Es ist Winterzeit und die kleine Bäckerei am Eck noch geöffnet, obwohl es bereits dunkel ist. Ein lockenkopfiger Mann verlässt die Bäckerei mit seinen beiden Kindern (für einen Moment sehe ich meinen Bruder in ihm), sie steigen, Papiertüten mit Gebäck in der Hand, die Sandsteinstufen herab zu ihren Rädern. Eines der kleinen Mädchen trägt einen martialischen, farbenprächtigen Fahrradhelm – einen Tigerhelm, durch dessen weit geöffnetes, zähnebewehrtes Maul das Gesicht des Mädchens schaut. Der Helm erinnert mich an den Kopfputz der aztekischen Jaguarkrieger. Ein merkwürdiger Kontrast zwischen dem kleinen Mädchen mit dem leicht schmollend-orientierungslosen Ausdruck und jenen altmexikanischen Elitesoldaten, die ihren militärischen Rang erst erhielten, wenn sie eine bestimmte Anzahl von Kriegsgefangenen für das Opfer auf den blutigen Aztekenaltären gemacht hatten …
Ich denke an eine Rollenspielrunde zurück, die ich vor ein paar Jahren geleitet hatte. Es ist ein – inzwischen selten ausgeübtes – Hobby, über das ich auf diesem Blog eher nicht erzählen würde (schließlich ist Zeilentiger liest Kesselleben kein Tagebuch). Vielleicht macht mich die Erkältung leichtsinnig, den Kopf mit Watte gefüllt und doch zu wach, um einfach nur dahinzudämmern. Ich hole einen externen Datenspeicher hervor, klicke mich durch Dateien, öffne schließlich ein Dokument, dessen Namen mit dem fremden Wort Amatl beginnt – einer Art Papier aus dem vorspanischen Mexiko, um nicht zu sagen ein Buch, eine Chronik untergegangener Zeiten. Ich überfliege ein paar Seiten und denke zurück an unsere Abenteuer in einem präkolumbianischen, um fantastische Elemente angereicherten Mesoamerika, erwachsen aus einer einfachen Gesprächssituation: Einer ist der allwissende, aber neutrale Erzähler, die anderen führen eine Figur in der Welt, die der Erzähler in Worten entwirft. Das ist, wenn das Miteinander gelingt, spannender als jeder Roman. Und ich lese mich durch die Aufschriebe, Nachschriften jener Abende mit lieben Freunden. Ameyatl, Checha, Ilhuicamina, Irraruru, Mixtli, Tecuani, Tlaco – schön war es mit euch.
Rot tropft das Blut in die Steinschale und rot leuchten die beiden Gestalten auf der
Tempelpyramide dort drüben, die im Licht der untergehenden Sonne einen Freudentanz
aufführen. Das Opfer brachte Erfolg, der Eingang ins Innere der Pyramide ist frei.
Der Wald unter dem Turm versinkt bereits in den Schatten. Affen kreischen auf den
Trümmern einer vergangenen Zeit, Vögel krakeelen, sie verabschieden den Tag,
begrüßen die Nacht. Lautlos löst sich ein Schemen von der Wand.
Ein kopfloser Mann springt auf Mixtli zu, die wuchtige Spitze eines Schlagspeers
schwingt herum.
Mixtlis Hände greifen nach der zweihändigen Schwertkeule auf dem Rücken, krallen
sich in den Griff der Waffe, ein erstaunter Ruf löst sich von den Lippen. Viel zu schnell
ist der kopflose Geist heran, er lässt Mixtli keine Chance. Die Breitseite des
Schlagspeers fährt in seine Brust. Poncho, Haut, Fleisch, Knochen – alles bleibt
unversehrt, aber die Wärme seines Blutes strömt aus der unsichtbaren Wunde.
Endlich hat Mixtli seine Waffe frei, sie zerschneidet die Luft und verschafft ihm den
nötigen Augenblick für einen Seitwärtsschritt, ohne dem Schemen dabei wirklich
gefährlich zu werden. Bevor der Kopflose ihn erreichen kann, setzt Mixtli den nächsten
Fuß über. Seine Schultern scharren über das Mauerwerk, dann ist ein Fenster hinter
ihm und er glaubt, den Sog der Tiefe zu spüren.
Mixtlis zweiter Hieb ist gezielter und ja, seine Waffe trifft. Sie fährt, ohne auf
Widerstand zu stoßen, durch den Schemen hindurch. Der Kopflose strauchelt nicht
einmal von der Wucht der Waffe. Unbeirrt umtanzt sein geisterhafter Schlagspeer die
Schwertkeule, aber er erreicht Mixtli nicht.
Was tun? Mixtli macht einen Satz zum Treppenhaus. Seine lange Waffe raubt ihm die
Schnelligkeit, blitzschnell ist der Kopflose hinter ihm und Mixtli spürt die Eiseskälte, als
der Schlagspeer knapp an seinem Nacken vorüberzieht.
Mixtli stürzt die Treppe hinab ins Dunkel. Er ahnt die brüchigen Stufen eher als sie
zu sehen. Steine bröckeln unter seinen Tritten. Dann ist die Stelle erreicht, an der im
Westturm ein lange Lücke in der Treppe klafft. Mixtli stößt sich ab. Als seine Füße nicht
den Boden finden, weiß er, dass er den Abstand falsch eingeschätzt hat. Er fällt. Ein
Stockwerk tiefer raubt ihm der Aufprall den Atem, er glaubt für einen Augenblick, ersticken zu müssen, dann ist sein Körper wieder auf den Beinen, während Mixtli sich noch
auf den Stufen zu liegen wähnt. Alles schmerzt, ein Bein ist nahezu taub. Mühsam
humpelt er weiter hinab. Wenn der Kopflose ihn verfolgt, wird er ihn gleich erreicht
haben …
Dann ist Mixtli im Erdgeschoss, er stürzt hinaus in den Abend und taumelt im
Laufschritt auf die Tempelpyramide zu. Irgendwo zwischen den Ruinen glüht ein
merkwürdiges Licht auf, aber Mixtli kümmert sich nicht darum. Er erreicht die
Pyramide und nimmt die hohe Treppe. Den Schmerz schließt er aus, er ignoriert die
schwindelerregende Tiefe – nur nach oben, nach oben, wo Tlaco und Ilhuicamina
warten! Stufe für Stufe erklimmt Mixtli den steilen, fast unendlich erscheinenden Weg.
Dann spürt er, er ist nicht allein auf der Treppe. Da ist noch etwas und er weiß nicht, ob
vor ihm oder hinter ihm …
Und jetzt Wolfsburg untergehen sehen. Dinge, die man eben macht, wenn man nicht ganz klar bei Verstand ist.