26. Großvater und Enkel – ein Gespräch
Verwandtschaftstreffen sind ja so eine Sache: Sie bieten je nach Familienverhältnisse alles zwischen Himmel und Hölle. Stellen wir uns nun einfach einen Fall vor, in dem man sich in Solidarität mit einem Verwandtschaftszweig übt, weil es die Tradition erfordert, nicht, weil das Herz ruft. Steckt man einmal mitten drin, spürt man doch, dass ein wenig Zuneigung da ist und sei es nur aus der Gewohnheit früherer Tage. Am interessantesten – so spinnen wir unser Gedankenspiel einfach mal weiter – ist der Großvater, Vater des Vaters. Bedauerlicherweise ist er zugleich der Zurückhaltendste: Er hat es schon seit langem gelernt, sich in sich zurückzuziehen, in seine eigene, wissensreiche Innenwelt. Ein Kriegsinvalide, nur kurzfristig arbeitstätig, einäugig und seit dem Alter nicht mehr allzuweit vom Blindsein entfernt. Und weiter: Eine Ehefrau, bestimmend, überstimmend, zu oft klagend – „aber man kann ja nichts machen.“
Stellen wir uns weiter drei Enkel, Söhne eines Vaters, vor, die um diesen Mann herum sitzen und ihn irgendwann zu seinen Kriegserfahrungen befragen. Es ist ein unweigerliches Thema, mehr von der Seite der Enkelgeneration aus, aber sie greift nur etwas auf, was unausgesprochen im Raum steht. Es ist soviel Schreckensfaszination an dem Erlebnis „Krieg“, dass es auch jetzt nach über einem halben Jahrhundert für den Betroffenen noch immer ein Thema ist. Erfahrungen, die das ganze Leben prägen und immer wieder nagen, immer wieder die Bearbeitung suchen, Seelenarbeit verlangen. Und für die Spätgeborenen: Eine Möglichkeit, etwas Fremdem und so ungeheuer Gewaltigem wenigstens in den Erzählungen eines Zeitzeugen nachzuspüren. Dabei drängt der Großvater dieses Thema nicht auf; wie gesagt, oft suchen die Enkel es. Bösartige Zungen könnten sagen, der Krieg wird nur ins Spiel gebracht, um Gesprächsstoff zu finden; ein Thema, zu dem es immer etwas zu sagen gibt und man bequem eine gemeinsame Kommunikationsebene findet. Doch das wäre verfehlt, es ist mehr: ein Bedürfnis auf beiden Seiten.
Es fängt harmlos an. Dänemark als Annäherung an das Thema, Stationierung vor dem ernsthaften Kriegseinsatz. Es ist so etwas wie die heile Zeit des Großvaters in dem Mahlstrom des Krieges. Seine Erinnerungen an diese kurze Zeit sind nur gut und es gehört zu den wenigen wirklichen Wünschen, die er noch für sein Leben hat, nach Dänemark zu reisen, als Tourist, als braver Reisender, Jahrzehnte nach der deutschen Besetzung. Und unvorstellbar eigentlich, dass dieser Wunsch nicht erfüllt wird. Allein zu reisen ist nicht mehr möglich und die Großmutter sperrt sich, schiebt scheinbar vernünftige Bedenken vor. Zu alt, zu weit, zu schwierig, ach könnte man noch, aber wir sind dann doch besser vernünftig und bleiben zu Haus. Bis es eben wirklich zu spät wurde für solch eine Reise.
Nach Dänemark kommt dann Frankreich. Manchmal zumindest. Frankreich – das ist offener Krieg. Selbst hier ist noch Raum, ‚Lebensraum‘ gewissermaßen, für eine Anekdote, wie den französischen Wein, der den Großvater den Abzug verschlafen und der Truppe katerköpfig hinterhereilen ließ. Doch Frankreich ist auch mehr: die Front, der Kampfeinsatz, die Verwundung. Eigentlich alles, nur nicht Ostfront. Davor blieb der Großvater verschont. Wer aus dieser Verwandtschaft an die Ostfront gekommen war, kehrte nicht zurück.
Enkel #2: Du Opa, wie war das eigentlich mit deiner Verwundung?
Großvater: In den Vogesen war das gewesen, im Herbst, als ich das erste Mal wirklich an der Front war.
Enkel #1: Wie ist das eigentlich mit der Angst dort an der Front? Verliert die sich bald, weil so sie alltäglich geworden ist?
Großvater: Ja, die Angst … (Zögern) Die fängt an, wenn man das erste Mal die Artillerie hört. Das ist ein sehr unangenehmes Gefühl, das sag ich euch.
Enkel #3: Wie hört sich das denn an?
Großvater: Zuerst ist es nicht mehr als ferner Donner. Da fängt es an, im Bauch mulmig zu werden. Und dann hört man irgendwann das Pfeifen, das immer lauter wird, bis es über dir ist.
Enkel #3: Dann ist es wohl am gefährlichsten …
Großvater: Nein, nein! Solange du die Geschosse noch hörst, ist alles in Ordnung. Dann fliegen sie nämlich über dich drüber. Wenn es dich dagegen erwischt, hörst du kein Pfeifen und nichts – dann ist es einfach da und aus.
Enkel #2: Und so eine Granate hat auch dich erwischt?
Großvater: Ja, aber ich hab‘ ja noch Glück gehabt.
Enkel #1: Wann war denn deine Verwundung?
Großvater: 17.11.44, am Morgen. (Ein Glasauge starrt ins Leere, die Hände zittern.)
Enkel #1: Was war euer Auftrag gewesen?
Großvater: Ein Stellungswechsel.
Enkel #2: Und wie lief das ab? Seid ihr da in der Gruppe losmarschiert? In Formation?
Großvater: Nein, man ist eben los. Wir sind zu zweit gegangen mit dem Funkgerät und dann war es halt plötzlich passiert. Der andere ist heil davon gekommen, aber ich lag am Boden. Und dann erinnere ich mich nur noch an das Gesicht meines Kameraden, wie er entsetzt auf mich herabschaut und dann davonläuft. Soldaten aus einem anderen Zug haben mich dann aufgesammelt und ins Krankenlager gebracht.
Enkel #3: Hast du Morphium bekommen oder so?
Großvater: Ach von wegen, nichts!
Enkel #2: Aber man sieht doch immer, wie die Verwundeten gleich eine Morphiumspritze bekommen, in den amerikanischen Filmen sieht man das.
Großvater: Ja, die Amerikaner vielleicht … Wäre ich von den Amerikanern gefangen genommen worden, wäre ich medizinisch wahrscheinlich besser versorgt worden.
Enkel #2: Ja, haben die Gefangene denn so gründlich versorgt?
Großvater: Ja sicher! Bei uns war da nicht mehr viel zu machen, nicht mehr zu dieser Zeit. Ins Sterbezelt hatte man mich gelegt, das war alles. Und dann bin ich halt doch noch wieder aufgewacht. Die einzigen, die es etwas besser hatten, waren die von der SS. Die bekam immer das Beste. Wenn ich euch so ansehe – ihr wärt, wären die Zustände immer noch so, bei der SS. Alle drei. (Gerunzelte Stirn, ein seltsames Gefühl im Bauch, im Brustkorb. Kurze Blicke, verwirrt, zeigen, dass alle Enkel das gleiche denken: Wie war das denn bitte gemeint?) Ich war damals zu klein geraten dafür. Gott sei Dank.