man durch all das hindurch eine ganz neue Gelassenheit findet und so viel abfällt von unserem westlichen Ballast und man einfach nur ist, dann verfällt man der Liebe zum ‚Orient‘.)

Wohin also gehen? Nirgendwohin. Später reden wir über die Angriffe des IS aus dem Nachbarland Syrien, über die Bedrohung durch den militanten sunnitischen Fundamentalismus, über die ungewisse Zukunft des Landes, die so vielen, mit denen ich gesprochen habe, Sorgen macht. Die libanesischen Christen (sie machen etwa 40 % der Bevölkerung aus) werden früher oder später das Land aufgeben und verlassen, sagt mir ein junger Arzt, sagt mir ein ehemaliger Botschafter. Der Libanon hat eine dreitausendjährige Geschichte als Fernhändler, immer schon sind seine Bewohner in andere Länder und Kontinente aufgebrochen, als Kaufleute, als Auswanderer.

Er aber, widerspricht der Elektroingenieur, er werde nicht gehen. Er werde seinen Boden mit der Waffe verteidigen. Und er fällt in sein Schweigen zurück, in diese angespannte Stille einer eingekerkerten Kreatur.

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Krokodile auf der Sandbank, Sonnenschein, kurz vor Weihnachten

Der Wolf Andreas ist schuld. Aber dazu später.

Eigentlich hatte ich eine Winterreise geplant, aber wenn ein Satz schon mit eigentlich beginnt. Eine winterliche Heimreise – entschleunigter als Heines Kutschfahrt (weniger politisch vermutlich, gewiss nicht in Reimform) und hoffentlich nicht so düster wie Schuberts Liederzyklus –, eine Wanderung nämlich, um im Morgengrauen aus der eigenen Haustür zu treten und ein paar Tage später in der Dämmerung des Heiligen Abends anzuklopfen bei meinen Vorfahren auf dem Hügel. Die Idee gefällt mir seit Jahren, heuer habe ich zum ersten Mal ernsthaft darüber nachgedacht, aber dann in der Detailplanung – auf den letzten Drücker natürlich – gemerkt, dass mir die fünf Tage nicht reichen für den Weg von Stuttgart ins Allgäu.

Stattdessen bleibt mir nun Zeit für ein paar andere Dinge, Grübeln über gesundheitliche Unpässlichkeiten etwa, die sich in letzter Zeit bemerkbar gemacht haben. (Sind sie ein Symptom des Älterwerdens? Ein Aufruf zur Umkehr, wohin auch immer?) Weihnachtspost ist eingetrudelt, die zwei schönsten – und überraschendsten – lustigerweise aus derselben Stadt von zwei Bloggerinnen, die einander, wenn ich mich nicht irre, nicht persönlich kennen. Herzlichen Dank, Lakritze und das A&O, für diese Freude! Gleichzeitig habe ich ein bisschen ein schlechtes Gewissen; das Gefühl für ein Gebot der Reziprozität ist ja auch in unserer postmodernen Gesellschaft nicht gänzlich ausgestorben. (Am wenigsten übrigens in älteren schwäbischen Haushalten, wo für ein geborgtes Pfund Mehl aber auch wirklich die korrekte Menge zurückgebracht wird, als könne man nicht leben in dem Wissen, jemandem ein Gramm schuldig zu bleiben.) Ich nämlich habe dieses Jahr niemandem Weihnachtspost geschickt, wirklich niemandem außer ein paar Professoren beruflicherweise, was etwas ganz anderes ist. Tatsächlich ist es das erste Jahr, dass ich selbst den Vorsatz, Weihnachtsmails zu schreiben an Menschen, bei denen ich mich lange nicht gemeldet habe, erst gar nicht aufgegriffen habe. Eine Kapitulation?

Vielleicht keine Kapitulation, aber jedenfalls eine Unterlassung ist die zweite Neuerung, eine Übereinkunft mit den Brüdern: Wir Erwachsene werden uns dieses Jahr nichts schenken. Aber den Nichten und Neffen natürlich, das lässt sich ein Onkel nicht gern nehmen. Am liebsten kaufe ich Weihnachtsgeschenke in einer Buchhandlung, immer schon. Und da die Aststifte in dem Kinderladen nicht mehr zu bekommen sind, rutscht ein Posten mehr auf die Buch- und Hörspielliste. Hängengeblieben bin ich dann bei Ausgaben von Latte Igel. Kein Vergleich zu dem Taschenbüchlein von Ravensburger oder so, das ich aus meiner Kindheit kenne, sondern großzügig bebilderte, hübsche Halbleinenbände. Da müssen Latte Igel und seine Freunde zum Beispiel den Wasserstein suchen gegen die anhaltende Trockenheit in ihrem Wald – doch der Stein wird vom grimmen Bärenkönig und seinen Kriegern, kühn gezeichneten Luchsen, besser lässt sich eine wilde Waldkriegerschar gar nicht darstellen, bewacht. Nach allerhand Abenteuern finden sie den Wasserstein schließlich im Hort des Diebes Fjodor. Fast hätte ich mir das Buch selbst gekauft.

Dann wurde es doch ein anderes (für mich) und jetzt kommt der Wolf Andreas ins Spiel. Denn er hatte im Frühjahr auf seinem Blog von seinen Leseeindrücken von Karl Bruckmaiers „The Story of Pop“ berichtet (1, 2 und 3). Ich hatte mir das Buch notiert und natürlich wieder vergessen und dann gehe ich in der Buchhandlung aus einem Impuls zurück in die Musikabteilung, weil ich mir gerade vorstellen könnte, über Musik zu lesen, ich da, wenn man so will, plötzlich einen gewissen musikalischen Bildungshunger verspüre, und da sehe ich den Bruckmaier liegen und erinnere mich. Und weiß wieder, das will ich, schon alleine deswegen, weil Bruckmaier seine Geschichte des Pops mit dem frühmittelalterlichen al-Andalus beginnt. Es gibt in der Auslage eine Broschurausgabe (Heyne) und eine schwarze Leinenausgabe (Murmann) und ich greife zu Letzterer, da kann ich gar nicht anders, auch wenn ein empfindungsloser Finanzberater mir vielleicht auf die Finger klopfen würde: „Brauchen Sie‘s?“ Also, ich finde, schon.

Ich freue mich darauf, es gleich aufzuschlagen und hineinzulesen, suche mir am Marienplatz ein sonniges Plätzchen. Die Weihnachtsgrüße im Ratzer ums Eck lasse ich lieber, sonst höre ich dort doch noch in die neue Platte von Hellmut Hattler hinein und finde am Ende noch Gefallen daran und dann klopft mir der Bankberater nochmals auf die Finger. Ich schlage also den Bruckmaier auf, schon das Leinen zu berühren ist schön, und habe, als ich auf der ersten Seite des Vorworts bin, bereits eine fünffache Gänsehaut von dem Buch bekommen.

„Gibt es einen Schöpfer, der an uns Interesse hat?“, bauen zwei vertrocknete Frauen einen Stand mit Broschüren auf. Nein und nein, meine Damen. Den Geist des Weihnachten schätze ich trotzdem. Nicht den des Kommerzes, der Blinklichter, der Schmalzbeschallungen, dieser gefräßigen Maschinerie, die mir in diesem Jahr mächtiger denn je erscheint. Sondern den eines Charles Dickens, den, der uns innehalten, uns für Feineres aufmerken, uns zusammenfinden lässt, durchaus auch den von Kerzen hinter Fenstern und gemeinsamem Geschichtenlesen und Lebkuchengewürzen. Aber ich verstehe, dass Weihnachten für manche eine Qual, für andere die Hölle ist: Einsamkeit, Armut, Verlogenheit und Missbrauch.

Die Göttin hat mir Tee gekocht
Und Rum hineingegossen;
Sie selber aber hat den Rum
Ganz ohne Tee genossen.

(Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen)

Jetzt muss ich nur noch überlegen, was ich mit dem Vorschlag von Danares und dem Kaffeehaussitzer mache. Ich glaube, denen war es ernst.

Ich wünsche allen das Beste, das Bestmögliche! Vielleicht ja sogar selige, liebevolle Feiertage.

Moshés Schüler

Nachts reißt die Sirene das winzige Örtchen aus dem Schlaf. Ein Blick auf das Smartphone zeigt: Es ist kurz nach 5 Uhr morgens. Ich höre die Schritte der Großmutter auf den knarzenden Dielen. Nirgendwo Feuer zu sehen, sagt sie nach einem Rundgang an alle Fenster, besser: nuschelt sie, denn ihr Gebiss liegt ein Stockwerk tiefer in einem Glas. Nebenan ertönt ein langer Pfiff der Mutter. Sie ruft den Hund, der verängstigt von dem Sirenengeheul in einer Ecke der Terrasse kauern wird. Die Großmutter steigt die Stiege hinab, einmal geweckt, beginnt sie ihr Tagwerk. Ich drehe mich nochmals um. Draußen hängt Nebel. Später besprechen wir, ob es auf der nahen Autobahn einen Unfall gegeben haben mag, von Urlaubern auf dem Weg in die Alpen.

„Die Ersten an Land, die Letzten zurück“, hatte Alexander Kent, Autor zahlreicher Seekriegsgeschichten, seinen Roman über die Royal Marines betitelt. Die Eschen machen es umgekehrt. Sie sind die letzten Bäume, die sich im Jahreslauf in Grün kleiden, und die ersten, die ihr Gewand wieder abwerfen. Die anderen Bäume zeigen sich umso bunter in Rot- und vor allem Gelbtönen, von selbst im Morgennebel leuchtenden Farben von melancholischem, ja krankhaftem Charakter, wie sie einem französischen Film um eine depressive Schönheit ziemen mögen aus jenen Jahren, in denen Frankreich noch für seine anspruchsvollen Problemfilme berühmt war – entschleunigt, schonungslos, mit messerscharfen Dialogen – anstatt für hektisch-seichte Komödien. Ich friere bei dem Frühstück auf dem städtischen Wochenmarkt, unserer ersten Etappe an diesem Tag im Indian Summer. Danach geht es hinaus in die Vorberge, schon am Rand der Stadt lassen wir den Nebel hinter uns, ein selbst in der Oktoberpracht auffallender, feuriger Herbst ziert das Plakat der Waldorfschule, die in ihrem Gartenareal ein Bauwagencafé betreibt. Im Sonnenschein wird das Fieber der Bäume zu reiner Schönheit. Wir unterhalten uns auf der Fahrt, ob Spiritualität auch ohne Transzendenz möglich sei.

Auf dem Parkplatz des Tales locken zwei schartige Container die Bauern der umliegenden Siedlungen. Sie laden ihren Eisenschrott hier ab, wuchten ihn mit dem Vorderlader der Traktoren in die Behältnisse, reichen sich meterdicke Rollen aus Drahtgitter und gebogene Dachrinnen mit den behandschuhten Händen hoch, werfen kleinere Teile von unten über die Containerwand. Der Hänger mit Platten wird nach seiner Entladung gleich abgekoppelt und stehengelassen, es war seine letzte Fahrt. Unsere Blicke meiden die Arbeitenden, untereinander aber scherzen sie. Wie gerne würde ich meinen gekünstelt gewordenen Dialekt unter ihnen schulen. Ein Bartträger zündet sich genussvoll eine Zigarette an, der Mann mit den grauen Koteletten pinkelt für alle sichtbar neben einen roten Opel ohne Nummernschild. Der Motor des Wagens läuft, ein paar Minuten später falten sich drei junge Burschen, groß und kräftig, Schirmmützen über den runden Gesichtern, in das Auto und lassen es unter dem Röhren des kaputten Auspuffs vom Parkplatz rollen. Auch dieses Auto hat einen Platten. Es hindert die Burschen nicht daran, es die für Kraftfahrzeuge verbotene Straße hochzujagen, über die wir gleich unseren Spaziergang beginnen werden.

Ganz unerwartet taucht oben auf dem Hügel ein liebliches Örtchen auf, eine Kapelle, eine Handvoll schmucker Höfe. Viel Holz ziert ihre Fassaden, die seltene Stechpalme wächst hier in großer Zahl. Am schönsten und lebendigsten Hof machen wir Halt, jemand kennt hier jemanden. Schrott wird verladen für den Container unten im Tal, Ziegen werden auf die Wiese getrieben, ein Pfau stolziert durchs Gehege, Enten queren ihren Teich. Die Hunde fallen sich immer wieder an, denn unsere hündische Begleitung ist zu frech, immer wieder gerät sie mit dem Hofhund aneinander, aber da ist nichts zu machen, das müssen die Hunde selbst klären. Ihre Besitzer bleiben gelassen, als würden sie Spatzen bei der Futtersuche studieren – aufmerksam, aber gelassen. In dieser Geschäftigkeit findet sich die Zeit, dass wir auf den sonnigen Bänken einen Kaffee erhalten. Ein weißbärtiger Alter in Latzhose gesellt sich zu uns, er ist nicht wie erwartet ein Allgäuer Großvater, sondern ein ‚Jobhopper‘ aus Israel. Deutsch spricht er nicht und außer mir scheint niemand willens (oder in der Lage) zu sein, eine Unterhaltung auf Englisch zu führen und so komme ich mit ihm ins Gespräch. Und unerwarteter noch, als schon dieser schmucke Weiler auf dem Hügel sich gezeigt hat, erblüht hier in seinem Herzen noch eine weitere Schönheit auf. David, in einem Kibbuz aufgewachsen, hatte noch bei Moshé Feldenkrais gelernt, und bald sind wir in einem Gespräch über Achtsamkeit, über Wandel, über den Mut zur steten Veränderung. Ein Lehrer zu sein, weist David von sich, und doch ermuntert er mich, sehr bescheiden und ganz humorvoll, zu Schritten in ein neues Leben. „Ich sage nicht, dass es leicht wird! Wenn du natürlich glaubst, wie ein Schmetterling herumflattern zu können … Auch ein Schmetterling muss erst einen langen Zyklus durchlaufen, das ist harte Arbeit und er kann unterwegs gefressen werden. But of course, trust yourself and just do it. I did not regret one single change in my life.

In der nächsten Kapelle verkündet eine schlichte Tafel „‚Vergelts Gott‘ für an guate Alpsommer.“ Dem Dank kann ich mich in gewisser Hinsicht anschließen. Ein gutes Wanderjahr war es, auf Berg und in Auen und auch in seinen menschlichen Begegnungen. Von dem Heuschnaps an der Alpe gegenüber nippe ich nur und statt des mit Zwiebeln und Essig angemachten herben Romadurs – kein Essen verbinde ich mehr mit meinem Großvater selig als diesen Sauren Käs – wähle ich lieber Weißwürste. Die Sonne wärmt, der Herbst verzaubert das Voralpenland zu einem Paradies, einem Sehnsuchtsort, den ich nie wieder verlassen will. Der Tag ist ganz Erfüllung und zugleich liegen Kopfschmerzen wie ein Folterreif um meinen Schädel.

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Herbstfrucht

Buchmessesorgen III

Meinen Zug habe ich verpasst, aber K. war so nett, die Stunde mit mir zu warten und mir nochmals ein Getränk auszugeben. Dabei hatte er, den die Buchmesse am Arsch vorbeigeht, mich vollgequatscht über Verlage und Verleger, Autoren und Illustratoren und Gestalter und ihre Leistungen und Mauscheleien, ihre Schätze und Gaunereien. Und ich verstand, in der Bar bei den Gleisen, nur Bahnhof, kannte und begriff von dieser deutschen Verlagsgeschichte nur einen Bruchteil und war sowieso müde und nun auch hungrig von dem langen Tag, und im Blickfeld links blinkte der übergroße Bildschirm und im Blickfeld rechts blinkte die scharfe Braut, die sich andauernd, immer und immer wieder, mit den Fingern durch die Haare fuhr, und ich fragte mich, ob sie von nebenan aus dem Rotlichtviertel kam und hier einen irgendwie verlorenen Messebesucher abgreifen wollte, und ich begann zu schielen und konzentrierte mich auf K.s lange Nase und er redet und redet einfach immer weiter und ich bin gar nicht mehr hier. Den nächsten Zug verpasse ich nicht und meine Sorge, ob ich mit meinem zuggebundenen Ticket durchkomme (ich habe mit K. eine Wette darüber abgeschlossen oder eher er mit mir) löst sich gerade eben einfach auf, als die Stempelzange des Zugbegleiters ihr KLICK

Hurra, die Mauer ist weg. Oder: Haben auch Hunde eine Morgenlatte?

„Morgen ist doch deutscher Nationalfeiertag? Was sagt man sich da?“, fragt der syrische Besucher. Die Frage lässt mich einen langen Augenblick schweigen, bis ich beinahe verschämt sage: „Nichts.“ Wir haben keinen Glückwunsch zu unserem Nationalfeiertag. (Etwa „Hurra, die Mauer ist weg“?) Für die meisten von uns ist es einfach nur ein freier Tag.

Es war eine dieser Fragen an diesem Abend, die uns Deutschen am Tisch nachdenklich stimmten, weil sie unserer Selbstverständlichkeit unerwartet alles Selbstverständliche nahmen. Sie beschäftigt mich jetzt noch und ich weiß, ich werde nicht schlafen können, ehe ich nicht die Gunst der Stunde ergriffen und diese Entselbstverständlichung punktgenau zum Tag der deutschen Einheit auf den Blog gestellt haben werde. Zugleich aber wird mir jeder Satz Schlaf kosten, denn um 4.30 Uhr wird der Wecker klingeln und ich werde mich aufmachen in die Berge, um mittags dort zu stehen, wo es nur noch Licht und Stein um mich gibt. Eine Analyse, das kann ich also vergessen, auch die Suche nach einer literarischen Form spare ich mir, denn gleich ist es Mitternacht.

Es war interessant zu sehen, wo sich an einer Tischrunde – nachdem die Teller mit den pandschabischen Gerichten geleert waren – Brücken bildeten, die niemand hatte vorhersehen können. Wie erst der Junge, der als einziges Kind unter den Erwachsenen trotzdem Freude hatte, das Eis brach, einfach nur, indem er da war und war, was er ist: ein Kind, und ein Lächeln auf die Gesichter der beiden aus Syrien geflüchteten Medizinstudenten zauberte. Wie sich dann etwa die Tierärztin und die beiden Syrer über allgemeine Fachfragen an skurrile Geschichten aus dem Medizineralltag herantasteten und dann vor Begeisterung gar nicht mehr zu bremsen in ihrem Wortwechsel über die Serie „Grey‘s Anatomy“. Der Soziologe und ich schauten uns hilflos an. Wir verstanden nichts. Aber das war es wert.

Die Geschichten wurden immer bizarrer und mir wurde wieder einmal bewusst, in welchem Elfenbeinturm mein Broterwerb sich abspielt. Der Anruf, ob auch Hunde eigentlich eine Morgenlatte haben, gehörte noch zu den harmloseren Anekdoten des Abends.

Die Reste sind im Kühlschrank verstaut, der Rucksack ist noch zu packen. Mitternacht. Ich bin dankbar für jeden einzelnen Menschen, der an diesem Abend zu Gast war, und vor mir, durch ein paar Stunden Schwärze hindurch, höre ich den Berg rufen.