Nach Anpfiff

5 Minuten nach Anpfiff – Unfassbar. Es stehen tatsächlich Menschen in aller Seelenruhe auf der Straße und interessieren sich einen Dreck für das Spiel.

8 Minuten nach Anpfiff – Die Verzweiflung wächst. „Ist der Stuhl hier noch frei?“, frage ich. „Eh, we are eight“, hält der Mann die Finger hoch.

10 Minuten nach Anpfiff – Endlich ein Platz. In einem schummerigen Hinterzimmer einer Kneipe. Draußen ist es hell.

11 Minuten nach Anpfiff – Zu wenig Geld in der Tasche für ein Weizenbier. Oh mein Gott.

14 Minuten nach Anpfiff – „Es ist riskant“, dann bricht der Kommentator ab. Ja was denn jetzt?

16 Minuten nach Anpfiff – „Höwedes und Mertesacker stehen sich da gegenseitig auf den Füßen rum.“ Moment: Mertesacker? Ach ja, richtig, das war ja alles beim letzten Mal.

Dieses Mal ist mir der Trubel völlig gleichgültig. Als lebten wir inzwischen in einem anderen Zeitalter, in einem neuen Yuga. Kali tanzt lauter.

Lemberg, Südhang

Ein zweifacher Sommer wärmt den winterdunklen Kopf: ein ostpreußischer im Rucksack, 140 Seiten lang, und ein württembergischer vor mir, ausgebreitet an diesem frühen Maientag, als gäbe es keinen schönern Ort auf dieser Welt.

Über den ‚tödlichen Männerschnupfen‘ lässt sich gut spotten, das sehe ich ein. Und doch ist‘s in seinen Wellentälern ja wirklich ein Elend – das ganze Vitalsystem wirkt wie fundamental erschüttert, alle Lebenssinnhaftigkeit ist hinterfragt, Hoffnung für die Zukunft ganz undenkbar. Krumm stöhnt einer in der Küche wie unter der Last des dreifachen Alters. Einer weint vielleicht bei Musik. Bitte, es ist doch nur eine Erkältung! Und trotzdem hasse ich diese zwei, drei Tage im Kalenderlauf, mehr noch, ich fürchte sie inzwischen mit jedem Jahr ein bisschen mehr – eine hübsche Regelmäßigkeit des Älterwerdens.

Andererseits macht man manchmal ja so Entdeckungen. Im eigenen Regal zum Beispiel. Du ziehst ein Buch heraus, das über Jahre hinweg nur bei Umzügen angetastet wurde, schlägst es auf, erwartest nichts – und bist verloren. Es ist ein Sommer an der kurischen Nehrung in den letzten Jahren des Kaiserreichs, wovon Eduard von Keyserling in seinen „Wellen“ erzählt. Von den Sorgen, Nöten und Hoffnungen der Strandgäste, gefangen in den Konventionen einer sterbenden Zeit, getrieben von ihren Leidenschaften und Ängsten. Da ist Doralice, die junge Gräfin mit dem schicksalshaften Mund, die ihren um vieles älteren Ehemann verlassen hat für den idealistischen Maler Hans. Dort, ein paar Häuser weiter, residiert unter der Führung der pragmatischen Generalin die Adelsfamilie, welche die Regelbrecherin Doralice halb fürchtet, halb verehrt und als Gemeinschaft daran fast zerbricht. Überall und nirgends der verwachsene Geheimrat Knosperius, ist er Außenseiter oder Puppenspieler? Die Fischerfamilien. Und natürlich das Meer.

Alles spielt an (oder in oder auf der) baltischen See, an jedem Tag, in beinahe jeder Szene beschreibt von Keyserling erneut und fast wie nebenbei das Meer – und kein Mal gleicht es sich. Das ist die hohe Kunst der Wahrnehmung der Impressionisten, empfänglich für die tausendfachen Eindrücke des Lichts, und es ist eine wahre Lust zu lesen. (Die pointierten Dialoge, die zu andauernden Unterstreichungen verlocken, unterschlage ich.) Und das ganz Erstaunliche ist: Dieser Eduard von Keyserling, eine etwas traurige, unstete Gestalt von nicht so recht zu beschönigender Hässlichkeit – darf man dem Porträt des Malers Lovis Corinth Glauben schenken –, dieser Eduard von Keyserling, Spross einer deutschbaltischen Adelsfamilie, diktiert, von der Syphilis gezeichnet und längst erblindet und bettlägrig, diese Geschichte – zeichnet so viele Spielarten des Lichts (und der menschlichen Regungen) aus der Finsternis seines Krankenlagers und seines sterbenden Körpers heraus.

Kaum ist der erste Schritt aus dem Aschetal gemacht, will ich tun, tun, tun. Ich fliehe hinaus aus der dunklen Wohnung, aus der Stadt. Die Menschen tragen sommerkurze Kleidung. Ich wage nicht, die Hemdsärmel umzukrempeln, und selbst durch den Schal hindurch frisst der Wind an meinem Hals. Trotzdem hinaus, hinaus! Das erste Gras ist eingeholt, der Schnitt leuchtet blassgrün, Böen fahren ungestüm durch grünes Getreide, Apfelblüten treiben über die Wege, die Hecken am Bachufer verdichten sich, Bäume gewinnen Fülle. (Es ist doch wenig Schöneres als diese Er-füllung eines gewaltigen Baumes.) Ich tauche über weiche Pfade in den Wald ein, langsam, sehr langsam steige ich die kleine Höhe hinauf und dann bin ich ganz unvorbereitet auf die Weite, die sich auftut.

Der Lemberg ist ein Zeugenberg, steht also dem Höhenzug, dem er einst zugehörte, wie ein Posten vorgerückt. Nichts versperrt den Blick. Im Osten sehe ich auf die Backnanger Bucht, weit hinten ragt der kaiserliche Hohenstaufen über die Hügel (die Burgen Teck und Hohenneuffen auf der Schwäbischen Alb hingegen sind im Dunst versteckt); der Korber Kopf markiert das Tal der Rems im Süden, dort der Württemberg mit seiner Grabkapelle, dann der Stuttgarter Kessel, gesäumt vom Asemwald, dieser Gigantomanie einer corbusierschen Architektur, von Fernsehturm und Birkenkopf (hier und hier), die Augen springen hinüber zum Ludwigsburger Wasserturm, weiter zum Hohenasperg – Zwilling des Lembergs auf der anderen Neckarseite – mit seinem jahrhundertealten Gefängnis, ruht schließlich im Westen, fast schon Nordwesten, auf der langen, bläulichen Flanke des Strombergs. In diesem Augenblick kommt es mir vor, als hätte ich nie einen schöneren Blick auf diese Region geworfen.

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Lemberg, Südhang

Ein paar Schritt weiter entdecke ich einen Biergarten und lasse dem Kräutertee aus der Thermoskanne spontan ein alkoholfreies Weizen folgen. (Weihenstephan, eine Enttäuschung für eine so berühmte Brauerei.) Die Wirtin der 7 Eichen – letztes Jahr haben hier ELO und Marillion gespielt, staune ich – klagt, ach ihr Kreislauf. „Mag jemand ein Freibier?“, fragt sie in die Warteschlange hinein. Das Fass ist leer, sie schafft es nicht allein, einer der Gäste folgt ihr hinüber in den Schuppen und schleppt den Nachschub herüber, darf es sogar selber anschließen. „Und dann noch der VfB“, seufzt die Wirtin weiter. „Ich will gar nicht wissen, wie es gerade steht. Das will ich erst wissen, wenn ich zuhause bin.“ Eine kluge Entscheidung, denn nach der 6:2-Niederlage gegen Bremen am Montag hat das Fußballteam auch sein Schicksalsspiel gegen Mainz verloren. Die 2. Liga winkt. Schockstarre im Club.

Ich aber bin dann noch bis Backnang gegangen. Die Sonne stand schon tief.

In den libanesischen Bergen

In den libanesischen Bergen sitzen wir in einem Wohnzimmer und ich sehe hier zum ersten Mal einen traditionellen Raum und nicht den bürgerlichen Salon der Küstenstädte. Dort wird jeder Gast in einem ganz der Repräsentation verschriebenen Wohnzimmer empfangen: schwere Möbel, gediegene Sofabezüge einer vergangenen Zeit, kitschige Gemälde, ein Glastisch mit einer Schale Süßigkeiten. Hier nimmt ein Ofen das Zentrum des Raumes ein, an den Wänden ziehen sich niedrige Bänke entlang wie einst für Jahrhunderte, für Jahrtausende um die Feuerstelle herum. Ein Großbildschirm prangt allerdings auch hier. Er rauscht und knackt, ich frage mich, wie es Menschen überhaupt aushalten mit diesem Störgeräusch, erst recht, wenn er nur als ‚Hintergrundmusik‘ läuft und niemand wirklich an der Sendung interessiert ist. Ein Wunder geschieht: Als der Raum sich füllt mit zwölf, dreizehn Menschen, schaltet jemand den Fernseher aus.

In den libanesischen Bergen sitzen wir in einem Wohnzimmer und die Hausherrin trägt, so wie sie es immer tun, wenn Gäste kommen, ein Tablett herein. Auf ihm stehen Gläschen mit Likör (manchmal eine Sorte, manchmal zwei verschiedene) und eine Schale mit in Schokolade gehüllten Nüssen. Ich bin mir unsicher, ob ich frei zwischen den beiden Likören wählen darf oder ob sich hinter den beiden Farben ein Code verbirgt, den ich nicht kenne. Ich zögere, greife dann doch zum Helleren und bereue meine Wahl nicht.

In den libanesischen Bergen sitzen wir in einem Wohnzimmer und die Hälfte der Dutzend Personen spricht Deutsch. Es wird mir bei jedem weiteren Familientreffen wieder so gehen: der Libanese, der in Deutschland seinen Facharzt macht; die arabischstämmige Berlinerin, die einen Libanesen geheiratet hat und in den Emiraten wohnt; der ehemalige Botschaftsangehörige, der immer noch seiner Zeit in Wien nachtrauert; Araberinnen und Araber, die in Deutschland ein Geschäft oder ein Lokal eröffnet haben; ihre Kinder, die nach ihrem Medizinstudium in Bahrain oder Berlin praktizieren; die deutsche Sozialpädagogin, die in ihrem Auslandssemester in Kanada einen Libanesen kennen- und liebengelernt hat; derer beider Tochter, die gerade erst schulreif ist und bereits fünf Sprachen spricht … Dass es ausgerechnet Deutsch ist, was mir so oft begegnete, mag Zufall gewesen sein. Aber es zeigt, dass die Menschen aus dem Libanon es gewohnt sind, über Grenzen – in Kultur, Sprache, Land – hinweg zu agieren. Die meisten jüngeren Libanesen, denen ich begegnet bin, sprechen mit einer viel größeren Selbstverständlichkeit Englisch als ich, und auch Französisch ist Pflichtfach an den Schulen. Auf der anderen Seite stehen die Älteren ohne tiefergehende Schulbildung. Sie sprechen oft nur den arabischen Dialekt des Libanons und verstehen bisweilen nicht einmal, wenn ich Hocharabisch zu ihnen spreche.

In den libanesischen Bergen sitzen wir in einem Wohnzimmer und ein libanesischer Frankokanadier erklärt mir auf Englisch Fußball. Das WM-Spiel 2014 zwischen Deutschland und Algerien, das für so viele bei uns – den Zuschauern, den Reportern und den Spielern selbst (man denke an Mertesackers wütende „Eistonnen“-Rede im Interview) – als überaus zähes, glanzloses Spiel wahrgenommen wurde (ich hatte es nicht gesehen), war für ihn einer der Höhepunkte der WM: nämlich der Triumph einer überlegenen Strategie gegenüber Motivation und individuellem Können. Schau es dir an, es lohnt sich, man kann aus diesem Spiel so viel über Fußball lernen, schwärmt der Fußballstratege. Ob deutsche Fans seiner Analyse zustimmen würden? Ich jedenfalls bin beinahe versucht, mir ein anderthalb Jahre altes WM-Achtelfinal-Spiel anzuschauen.

In den libanesischen Bergen sitzen wir in einem Wohnzimmer und ich bin so willkommen wie bei jedem anderen der Familienzusammenkünfte und Feiern, die ich an diesen Tagen erleben werde. Der Empfang ist immer herzlich, und mehr noch, meine Anwesenheit völlig unhinterfragt. Dieser Selbstverständlichkeit, mit der ich in den Kreis aufgenommen werde, ist eine außerordentliche Schönheit zu eigen. Von ihr wünsche ich mir mehr in unseren Landen. Wir würden dadurch gewinnen.

Fußnote: Emphase suche ich, zu Schwärmerei will ich nicht verführen. Diese wundervolle, menschliche Gastfreundschaft (die bis zur Aufopferung gehen kann) ist zugleich unsentimental. Ein paar Tage als willkommener Gast im Familienkreis bedeutet nicht, danach beste Freunde zu sein. Das mag ein Unterschied zu Deutschland sein, wo sich die Türen oft so viel zögerlicher und später öffnen, sich dann aber, meine ich, die Deutschen im internationalen Vergleich als treue Freunde erweisen, so pauschal eine solche Aussage natürlich auch ist.

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Zedern vor Klostermauern

Mixtli läuft um sein Leben

Es ist Winterzeit und die kleine Bäckerei am Eck noch geöffnet, obwohl es bereits dunkel ist. Ein lockenkopfiger Mann verlässt die Bäckerei mit seinen beiden Kindern (für einen Moment sehe ich meinen Bruder in ihm), sie steigen, Papiertüten mit Gebäck in der Hand, die Sandsteinstufen herab zu ihren Rädern. Eines der kleinen Mädchen trägt einen martialischen, farbenprächtigen Fahrradhelm – einen Tigerhelm, durch dessen weit geöffnetes, zähnebewehrtes Maul das Gesicht des Mädchens schaut. Der Helm erinnert mich an den Kopfputz der aztekischen Jaguarkrieger. Ein merkwürdiger Kontrast zwischen dem kleinen Mädchen mit dem leicht schmollend-orientierungslosen Ausdruck und jenen altmexikanischen Elitesoldaten, die ihren militärischen Rang erst erhielten, wenn sie eine bestimmte Anzahl von Kriegsgefangenen für das Opfer auf den blutigen Aztekenaltären gemacht hatten …

Ich denke an eine Rollenspielrunde zurück, die ich vor ein paar Jahren geleitet hatte. Es ist ein – inzwischen selten ausgeübtes – Hobby, über das ich auf diesem Blog eher nicht erzählen würde (schließlich ist Zeilentiger liest Kesselleben kein Tagebuch). Vielleicht macht mich die Erkältung leichtsinnig, den Kopf mit Watte gefüllt und doch zu wach, um einfach nur dahinzudämmern. Ich hole einen externen Datenspeicher hervor, klicke mich durch Dateien, öffne schließlich ein Dokument, dessen Namen mit dem fremden Wort Amatl beginnt – einer Art Papier aus dem vorspanischen Mexiko, um nicht zu sagen ein Buch, eine Chronik untergegangener Zeiten. Ich überfliege ein paar Seiten und denke zurück an unsere Abenteuer in einem präkolumbianischen, um fantastische Elemente angereicherten Mesoamerika, erwachsen aus einer einfachen Gesprächssituation: Einer ist der allwissende, aber neutrale Erzähler, die anderen führen eine Figur in der Welt, die der Erzähler in Worten entwirft. Das ist, wenn das Miteinander gelingt, spannender als jeder Roman. Und ich lese mich durch die Aufschriebe, Nachschriften jener Abende mit lieben Freunden. Ameyatl, Checha, Ilhuicamina, Irraruru, Mixtli, Tecuani, Tlaco – schön war es mit euch.

Rot tropft das Blut in die Steinschale und rot leuchten die beiden Gestalten auf der
Tempelpyramide dort drüben, die im Licht der untergehenden Sonne einen Freudentanz
aufführen. Das Opfer brachte Erfolg, der Eingang ins Innere der Pyramide ist frei.
Der Wald unter dem Turm versinkt bereits in den Schatten. Affen kreischen auf den
Trümmern einer vergangenen Zeit, Vögel krakeelen, sie verabschieden den Tag,
begrüßen die Nacht. Lautlos löst sich ein Schemen von der Wand.

Ein kopfloser Mann springt auf Mixtli zu, die wuchtige Spitze eines Schlagspeers
schwingt herum.

Mixtlis Hände greifen nach der zweihändigen Schwertkeule auf dem Rücken, krallen
sich in den Griff der Waffe, ein erstaunter Ruf löst sich von den Lippen. Viel zu schnell
ist der kopflose Geist heran, er lässt Mixtli keine Chance. Die Breitseite des
Schlagspeers fährt in seine Brust. Poncho, Haut, Fleisch, Knochen – alles bleibt
unversehrt, aber die Wärme seines Blutes strömt aus der unsichtbaren Wunde.

Endlich hat Mixtli seine Waffe frei, sie zerschneidet die Luft und verschafft ihm den
nötigen Augenblick für einen Seitwärtsschritt, ohne dem Schemen dabei wirklich
gefährlich zu werden. Bevor der Kopflose ihn erreichen kann, setzt Mixtli den nächsten
Fuß über. Seine Schultern scharren über das Mauerwerk, dann ist ein Fenster hinter
ihm und er glaubt, den Sog der Tiefe zu spüren.

Mixtlis zweiter Hieb ist gezielter und ja, seine Waffe trifft. Sie fährt, ohne auf
Widerstand zu stoßen, durch den Schemen hindurch. Der Kopflose strauchelt nicht
einmal von der Wucht der Waffe. Unbeirrt umtanzt sein geisterhafter Schlagspeer die
Schwertkeule, aber er erreicht Mixtli nicht.

Was tun? Mixtli macht einen Satz zum Treppenhaus. Seine lange Waffe raubt ihm die
Schnelligkeit, blitzschnell ist der Kopflose hinter ihm und Mixtli spürt die Eiseskälte, als
der Schlagspeer knapp an seinem Nacken vorüberzieht.

Mixtli stürzt die Treppe hinab ins Dunkel. Er ahnt die brüchigen Stufen eher als sie
zu sehen. Steine bröckeln unter seinen Tritten. Dann ist die Stelle erreicht, an der im
Westturm ein lange Lücke in der Treppe klafft. Mixtli stößt sich ab. Als seine Füße nicht
den Boden finden, weiß er, dass er den Abstand falsch eingeschätzt hat. Er fällt. Ein
Stockwerk tiefer raubt ihm der Aufprall den Atem, er glaubt für einen Augenblick, ersticken zu müssen, dann ist sein Körper wieder auf den Beinen, während Mixtli sich noch
auf den Stufen zu liegen wähnt. Alles schmerzt, ein Bein ist nahezu taub. Mühsam
humpelt er weiter hinab. Wenn der Kopflose ihn verfolgt, wird er ihn gleich erreicht
haben …

Dann ist Mixtli im Erdgeschoss, er stürzt hinaus in den Abend und taumelt im
Laufschritt auf die Tempelpyramide zu. Irgendwo zwischen den Ruinen glüht ein
merkwürdiges Licht auf, aber Mixtli kümmert sich nicht darum. Er erreicht die
Pyramide und nimmt die hohe Treppe. Den Schmerz schließt er aus, er ignoriert die
schwindelerregende Tiefe – nur nach oben, nach oben, wo Tlaco und Ilhuicamina
warten! Stufe für Stufe erklimmt Mixtli den steilen, fast unendlich erscheinenden Weg.
Dann spürt er, er ist nicht allein auf der Treppe. Da ist noch etwas und er weiß nicht, ob
vor ihm oder hinter ihm …

Und jetzt Wolfsburg untergehen sehen. Dinge, die man eben macht, wenn man nicht ganz klar bei Verstand ist.

Wetterlage funky bis hypnotisch – Netzers Heimspiel in der Kiste

Einen Tag vor der Eröffnung der Fußball-WM tritt Netzer für ein Warm-up auf die Bühne. In der Kiste, Stuttgarts kleinstem Jazzclub mit fast täglicher Livemusik, prangt der allbekannte markante Scheitel an der Rückwand. Irgendwann nach 21 Uhr lösen sich drei Männer aus den Unterhaltungen vor der Kneipe, stellen Biergläser ab, drücken Kippen aus, stecken eine elektrische Zigarette weg und entern die Bühne: Das Stuttgarter Instrumentaltrio Netzer eröffnet den Abend mit einer Elektro-Jazz-Version von „Walking on the Moon“. Und hat den Mond bald hinter sich gelassen.

Denn die Schaltzentrale Oli Rubow, im Hattler-T-Shirt und nicht nur der dunklen, in die Stirn hängenden Haaren und der großen schwarzen Brille wegen eine Art Woody Allen der Percussion, eröffnet mit seinem gar nicht großen Schlagzeug ungeahnte Räume. Er wirft sich mit neurotisch suchenden, fast schon spastischen Angriffen gegen die Grenzen von Raum und Zeit, schiebt sie weit hinaus und erweist sich als ein irrwitzig guter Spieleröffner.

Markus Bodenseh reiht sich mit Bass und minimalistischem Moog-Synthesizer in den Rhythmus ein, eine gut gelaunte Kante in temperaturgerechten Shorts und Zehensandalen, und mischt – vom Trio vielleicht am wenigsten innovativ – der musikalischen Sprache animalisches Blut, die schwere Süße des Weines bei.

Und diesen weiten Raum nutzt Fanta-4-Gitarrist Markus Birkle, hager, uneitel und in Soccer-T-Shirt, für sein Gitarrenspiel, fängt die Stimmung auf und gestaltet sie neu, zieht wie ein von John Scofield geborener Adler hoch am Himmel seine Loops, scharfkrallig, aufmerksam und berauscht von Höhenluft.

Netzer sieht sich programmatisch als DJ. So fließt ein Song in den anderen, ohne Unterbrechungen, ohne Ansagen. Und als das Trio seinen musikalischen Parforceritt doch zu einem Abschluss gebracht hat, gesteht Bodenseh (nach einem Applaus so lang, wie ihn die Kiste nicht jeden Abend erlebt), wie es jetzt weitergeht, sei noch nicht ganz klar. Kein Problem, der Namensgeber hat es schließlich vorgemacht und Netzer wechselt sich selbst ein zur zweiten Spielzeit.

Und am Ende haben alle gewonnen.

Netzer spielte am 11.6. in der Kiste.

Die Launen der Götter

„Jetzt ist ja bald Fußball-WM. Und ich dachte mir, dieses Mal bin ich nicht für Deutschland. Ich drücke stattdessen den Argentiniern den Daumen. Denn in Argentinien gibt es Guanakos, das sind so lamaähnliche Tiere. Die finde ich gut. Eigentlich wollte ich für Bolivien sein. Dort ist die Dichte an Guanakos nämlich noch größer als in Argentinien. Aber Bolivien spielt bei der WM ja gar nicht mit.“

Schwabensturm und Frühlingsmilde

IMAG0811Hemdsärmelig warm scheint die Frühlingssonne über Stuttgart, an dieser Mauer des Unteren Kurparks aber tobt der Schwabensturm. So ganz scheinen sich diese beiden Begriffe ja nicht zusammenzufügen wollen, aber das sieht der Fanclub „Schwabensturm 2002“ augenscheinlich anders. Mitten im Bundesliga-Abstiegskampf des VfB fordern die besorgten Fußballfans auf ihrer Website, Gras zu fressen, und schmettern Kampfparolen wie „Alles für die erste Liga! Alles für Stuttgart!“. Das klingt für ein Leben außerhalb der Fankurve natürlich so eigenartig wie das Doppelwort an der Parkmauer. Die Sonne jedenfalls, unbeirrt, kost zärtlich weiter die Erde wach.

(Kurpark, Stuttgart-Bad Cannstatt)