Ein Mann steht vor dem Haus

Wie hilflos es macht, in einem Land zu leben, dessen Sprache man nicht spricht und auch keine derjenigen, die dort üblicherweise an den Schulen gelehrt werden. Ein Mann steht vor dem Haus und weil ich noch kurz vor der Tür stehenbleibe, um eine Nachricht zu tippen, traut er sich heran und spricht mich an in einer Sprache, die ich nicht zuordnen kann. Ich könnte angesichts seines Aussehens wetten, er kommt aus einem Land des Nahen Ostens, also frage ich ihn auf Arabisch zurück. Er kneift die Augen zusammen, grübelt, hat dann die Frage offenbar verstanden und antwortet nur: „Kurdi.“ Ja verdammt, ein Kurde, der kein Arabisch kann. (Ist er aus Anatolien? Aus dem Iran?) Er redet wieder in seiner Sprache auf mich ein, holt sein Handy heraus, tippt eine Nummer ein und drückt mir das Telefon in die Hand. Spannend. Ach ja, sein Sohn, er spricht gebrochen Deutsch, er kann mir sagen, wohin der Vater will, aber er versteht meine dreifach wiederholte Antwort kaum. Irgendwann meint er zögernd „okay“ und ich gebe das Telefon zurück und deute dem Mann auf die Klingelschilder, zeige auf mich und ein Schild, dann auf ihn und ein anderes und nicke dazu. Irgendwann sagt auch er schicksalsergeben „okay“. Ich klingel für ihn und sofort wird uns geöffnet, ich bringe ihn hinauf und zur Rezeption und erkläre dort kurz die Lage. Ich sehe die bei meinen Worten wachsende Verzweifelung der jungen Rezeptionistin – sie könnte türkischer Abstammung sein, ich hoffe inständig darum, dass sie es wirklich ist und selbst Türkisch kann und der Mann auch, aber groß ist meine Hoffnung nicht, denn ich habe ihr ja gesagt, dass er Kurde ist, und wenn sie dann so schaut, dann kann sie wohl doch kein Türkisch. Er ja vermutlich auch nicht. Trotzdem nickt die junge Frau, ich lasse den Mann bei ihr zurück, er lächelt mir zu, sagt ein deutsches Wort: „Danke.“

Am selben Tag noch melde ich mich für einen Farsi-Kurs an.

Tigris_Fluss_Syrien_Türkei_Kurden

Der Tigris, Kurdengebiet, im äußersten Osten Syriens in den ersten Tagen der Revolution. Das gegenüberliegende Ufer gehört zur Türkei, ein paar Kilometer flussabwärts beginnt der Irak.

Keine Suchergebnisse für: „Sad Arab Fags“

IMAG1241Das Wort hat auf meinem Blog einen eindeutigen Vorrang vor dem Bild, das sagt ja schon der Name „Zeilentiger liest Kesselleben“. Ganz recht ist es mir daher nicht, nach der Pfandpflicht auf dem Friedhof schon wieder ein Foto in den „Koordinaten“ zu veröffentlichen. Aber manchmal springt einen ein Zeichen aus dem unüberschaubaren Informationsgeflecht Stadt einfach an. Es hat meine Aufmerksamkeit errungen, es will gesehen werden.

So dieses anonyme Plakat am Marienplatz in Stuttgart-Süd. Wer sind diese traurigen arabischen Schwuchteln? Wer bemitleidet (oder verhöhnt) sie? Und warum hier? Wo noch steht diese Botschaft ? Ist sie womöglich nur der erste, enigmatische Schritt einer Kampagne, deren folgenden Botschaften irgendwann irgendetwas enthüllen werden? Die Suchmaschinen lüften den Schleier jedenfalls nicht. „Es wurden keine Ergebnisse gefunden.“ (Ist dies hier wirklich die allererste Nennung dieser Wortgruppe im frei zugänglichen Teil des Internets?)

Gerne wüsste ich mehr. Leserzuschriften ausdrücklich erwünscht! (Aber das ja sowieso.)

Der Dichter und die Massen

Zum Welttag des Buches hatte ich über eine Dichterlesung in Syrien berichten wollen. Die war auf den Monat genau zehn Jahre zuvor von einem der berühmtesten arabischen Gegenwartsdichter begangen worden. Ich hatte es sogar im Kalender stehen: „23. April: Welttag des Buches – Maḥmūd Darwīš“. Warum kam es nicht dazu? An dem Tag hatte ich einfach keine Lust, etwas zu bloggen. So schlicht sind manchmal die Motivationen. Nun reiche ich den Text nach. Es war damals ein Bericht an die Daheimgebliebenen. Ich gebe zu, manches würde ich inzwischen, zehn Jahre später, anders schreiben. Sollte ich es nachbearbeiten? Ich habe mich dagegen entschieden.

السلام هو الإنصراف إلى عمل في الحديقة:
ماذا سنزرع عما قليل؟

Frieden heißt den Garten pflegen und fragen:
Was pflanzen wir demnächst?

(Mahmud Darwisch)

Damaskus, April 2004

Araber lieben Poesie. Das ist uraltes arabisches Erbe. Vor dem Wirken des Propheten Mohammed, vor dem Auftreten des Islams also, oder – um es mit einem arabischen Wort zu bezeichnen – in der Zeit der „Dschahiliya“ (der Unwissenheit, Ignoranz) war die Kultur der Araber recht überschaubar. Nur in der Poesie, da waren sie groß gewesen, und was davon die islamische „Kulturrevolution“ überlebt hatte, gilt heute noch als eine der großen Epochen der Dichtkunst. Beduinen, die barfüßig durch die Dünen liefen und von Leidenschaft und Tod sangen und damit die Grundlage für das Hocharabische lieferten, einer Sprache so schwer, dass auch viele Araber an ihr verzweifeln. (Und bisweilen, wenn sie einer Fremdsprache mächtig sind, lieber in dieser mit einem Ausländer reden, als vom Dialekt auf das Hocharabische – da längst nur Schriftsprache – umzusteigen.) Bis heute erreichen arabische Dichter einen Ruhm, wie er für den europäischen Poeten – oft genug Sinnbild einer armen, wirkungsohnmächtigen Existenz – unvorstellbar ist. Einer von ihnen, der vielleicht größte und bekannteste dieser Zeit, sollte zu einer Lesung nach Damaskus kommen: Mahmud Darwisch.

In diesem Haus hatte ich zur Zeit der Dichterlesung gewohnt.

Nein, dieses Foto hat nur ganz am Rande etwas mit Mahmud Darwisch zu tun: In diesem Haus hatte ich zur Zeit der Dichterlesung gewohnt.

Mahmud Darwisch war Palästinenser und nicht zuletzt die Tatsache, dass er – auch – ein politischer Dichter war, eine Stimme Palästinas, machte ihn so ungeheuer populär in der arabischen Welt. In seinen jungen Jahren war der Dichter in der kommunistischen Partei tätig. 1970 ging er ins Exil und trat in die PLO ein, wo er schließlich eine wichtige Stellung einnahm. So war er unter anderem Mitglied der palästinensischen Gesandtschaft in Oslo, trat dann aber von seinem Posten zurück, weil ihm die palästinensischen Zugeständnisse gegenüber Israel in dem Oslo-Abkommen zu weit gingen. In den letzten Jahren galt er als innerpalästinensischer Oppositioneller – und ist ungebrochen populär sowohl als politischer Dichter wie auch als Denker und Poet, der die Verbindung zu den einfachen Dingen im Leben, den gewöhnlichen Menschen nicht verloren hat.

Wir waren eine bunt zusammengewürfelte Gruppe, die die Dichterlesung besuchte. Fast zwei Stunden vor Beginn der Veranstaltung betraten wir das unerwartet modern wirkende Sportareal. Schon jetzt standen die Menschen Schlange vor dem Eingang, an dem Taschen und Mäntel kontrolliert wurden. Die Lesung sollte in einer Turnhalle stattfinden – es gab keine Kultureinrichtung, welche die erwarteten Besuchermassen zu fassen imstande gewesen wäre. Die Sitzplätze waren bald belegt und eine harsche Lautsprecherstimme forderte die Stehenden auf, auf dem mit Tüchern ausgelegten Boden der Sporthalle Platz zu nehmen.

Schließlich war auch dieser belegt. Dichtgedrängt saß Reihe an Reihe. Viele Besucher waren junge Leute, wie sie auch in Europa nicht aufgefallen wären. Ein paar trugen Palästinaflaggen, schwarzweiße ‚Palästinensertücher‘ um den Hals oder ein Che Guevara-T-Shirt. Doch fanden sich letztlich ganz unterschiedliche Menschen unter den Zuhörern, die da in größter Disziplin und Geduld unten saßen, Ellbogen an Ellbogen (und ohne Zigaretten oder Alkohol): Jung neben Alt, Mann neben Frau, Reich neben Arm, Modernistisch neben Konservativ – Mensch an Mensch.

Ein Blick tiefer in die Gasse hinein. Hat der Krieg sie inzwischen verwüstet?

Ein Blick tiefer in die Gasse hinein. Hat der Krieg sie inzwischen verwüstet?

Es lag eine freudige Erwartung über der Menge. Einige Grüppchen junger Exil-Palästinenser klatschten im Chor und riefen die Freiheit Palästinas an. Dann endlich trat jemand ans Rednerpult der Tribüne und Tausende von Menschen erhoben sich, klatschten, riefen, jubelten. Kein Dichter, nur Rockstars werden bei uns so gefeiert. Doch zuerst gab es Vorreden, politische Phrasendrescherei vor allem und eine Schweigeminute für die „Märtyrer“ im Kampf um Palästina. (Als Märtyrer wird praktisch jeder vereinnahmt, der durch israelische Gewalt zu Tode kommt.) Ich war abgeschweift und reagierte zu langsam, als sich plötzlich alle in der Halle erhoben. Ein arabischer Freund stieß mich, auch wenn er persönlich wohl nicht so besonders viel von den arabischen Märtyrern hielt, in den Rücken und so zuckte auch ich hoch und erst nach und nach kamen einige Wortfetzen der vorigen Rede bei mir an und ich begriff. Jetzt sitzen zu bleiben wäre eine heftige Provokation gewesen.

Endlich kam der Dichter und wieder brandete Jubel auf. Mahmud Darwisch stand am Mikro, ein gepflegter, nicht besonders großgewachsener Intellektueller mit seiner großen Brille, und begann, seine Gedichte vorzutragen, selbstredend in Hocharabisch. Wie ich erwartet hatte, verstand ich nicht allzu viel von den Versen und nie den eigentlichen Sinn. Aber ich war sowieso nicht gekommen, um seine Gedichte zu erfassen. Die Lesung ging etwa anderthalb Stunden dahin und irgendwann ließ meine Konzentration spürbar nach, ich versuchte nicht einmal mehr, Worte und Halbsätze zu verstehen. Die Luft war schlecht, verbraucht und aufgeheizt von den vielen Menschen, und der Körper rebellierte gegen das stundenlange Sitzen auf einem zu kleinen Plastiksitz.

Und ums Eck mein Gemüsemarkt. Meist schätzten mich die Syrer gleich richtig als Deutschen ein. Dort hingegen wurde ich öfters für einen Russen gehalten.

Und ums Eck mein Gemüsemarkt. Meist schätzten mich die Syrer gleich richtig als Deutschen ein. Dort hingegen wurde ich öfters für einen Russen gehalten.

Ein paar wenige kleinere ungeplante Ereignisse unterbrachen die Lesung. Einmal trat ein Herr in Anzug an den Lesenden heran und küsste ihn auf die Stirn. Dann blieb der Strom kurze Zeit weg und gegen Ende hin ließen es sich die Zuschauer nicht nehmen, sich selbst zu Wort zu melden: Ein Mädchen rief dem Dichter ihre Liebe entgegen und einige äußerten einen Gedichtwunsch. Eine Art Dialog entspannte sich so zwischen dem Dichter und der Menge. Mahmud Darwisch ließ sich darauf ein, dass das Gegenüber von Lesendem und Zuhörer aufgehoben wurde. Natürlich sprach er mit den Zuhörern im Dialekt und es stellte sich das Gefühl ein, das auch in seinen Gedichten (liest man sie) zum Ausdruck kommt: Dass er einer von ihnen, den gewöhnlichen Menschen ist, aber dieses Leben in die Zaubersprache der Poesie zu bannen weiß.

Eine europäische Kommilitonin drückte sich am Folgetag so aus: „Ich hatte den Eindruck, dass dieser Mann in der Lage wäre, eine Revolution auszurufen.“

Mahmud Darwisch, die ‚poetische Stimme des palästinensischen Volkes‘, starb am 9. August 2008 mit 67 Jahren nach einer Herzoperation in Houston, Texas.

Wer den Dichter selbst in seiner Sprache hören will, findet hier ein Beispiel: Das Gedicht „Ich bin von dort, ich bin von hier. Und ich bin nicht hier und ich bin nicht dort“. Im Übrigen habe ich auf Youtube keine Rezitation von Mahmud Darwisch gefunden, die nicht musikalisch unterlegt wurde. Etwas ungewohnt für unsere Ohren – und vermutlich auch ein Ausdruck kultureller Disposition.

Mehrere Werke Mahmud Darwischs liegen in deutscher Übersetzung vor. Die Tücken der Umschrift bringen es mit sich, dass sein Name in den einschlägigen Datenbanken variiert: Machmud Darwisch, Mahmoud Darwisch, Mahmud Darwisch und Mahmoud Darwish habe ich als Schreibweise unter den lieferbaren Titeln gefunden.

Ein Geruch wie ein Wunder

IMAG1081Afghanisches Essen gab es. Und ein paar Menschen waren da, noch wenig oder gar nicht vertraut, freilich liebenswürdige, lachende, bloggende Menschen. Und einer zieht eine Reiseschreibmaschine hervor, fragt nach Stichworten (er bekommt drei als Vorgabe) und bringt unter Tastenklackern einige Zeilen aufs Papier − eine Gabe an den Gastgeber.

Was ein schönes Geschenk. Und weit mehr als eine Geschichte aus drei Stichworten. Das Aroma des Essens, Gesprächsfetzen, bei Zeilentiger Gelesenes, all das duftet in den Zeilen wie der herbe, an gesunde Pferde erinnernde Geruch des Kardamoms. „Hel“, wie er so oder in leichten Variationen in Ivrit, Arabisch, Farsi, Dari, Paschtu heißt. Ein Geruch wie ein Wunder.

Der Ministerialbeamte

Syrien, zehn Jahre früher …

Ziellos war ich mit einem syrischen Freund abends in Damaskus unterwegs – es war längst dunkel und wir saßen in irgendeinem Mikrobus nach Nirgendwo –, als ihm einfiel, wir könnten einen Bekannten von der Arbeit abholen. Einen seiner Sprachschüler, um genau zu sein. Mein Begleiter, Rundfunktechniker und zu dieser Zeit in Ausübung seines Wehrdienstes, war ein Liebhaber der Sprachen; er beherrschte mehr oder weniger gut Englisch, Französisch, Italienisch und Deutsch und wenn ich eine Frage zum Hocharabischen hatte, konnte ich mich guten Gewissens an ihn wenden. In seiner Freizeit unterrichtete er Englisch.

„Mein Schüler“, so warnte er mich vor, „ist schon ein bisschen älter. Aber das braucht dich nicht zu verunsichern.“

Wir spazierten an einem bewaffneten Posten vorbei in eine ruhige Straße, auf ein bewachtes Hochhaus zu. In jeder Himmelsrichtung waren Uniformierte auf Wachdienst zu sehen. Unbekümmert trat mein Freund an das Außenfenster der Pforte, stellte sich, nachdem ein Mann geöffnet hatte, vor und fragte nach seinem Schüler.

Wir warteten eine Weile vor dem Gebäude. „Er ist Beamter in diesem Ministerium hier“, rückte mein Freund nach einigen Minuten heraus. „In dem Gebäude arbeitet auch der Premierminister.“

Irgendwann rief einer der Männer aus dem Fenster heraus nach meinem Gefährten: „Mein Herzchen, mein Lieber, wie war nochmals dein Name?“ Arabischer Umgangston kann ein wenig anders sein.

Endlich verließ der Ministerialbeamte das Gebäude. Ich sah mich einem kleinen Mann in einem altmodischen grünen Sakko gegenüber, er wirkte etwas ältlich, vielleicht nicht an Jahren, aber doch an Haltung, eine große Brille saß in dem verkniffenen Gesicht, das Haar überraschend blond, ein Schnurrbart. Wir wurden einander vorgestellt und ohne weitere Diskussion stiegen wir in das Auto des Beamten, einen weißen, gealterten Wagen, ehemals einmal obere Mittelklasse nach deutschem Standard.

Ich wusste nicht, wohin wir fuhren. Während der Ministerialbeamte ungeschickt den Wagen durch die abendlichen Straßen steuerte, hatte ich mit ihm auf Englisch Konversation zu führen – zu seiner Übung. Ein Mobiltelefon unterbrach uns ein- oder zweimal und bald hatten wir auch seinen Besitzer aufgelesen, einen Freund des Beamten. Ein großer, kräftiger Mann, grauhaarig und mit einem gefühlsbetonten Gesicht und einem leichten Anflug von Traurigkeit in der Augenpartie, stieg zu – ein ganz anderer Typ als der Beamte.

In perfektem Englisch und mit einer vollen, wohltönenden Stimme erklärte er mir, dass er Musiker sei. In wenigen Tagen führe er ein Konzert auf, ein Zusammenspiel aus musikalischem und poetischem Vortrag. Und im nächsten Monat werde er an der Uni Damaskus Vorlesungen über arabische Poesie halten. Er spielte Trompete, früher aber war er in erster Linie Sänger gewesen. Fünfzehn Jahre hatte er in den USA, eine Zeit lang in Dänemark gelebt, dort war er mit einer norwegischen Frau verheiratet gewesen, dazu waren Auftritte und Aufenthalte in einer Reihe anderer europäischer Länder gekommen. Ein gutes halbes Dutzend Fremdsprachen könne er. „Es sieht einfach zu idiotisch aus“, scherzte er, „wenn man einen traurigen Text singt und dabei grinst, nur weil man die Sprache nicht versteht.“

Wir verließen die Stadt und hielten auf einen Vorort zu. Als wir irgendwo anhielten und ausstiegen, wandte ich mich fragend an meinen Freund, doch er kam meiner Frage zuvor: Er habe auch nicht die leiseste Vorstellung, wo wir genau seien. Erklärungen gab es wieder einmal keine, also folgten wir den beiden Männern in ein Haus. Die Uhr zeigte 22 Uhr an, als wir in eine Zahnarztpraxis traten.

Der Zahnarzt war allein in seiner Praxis. Er wirkte überhaupt nicht wie ein solcher, was aber vielleicht schlicht daran liegen mochte, dass er keinen weißen Kittel trug. Unser Künstler war der Patient, das klärte sich nun auf, und der Beamte hatte ihm einfach als Chauffeur einen Freundschaftsdienst erwiesen. Der Musiker setzte sich also auf den Behandlungsstuhl, der etwas verloren inmitten des Raums stand. Eine Schrankablage stand auf der einen Seite des Zimmers, ein Arztschreibtisch auf der anderen. Der Tisch erweckte den Eindruck, als wären hier zwei Zimmer der Praxis in eines gefasst, und trotzdem wirkte der Raum irritierend leer.

Der Ministerialbeamte bestand darauf, dass ich als ausländischer Gast den Arztsessel hinter dem Schreibtisch erhielt und mein Freund einen Hocker, während er selbst mit verschränkten Armen stehen blieb. Alle drei beoachteten wir, wie der Zahnarzt sich an die Untersuchung machte, klopfte und schraubte und Spritzen verpasste, aber nicht bohrte, zum Glück nicht, denn ich hätte mit dem Patienten gelitten. Der einzige im Raum, der mehr als nur ein paar Worte sprach, war der Patient selbst: Immer wenn er seinen Mund gerade frei hatte, unterhielt er uns munter mit Scherzen.

Dann erklärte der Zahnarzt etwas anhand einer Wandtafel und ich begriff, dass es sich um ein Zahnwurzelproblem handeln musste. Es war eine seltsame Szenerie: Spätabends sitzt da ein Mann in zahnärztlicher Behandlung, im gleichen Raum befinden sich einige andere Menschen, darunter zwei, die der Patient vor diesem Abend gar nicht gekannt hatte.

Nach 20 oder 30 Minuten verließen wir die Praxis wieder, gemeinsam mit dem Arzt, der seine Praxis abschloss – und sich dann zu uns ins Auto setzte. Nun waren wir also schon zu fünf in dem Gefährt …

Der Zahnarzt erzählte mir, dass er in Belgrad studiert, danach in Deutschland, Russland, Thailand und Malaysia gearbeitet habe, bevor er hier in seiner Heimat eine Praxis eröffnet hatte. Wir lieferten den Zahnarzt zu Hause ab, danach den Künstler und dann bestand der Beamte darauf, uns beide noch zu einem späten Abendessen bei sich zu Hause im Zentrum von Damaskus einzuladen.

Der Ministerialbeamte verschwand in seiner Wohnung und wir warteten vor der Tür. „Die Familie kommt aus dem Osten Syriens“, erklärte mir mein Freund. „Dort sind die Menschen noch richtige Araber. Das bedeutet zum Beispiel, dass Gäste vor der Türe stehen bleiben, bis der Gastgeber zurückkommt und sie hereinruft.“

Als es ein paar Augenblicke später so weit war, wurden wir ins Wohnzimmer geführt. Während der Beamte das Essen vorbereitete, erhielten wir beide Gesellschaft des jungen Sohns der Familie. Ich verstand fast gar nichts von seinem Dialekt, was aber nicht schlimm war. Denn auch mein Freund verstand nur einen Teil von der Kindersprache, so behauptete er zumindest lachend, und trotzdem hatten wir drei eine Menge Spaß. Dann war aufgedeckt: Tellerchen mit Tomaten, Schafskäse, Hummus, gefüllten jungen Auberginen, Honig, Halwa und ein halbes Dutzend anderer Dinge und natürlich das dünne Fladenbrot, mit dem man die Speisen greift und isst.

Nebenan, hinter einem zugezogenen Raumteiler, saß derweil die Ehefrau des Beamten vor dem Fernseher. Nun begriff ich auch, warum wir vor der Tür zu warten hatten, bis wir vom Gastgeber gerufen werden: Kein Fremder soll einen Blick auf die Frauen des Hauses erhaschen. Später erfuhr ich, dass diese Frau Ärztin war; und trotzdem wurden diese alten Sitten eingehalten.

Ich war unsicher, wann ich das Mahl zu beenden hatte. Wenn ich vor dem Gastgeber aufhörte zu essen, zwang ich ihn dann dazu, aus Höflichkeit ebenfalls aufzuhören? Aber wann war umgekehrt die Grenze der Höflichkeit erreicht, denn natürlich war es nicht gedacht, dass wir alles, was auf dem Tisch stand, aufaßen? Ich dachte zu viel. Als wir das Mahl beendet hatten, verließen wir ohne viel Worte oder großen Austausch von Höflichkeiten das Haus: ein kurzer, unkomplizierter Abschied. Es war Mitternacht, als wir wieder auf die Straße unter die Palmen traten.

Ich hatte meinen ersten Besuch bei einem arabischen Ministerialbeamten hinter mir.

Vom Winde verweht, irgendwann

Es gibt so wunderbare Momente: Etwa an einem Spätsommerabend in Madrid die innige Umarmung einer Freundin, die ich über acht Jahre lang nicht gesehen habe. Und der Austausch von Erinnerungen an die gemeinsame Studienzeit in Damaskus, die für viele von uns, die dort waren, zu den herausragendsten, kostbarsten unserer Lebensjahre zählt (auch wenn sie eine nicht minder mächtige Kehrseite haben konnte: Verunsicherung, Einsamkeit, Isolation). Und an unser Wiedertreffen vor eben acht Jahren in Madrid und einen Abend in einer Bar, in der unser Gespräch auf Spanisch begonnen hatte und immer mehr ins Arabische übergegangen war, sehr zur Verwirrung des Barkellners.

Solche Gespräche können wir nicht mehr führen, unser Arabisch ist leider dahin. ‚Mit dem Wind gegangen‘, wie nicht nur Margaret Mitchell schreibt, sondern schon die klassischen Araber sagen. Aber schön, dass wir uns nach so vielen Jahren überhaupt wiedergesehen haben. Und noch irgendeine Ebene der Verständigung finden. Noch hat der Wind, der unbarmherzige, stetig wehende, nicht alles hinfortgetragen.

Daran denke ich, als ich auf einem Voralpenhügel aus dem Fenster schaue und meine Großmutter beobachte. Sie trägt den Aschekasten ihres Küchenofens zum Komposthaufen, dick eingepackt, denn ein grimmer Ostwind zerrt an ihrem Schal, er wirbelt Asche empor und trägt sie mit den Nebelfetzen hinfort. Sie wird am nächsten Tag einen runden Geburtstag feiern, die Großmutter, nach und nach trudeln ihre Nachkommen ein. Wie oft wird sie den Aschekasten noch hinaustragen, bevor sie selbst verweht wird wie die Asche, wie Staub im Wind?

Später legt sich der Hochnebel schwer aufs Land, die Felder verschwinden. Der Wind weht weiter.

Von Burfi und Urdu kutub – Traditionen am Rande der Buchmesse

Bald steht wieder der Besuch auf der Frankfurter Buchmesse an. Anlass für einen kleinen Rückblick auf ein Ritual im Schatten der Messe.

Die Frankfurter Innenstadt rund um die Kaiserstraße ist kein Klein-Istanbul, eher ein Konglomerat verschiedenster nah- und fernöstlicher Länder, angereichert um Amerikanismen wie billige Burger-Läden, um Erotikshops und ein paar kleine altbürgerliche Inseln wie ein Pfeifengeschäft. Alle Küchen Asiens scheinen hier zusammenzutreffen, vor einem Geschäft feilschen zwei Araber mit dem langen Kinnbart der strenggläubigen Muslime, dort betreten ein paar Männer den pakistanischen Imbiss, eine Straße weiter reihen sich gleich drei oder vier indische Lebensmittelgeschäfte aneinander.

Ich freue mich jedes Jahr, wenn ich auf der Frankfurter Buchmese bin, auf einen kleinen Abstecher ab vom Bahnhof in eines ebendieser indischen Geschäfte. Dort thront – zwischen den Regalen mit Chutneygläsern, Gewürzen und Bollywoodkassetten – eine Theke voller indischer Süßigkeiten: Burfi und Laddu und wie sie sonst heißen mögen, reichhaltige, zuckersüße Leckereien aus angeröstetem Kichererbsenmehl und den verschiedensten Nüssen, aus Butter oder eingekochter Milch, gewürzt mit Kardamom, Nelken und Rosenwasser, mit Kokosraspeln bestreut oder mit Lebensmittelfarbe aufgepeppt, zu Kugeln gerollt oder in Würfel und Quadern geschnitten.

Die Männer im Laden schauen mich alle an, als ich im Trenchcoat und das Handy in der Hand eintrete. Während ich glücklich meine Bestellung aufgebe – ein Pfund handgemachter indischer Süßigkeiten, die ich in den meisten Städten Deutschlands gar nicht oder wenn doch, dann vermutlich zu horrenden Preisen bekommen würde –, werde ich weiterhin gemustert. Der Blick der Männer bleibt wachsam, dabei mache ich doch nicht mehr, als mir ein paar Süßigkeiten zu kaufen. Was sie wohl gerade denken? Ist es so ungewöhnlich, in diesem Geschäft einen firangi zu sehen? Sie halten mich doch nicht etwa gar für einen Polizisten? (Und selbst wenn, sollte ihnen das Sorge bereiten?) Ich nehme den Plastikbecher mit den Süßigkeiten entgegen und dann lächelt der Verkäufer plötzlich und drückt mir eine Karte in die Hand: „Wir liefern auch.“

Punjabi ShopAuch dieses Jahr wieder: Süßigkeiten aus dem „Punjabi Shop“

An der nächsten Ecke, gegenüber einem großen Dolly Buster-Namenszug, stoße ich auf eine internationale Buchhandlung. Urdu kutub – Bücher auf Urdu – zeigt mir ein Blick auf den Aushang im Schaufenster. Ich betrete das Geschäft, ein langer, schmaler Raum, in dem Sortiment und Antiquariat bunt gemischt sind. Viele der Bücher sind in abgegriffene Folie oder in durchscheinendes Pergamentpapier gehüllt: Spanisch, Englisch, Türkisch, Französisch, Russisch, Italienisch, Urdu und Arabisch, internationale Bestseller und rätselhafte Broschuren, ein kleines, angestaubtes Paradies für polyglotte Bücherfreunde.

Eine graue, ältere Frau steht hinter der Kasse. Ihr Blick ist misstrauisch und angriffslustig. Mir widerfährt einer jener lächerlichen Reflexe: Weniger aus Höflichkeit, sondern mehr um ihr zu signalisieren, dass ich ‚Inländer’ bin und nicht ein Geschäftsmann aus, sagen wir, London, Helsinki, Bratislava, auf jeden Fall um zu zeigen, dass sie mich auf Deutsch ansprechen könne, grüße ich sie. Und ich sage „Grüß Gott“ und noch während ich es mit der Zunge, mit den Lippen forme, merke ich, was ich da von mir zu geben im Begriff bin – „Grüß Gott“ in Frankfurt am Main –, und heraus kommt schließlich ein gedämpfter, gequetschter Gruß. Doppelt fehlgeschlagen also.

Die graue, grimmige Dame grüßt zurück, immerhin, doch eine Philanthropin ist sie wirklich nicht, das wird gleich klar: Am Telefon weist sie jemanden barsch zurück, Bestellungen möge man bitte sehr per Fax schicken, sie habe Kundschaft im Laden. Viele Besucher sind es allerdings nicht, und das wundert mich jetzt auch nicht mehr. Ich stehe vor dem Regal neben der Kasse und blättere ungestört die arabischen Bücher durch – nahezu alle von allergeringstem bibliophilen Anreiz – und versuche, die Titel zu entziffern. Ein anderer Kunde hat weniger Glück. Die graue Dame marschiert auf ihn zu und fordert ihn heraus: „Kann ich Ihnen helfen?“ Danke, könne sie nicht, antwortet der arme Mann, als müsse er eine Schuld eingestehen. Die Dame macht kehrt, verschanzt sich wieder hinter der Theke, schneuzt sich und schaltet das Radio an. Viel zu laut und aufdringlich ertönen die Nachrichten.

SüdseiteBlick in die wunderbare Internationale Buchhandlung „Südseite“

Bald hat die graue Dame ihre wenigen Kunden vertrieben, nur ich stehe noch da und entscheide mich schließlich für ein arabisches Büchlein, in dem, wenn ich richtig verstanden habe, ein Vater seinem Sohn erklärt, warum Menschen Krieg führen und dass daran ein gewisser Herr Bush nicht unwesentlichen Anteil habe. Wenn ich Pech habe, wird es sich als peinliche Agitation entpuppen, aber es ist sowieso eher ein Verlegenheitskauf, und ich weiß jetzt schon, dass ich über die ersten Seiten vermutlich nicht hinauskommen werde und das Büchlein ein weiteres Denkmal meines sprachlichen Scheiterns sein wird.

Als ich das Buch an die Kasse lege, überträgt die Verkäuferin mit etwas Mühe den Titel – er steht in Umschrift auf einem Etikett – in einen Block, dann schüttet sie ein Einmachglas mit Münzen aus und wühlt auf der Suche nach Wechselgeld. „Zweier gebe ich so ungern heraus“, murmelt sie und wühlt stumm weiter.

Ich warte geduldig und dann frage ich gegen das Schweigen an: „Haben Sie auch Bücher auf Swahili?“ (Nicht, dass ich viel damit anfangen könnte.)

„Nein“, bringt die Dame hervor und sieht mich aus grauen Augen an. „Nein.“

„Aber eine wirklich schöne Buchhandlung“, rufe ich ihr zum Abschied munter zu. Vielleicht sieht so dieser Ort doch noch ein Lächeln, bevor die Dame den Laden abschließt.

Der Tempel unter dem Schutz des Präsidenten

Ein paar Stunden vor Reiseantritt heute ein etwas längerer Eintrag – in Erinnerung an ein Land am Vorabend des Bürgerkriegs (Syrien, 23. März 2011).

Ein Galaplatz im Mikrobus

In einem arabischen Mikrobus („Service“ in Syrien) kann man aus den verschiedensten Gründen ins Schwitzen geraten. Weil das Wetter warm ist. Weil man eingezwängt dasitzt, möglicherweise vorne zwischen dem Fahrer, der einem immer wieder den Schaltknüppel gegen das Knie drückt, und einem zweiten Fahrgast auf dem Vordersitz, am besten, wenn man auf den Knien noch einen kleinen Rucksack balancieren muss. Vielleicht auch, wenn man zu den empfindsameren Gemütern gehört, die Tatsache schwieriger Kommunikation, wenn man die Fragen des Fahrers nicht versteht – oder aber gerade kapiert, dass sich das Gespräch zwischen dem Fahrer zur Linken und dem Nebenmann zur Rechten um einen selbst dreht, man aber eben nur das und leider nicht mehr versteht. Und natürlich der Fahrstil des Kleinunternehmers.

Bei mir trafen alle Gründe zusammen, als ich die einstündige Fahrt von Damaskus aus nach Dumair unternahm. Ich war der erste Fahrgast – und der einzige, der in der Garage Abbassiyin einstieg – und setzte mich neben den Fahrer (ich sollte es noch bereuen). Er hatte hellen Teint und einen rötlichen Bart, ein volles Gesicht mit melancholischer Augenpartie und einem aufbrausendem, wenngleich nicht unfreundlichen Wesen. Wären seine Augen nur eine Spur heller gewesen, hätte man ihn ohne Weiteres in „Braveheart“ unterbringen können.

Interessanterweise war er angeschnallt – das war mir in diesen Tagen bereits mehrmals aufgefallen, in einem Land, in dem Taxifahrer vor wenigen Jahren noch in ihrem männlichen Stolz verletzt waren, wenn der Fahrgast sich den Sicherheitsgurt umlegen wollte. Sollte sich hier doch etwas ändern im syrischen Straßendschungel? Was für den Fahrer zutraf, galt leider nicht für mich (es gab keinen Gurt) und ich litt Qualen und sah mich schon durch die Windschutzscheibe fliegen.

Denn wie fast alle Syrer, die ich erlebt hatte, fuhr der Fahrer rasant und aggressiv, nutzte jede noch so kleine Lücke, drängte sich mit Hupen, Gesten, Flüchen und dem reinen Willen vor, nur um gleich darauf wieder überholt zu werden, wenn ein Fahrgast aus- oder einstieg. (Wer bisher nur in der westlichen Hemisphäre Bus gefahren ist: Ein Mikrobus hat eine Route, mehr nicht, und hält dort, wo ihm jemand auf der Straße zuwinkt bzw. auf Zuruf eines Fahrgastes – „al-yamin, ya mu‘allim“.)

Die Straße nach Dumair war uneben, teils löchrig oder rissig. Alte Schienen liefen quer. Bodenwellen nahmen glücklicherweise immer wieder das Tempo heraus. Wo die Straße hingegen frei war, jagte der Fahrer den alten Motor hoch, hinter uralten Mercedes-Benz-Lastwagen her, die schon zu Zeiten von „Lohn der Angst“ in einem ehrwürdigen Alter gewesen sein mussten und weit über die Ladekante hinaus mit Schrott beladen waren. Wenn da etwas ins Rutschen käme … Aber es war nur eine plattgedrückte Büchse, die vor uns auf die Straße fiel, als wir zum Überholen ansetzten. Der Fahrer lachte. (Auf dem Rückweg krachte einem kleinen Lieferwagen, kaum dass er vor uns auf einen holprigen Hof eingebogen war, die Ladeklappe herunter. Ich konnte nicht sehen, ob der Fahrer des Wagens überhaupt nach hinten blickte.)

All das sieht das entsetzte westliche Auge ganz ungeschminkt vorne neben dem Fahrer und ich verstand nicht, wieso ich auf diesem Platz gelandet war, nachdem ich erst am Vortag bei einer Fahrt im Mikrobus geschworen hatte, mich nie mehr nach vorne zu setzen, sollte ich die Fahrt unbeschadet überleben (Erinnerungen an frühere Fahrten ganz zu verschweigen). Ich erneuerte meinen Schwur.

Geraucht wird, wenn der Muezzin schweigt

Der Kleinbus füllte sich schnell. Mein Sitznachbar stieg aus, ein junger Mann rückte nach, ein ganz anderer Typus als der Fahrer: braun wie ein Beduine, eine schnittige Nase im schmalen Gesicht, dunkler Schnurrbart, grünbraune Augen, eine Haartolle und eine Outdoor-Jacke in der Art eines leichten Parkas, ein eher ländliches Kleidungsstück. Der Mann trug einen Papierumschlag bei sich, vielleicht hatte er in der Hauptstadt irgendwelche Dokumente abgeholt.

Der junge Mann war aus Dumair, wie sich heraustellte, und kannte den antiken Tempel, den ich dort besuchen wollte, anders als der Fahrer. Der Tempel befinde sich in einer Burg, erzählte der junge Mann, und ich hatte gute Hoffnung, dass er mir vor Ort zeigen würde, wohin ich musste.

Dumair sollte laut Karte etwa 40 Kilometer von Damaskus entfernt an der Straße nach Tadmur (Palmyra) liegen. Es war nicht leicht zu sehen, wo Damaskus überhaupt endete. Kilometer an Kilometer reihten sich ohne Unterbrechung Vororte, triste Bilder aus Staub, Höfen, Werkstätten, Industrieanlagen und schmucklosen Wohnhäusern. Trostlosigkeit in Grau und Braun, diesen typischen Farben Syriens, dagegen konnten auch die gelegentlichen Baumreihen nichts ausrichten.

Irgendwann drehte der Fahrer die Kassette mit religiösen Gesänge aus – Zeit für eine Zigarette! Mein Sitznachbar fühlte sich dadurch ermutigt und holte selbst eine Schachtel hervor. Allein, sein Feuerzeug rieb ein ums andere Mal ohne Funkenschlag. Irgendwann reichte ihm der Fahrer seines, der junge Mann schleuderte sein nutzloses Feuerzeug durch das offene Fenster hinaus und hatte seine Zigarette nach dem ersten Versuch an. „Besser so?“, grinste ich und der junge Mann hob den Daumen. Ich war froh, dass der Rauch der Zigaretten aus den geöffneten Fenstern zog.

Schlüsselsuche in Ad-Dumair

Von einer altertümlichen Anlage vor dem Ort war, anders als der Reiseführer beschrieben hatte, nichts zu sehen. Auch war das „Dorf“ nicht gerade klein.

„Wohin willst du nun“, fragte mich der Fahrer.

„Als erstes Wasser kaufen“, antwortete ich und mein Sitznachbar bekundete dem Fahrer, er werde sich um alles kümmern.

Staubig die Hauptstraße, ein reizloser Ort, an dem wir ausstiegen. Immerhin, durch eine Seitenstraße war nun das antike Gemäuer zu sehen. Erst aber brachte mich der junge Mann zu einem Laden, vorbei an einem Metzger, der ein frisch geschlachtetes Schaf ausgehängt hatte. Die abgezogene Haut lag im Rinnstein der Straße, zwischen anderem Müll. Ein zweiter Metzger hatte auf dem Schaufenster das Bild eines glücklichen Kamels mit Jungtier. Dahinter sah ich einen gewaltigen Brocken relativ dunklen Fleisches, die größte Masse Fleisch, die ich je gesehen hatte.

Nach dem Kauf der Wasserflasche brachte mich der junge Mann zur Ruine. Französisch könne er etwas, erklärte er mir, aber kein Englisch. Da mein Französisch noch schlechter ist als mein Arabisch, blieben wir dabei. Das kleine Areal war von einem Zaun umgeben. In einer Grube – einem erstaunlich tiefen Aushub – stand ein viereckiges Gebäude: der Tempel des Zeus Hypsistos. Eindeutig waren die antiken Stilelemente zu erkennen. Doch das Tor war – wie erwartet – verschlossen.

Der junge Mann erklärte, dass wir nach dem Schlüsselträger suchen müssten. Er klopfte an irgendein Haus in der Nachbarschaft, eine schrille Frauenstimme antwortete, durch die Haustür hindurch unterhielten sich die beiden. Ohne Ergebnis.

Der junge Mann war für einen Moment ratlos. Mir tat es schon leid für den Aufwand, den er betrieb, um einem völlig Fremden bei seinem Spleen, irgendwelche unbedeutenden Mauern aus längst vergangener Zeit zu besichtigen. Ich erklärte ihm, es sei gar kein Problem, wenn sich der Schlüssel nicht fände. Stattdessen winkte mich der Mann mit: Im „Stadtzentrum“, so verstand ich, würden wir schon fündig werden.

Eine Besichtigung unter dem Segen des Regimes

Fünf Minuten später betraten wir ein Amtsgebäude – das Rathaus. Der junge Mann hieß mich  mit einer Geste – aneinandergelegte Fingerspitzen der nach oben gehaltenen Hand, wie die klassische italienische Geste, nur mit anderer Bedeutung – warten und betrat einen offenen Nebenraum. Während er dort ein Gespräch führte, schaute ich im Flur auf die doppelflügelige Holztür vor mir, über der gewaltig groß ein Bildnis des alten Präsidenten hing, links und rechts jeweils ein kleineres Bild seines Sohnes Baschar al-Asad, des gegenwärtigen Präsidenten. Ich hielt mich aufrecht unter dem Blick des großen Bruders, aber mein Gesicht war ausdruckslos, ein glatter Spiegel wie bei vielen Syrern in der Öffentlichkeit. Niemals hatte ich ausdruckslosere Gesichter gesehen als in einem überfüllten Teehaus in Aleppo, wo alle auf den Bildschirm starrten und einer mit Spannung erwarteten Parlamentsrede Baschar al-Asads zuhörten.

Der junge Mann kam zurück, klopfte munter an die Flügeltür und betrat den Raum. Es dauerte ein paar Minuten. Andere Männer kamen, klopften, gingen ebenfalls hinein. Dann winkte mich der junge Mann durch die Tür herein. Ich betrat das Büro des Bürgermeisters. Rechts thronte er hinter einem Schreibtisch, ringsum standen grüne Sessel, in zwei, drei saßen gelassen Männer, es mussten Vertrauensleute des Bürgermeisters sein, Parteigenossen, auserwählte Handlanger, jedenfalls hatten sie nicht die Haltung von Untertänigkeit, die andere Bittsteller zur Schau trugen.

Der junge Mann stellte mich dem Bürgermeister vor, der hieß mich auf Englisch willkommen und wies mir einen Platz zu seiner Linken. Er fragte mich, ob ich Arabisch könne, ich sagte, ein wenig, dann legte er los in seinem Dialekt und ich verstand nichts. Vielleicht doch auf Englisch, schlug ich vor, aber das überstieg wiederum sein Vermögen.

Der Amtsträger grunzte und redeschwallte stattdessen mit den anderen weiter, streute hin und wieder ein „welcome“ oder „ahlan“ mir gegenüber ein und stempelte zwischendurch ein Dokument für einen Bittsteller ab. Offenbar entwickelte sich die Suche nach dem Schlüssel zu einer mittleren Staats- respektive Verwaltungsaffäre.

Ich fragte mich bereits, ob ich allen und vor allem dem Bürgermeister die Ratlosigkeit ersparen und taktvoll einen Rückzieher machen sollte, aber andererseits war es einfach zu faszinierend, was sich hier abspielte. Einem Faktotum in mittlerem Alter mit Pausbäckchen, Chaplinbart und lustigen Augen wurde aufgetragen, mir einen Kaffee auszuschenken. Er hatte ein Tässchen und eine Henkelkanne in der Hand, fand in der Tiefe der Tasse noch etwas Kaffee und trank diesen Rest aus, bevor er mir in diese Tasse einschenkte. Eine zweite Tasse lehnte ich mit einem „bass“ und Schwenken der Tasse ab, wie es mir Saudis in der Jugendherberge von Dubai einmal beigebracht hatten. Einer der gelassenen Männer auf den Stühlen lachte und erhielt selbst einen Kaffee aus der Tasse.

Vielleicht um zu demonstrieren, dass er Herr der Lage sei, setzte der Bürgermeister nun dem jungen Mann, der mich hergebracht hatte und sich eigentlich zurückziehen wollte, mit Fragen zu. Es war ganz offensichtlich, dass der junge Mann sich nicht wohlfühlte in seiner Haut. Ich verstand nicht, worum es ging, aber es kam mir unfair vor: ein ungerechtfertigtes Machtspielchen auf Kosten des hilfreichen jungen Mannes. Als das Verhör abebbte, fragte der junge Mann den Bürgermeister, ob er gehen dürfe, und schlich rückwärts aus dem Raum, ohne dass ich noch die Gelegenheit bekommen hätte, mich bei ihm zu bedanken oder ihn zu verabschieden. Vielleicht bereute es der junge Mann schon, den Fremden so bereitwillig unterstützt zu haben. Mein Bedauern war jedenfalls fraglos vorhanden. So hatte ich ihn nicht gehen sehen wollen.

Dann kam ein Neuer, ein kleiner, jüngerer Mann, ein hübscher Schnurrbartträger mit sensiblen Gesichtszügen. Er trug Hemd, Bügelfaltenhose und Plastikschlappen und eine schwarze Lederjacke genau der Art, wie man sie sich von gewissen Mitarbeitern des syrischen Geheimdienstes vorstellt. Es war ein merkwürdiger Kontrast: Das Kleidungssymbol des gefürchteten Muchabarats passte nicht zu seinem empfindsamen Gesicht. Dieser Mann würde mir also weiterhelfen …

Doch erst brachte sich der Bürgermeister nochmals ins Spiel, plötzlich wollte er meinen Pass sehen – eine Passkontrolle durch den vielleicht ranghöchsten Repräsentanten des Städtchens für eine archäologische Besichtigung. Der Bürgermeister tat, als wäre es eine glückliche Bestätigung seiner heimlichen Hoffnung, das Visum vorzufinden (als wenn ich ohne in das Land gekommen wäre), er erhob sich, reichte mir zu seinem wiederholten „ahlan wa-sahlan“ nun sogar die Hand. Ich war mit dem Segen der Staatsmacht entlassen.

Tourismus leicht gemacht

Der Sensible führte mich hinaus. Wir könnten das Moped nehmen oder zu Fuß gehen, sagte er. Zu Fuß, antwortete ich und dachte mir insgeheim, was für eine dumme Frage, für diese paar Schritte. Und dann, mich verbessernd, seine Höflichkeit aufgreifend: Wie er möchte, meinetwegen aber gerne zu Fuß. Dabei blieb es.

Wir gingen dieses Mal um die andere Seite des Rathauses herum zurück zur Ruine. Der Mann vergewisserte sich, dass das Tor tatsächlich verschlossen war. Er erklärte mir, dass der Tempel während der Regierungszeit des römischen Kaisers Philipp Arabs erbaut worden war – historisch interessierte Syrer sind stolz darauf, dass ein Mann aus ihrem Landes einmal über das römische Imperium geherrscht hatte –, und konnte mir ein paar andere archäologische Überreste in der weiteren Umgebung aufzählen. Ich glaubte fast, der Sensible war so etwas wie ein Intellektueller.

Dann ging es darum, an den Schlüssel zu kommen – auch er hatte ihn nicht! Ob ich warten wolle … Natürlich ging ich mit. Zwei Ecken weiter rief er einem alten, hochgewachsenen Mann in schwarzer Dschalabiya zu, der missmutig eine Gebetskette in Händen hielt. Von seiner Aufgabe, das Tor aufzusperren, war er ganz offensichtlich nicht begeistert. „Woher“, frage er. „Nur einer?“, knurrte er. Grimmig schaute er auf mich herab, sagte „aber gerne“ („tikram“) zum Sensiblen – es klang nach beißender Ironie – und hinkte los. Seine Lunge röchelte.

Der Sensible schien inzwischen ein bisschen geknickt, der Alte war offenbar zuviel für sein sanftes Gemüt. Der Hüter der Pforte holte die Schlüssel aus dem Haus, dann schloss er umständlich das Tor zum Tempel auf. Wir drei stiegen die Stufen hinab und schritten in der Grube um das antike Gebäude herum.

Der Sensible zeigte mir die Inschriften und erklärte, was an Bausubstanz römischer Tempel und was islamischer Überbau war. Es war ein kleiner Tempel, ein quadratischer Hauptraum mit drei Nischen gegenüber dem Eingang, vermutlich für die Götterstatuen in antiker Zeit. In einem kleinen, dunklen Nebenraum stand ein alter Opferstein und darin lag – warum und wofür auch immer – ein Schlüsselbund mit sicherlich 20 Schlüsseln.

Der Sensible wies auf vier Figuren auf jeder Seite des Opfersteins. Merkwürdig gedrehte Gegenstände waren neben den Gestalten abgebildet, vom Zahn der Zeit abgeschliffen. Ich fragte, ob sie Hörner darstellten. Erst beim zweiten Mal verstand ich die Antwort: „Weintrauben“. Ich machte ein paar Fotos vom Tempel, eine reine Alibihandlung, dann hatte ich genug und wir verließen die Ausgrabungsstätte. Der Alte schloss ab, der Sensible schlurfte bereits wieder zurück und ich stand unbeholfen da, einige Münzen in der Hand.

Glücklicherweise hatte mich mein Reiseführer bereits darauf hingewiesen, dass ein Trinkgeld angebracht sei. Der strenge Alte wollte mich schon im rauen Tonfall fortschicken, als ich mich fast stammelnd bedankte (ich hasse es, mich mit dieser Art von alten arabischen Patriarchen abgeben zu müssen, sie lassen mich immer fürchterlich klein fühlen) und ihm die Münzen in die Hand drückte. Der Alte ließ sich zu einem gnädigen Nicken herab, die Summe zumindest schien in Ordnung zu sein.

Der Sensible war schon auf halbem Wege ins Rathaus zurück, ich rief ihm einen Dank hinterher, er winkte nur und ich knippste noch zwei letzte Fotos von dem alten Tempel (sie waren falsch belichtet, stellte ich später fest, aber das machte nichts, es war sowieso nur ein Ritual, um irgendwie einen Abschluss zu finden). So viel Aufwand für das bisschen Archäologie … Die Stätte war mir das Aufheben jedenfalls nicht wert – und interessant andererseits, wie hier potentielle touristische Magnete regelrecht abgeschirmt wurden vor einem Besuch.

Mehr schien mir der Ort nicht zu bieten und ich beschloss, nach Damaskus zurückzukehren. Ich hatte Glück. Ein „Service“ stand abfahrbereit auf der Hauptstraße. Die Fahrgäste trugen alle die ländliche Kufiya, das Kopftuch der Männer, das mit einer Kordel oder einem Gummiring festgehalten wird. Immerhin, zum Abschied schenkte mir das trostlose Dumair ein herzliches Lächeln: Einer der Alten – eine jener traurigen Figuren, die an den Bürgersteigen manchmal Kleinigkeiten zum Verkauf anbieten – strahlte mich aus seinem Faltengesicht an.

„Britani?“

„Almani“, lachte ich zurück.

„Ahlan wa-sahlan!“

Dieses Mal setzte ich mich nach hinten, in die letzte Reihe.

‚Falestin auf Hebräisch einritzen‘ – Ayman Sikseck, „Reise nach Jerusalem“

Eine Gruppe palästinensischer Israelis demonstriert gegen einen militärischen Schlag Israels in Gaza. Die jungen Araber bereiten ein Plakat vor und stoßen auf eine simple Schwierigkeit: „Ich habe die Parolen so draufgeschrieben, wie ihr es haben wolltet, auf Arabisch, Hebräisch und Englisch. Allerdings habe ich vergessen, was ‚Transfer’ auf Arabisch heißt.“

Sikseck_9783716026878Es ist eine archetypische Situation in Ayman Siksecks kleinem Roman „Reise nach Jerusalem“. Jeder fünfte israelische Staatsbürger ist Araber. Und wie bei diesen jungen Demonstranten oszilliert ihre Identität zwischen zwei Welten, zu denen beiden sie nicht wirklich gehören. Sikseck, Jahrgang 1984, ist selbst einer dieser palästinensischen Israelis (oder Palästinenser in Israel, wie die Nomenklatur auch lautet). Er schreibt auf Hebräisch Kolumnen für Tageszeitungen und legt mit „Reise nach Jerusalem“ (treffender der Original-Titel: El Yafo, also Jaffa, der arabische Teil von Tel Aviv, woher Sikseck stammt) seinen ersten Roman vor.

Der Erzähler und seine Schwester versuchen sich im palästinensisch geprägten Jaffa zu emanzipieren: durch ein Studium, durch Arbeit im jüdisch-arabischen Gemeindezentrum, gegen die patriarchalisch-konservativen Strukturen ihrer Familie, gegen die – absichtlichen oder unabsichtlichen – Bevormundungen durch die hebräische Gesellschaftsmehrheit. Der Erzähler lebt in einem dauerhaften Zustand der Hin- und Hergerissenheit. Seine arabische Freundin Scharihan darf er nur heimlich treffen, solange er nicht offiziell um ihre Hand anhält. Ihre romantischen Spaziergänge vollziehen sich mit weitem räumlichen Abstand zwischen sich, um nach außen ja nicht den Eindruck irgendeiner Verbindung aufkommen zu lassen (sehr begehrt deshalb der Marktbesuch, weil man sich in dem Gedränge unweigerlich körperlich näher kommt), und endet „an der bröckelnden Rückwand eines alten Restaurants“, wo sie unter dem Abluftgebläse der Küche einen Moment der Intimität erleben können, wenn sie nicht ihr schwieriges Verhältnis über den Umweg der „Antigone“ und anderer klassischer (abendländischer) Literatur klären. (Ja, sie kennen Dostojewski oder Proust besser als Ghassan Kanafani, diese wichtige literarische Stimme der Palästinenser des 20. Jahrhunderts.) Und auf der anderen Seite steht seine israelische Freundin Nitzan, eine lebensoffene Soldatin, mit der er die Premiere des neuen Films der Coen-Brüder besucht und die ihn in Discos entführt und ihn erst mit Alkohol abfüllen muss, um ihn irgendwann abzuschleppen.

Die Kinder im palästinensischen Viertel feiern auch die jüdischen Feste – genauso wie ein längst globalisiertes Weihnachtsfest unter der Ägide von Santa Claus – und Jugendfreund Said grübelt über das Laubhüttenfest: „In der Grundschule gab es einiges, von dem wir dachten, es würde uns gehören, und dann war’s doch nicht so.“

Manchmal erhält dieses Leben zwischen den Identitäten etwas geradezu Unwirkliches. Wenn sich palästinensische Israelis außerhalb ihres heimischen Viertels begegnen, suchen sie bisweilen verlegen nach der sprachlichen Form – Arabisch, Hebräisch? – für ihr Gespräch; trifft der Erzähler Palästinenser mit dem Akzent der Besetzten Gebiete („ein militantes, krachendes Arabisch“, wie er es empfindet), wird er selbst wachsam und – ein Höhepunkt – auf den Busfahrten findet er sich von der gleichen Angst, der gleichen Paranoia vor Selbstmordattentaten gefangen wie die jüdischen Israelis, wenn er unruhig die Taschen der arabischen Mitreisenden mustert.

Die jungen Leute schauen Shrek II oder die Bourne-Trilogie, sie gehen zu IKEA, um sich einzurichten, und beugen sich zuhause dann doch dem Diktat der frommen Väter und Onkels und den Ehen, die ihre Eltern gegen ihre Herzenswünsche arrangieren. Während der Erzähler durch die Stadt irrt, immer sein geliebtes Notizbuch bei sich, um sich darin selbst zu vergewissern, sich darin immer wieder neu zu greifen versucht und doch scheitert, nimmt es seine Schwester Samaher gelassener: „Auch wenn’s nicht echt ist […] es kommt in diesem Fall der Echtheit so nahe wie möglich.“ Und fasst die Lage einer Millionenbevölkerung so zusammen: „Manchmal muss man auch das Unechte akzeptieren. […] Weil nichts anderes übrig bleibt.“

Es gibt Bücher, bei denen es sich lohnt, zuerst das Nachwort zu lesen. Sikseck gehört dazu, andernfalls bleiben womöglich zu viele Andeutungen enigmatisch. Der Form nach spürt man, dass der Roman aus Zeitungskolumnen hervorgegangen ist. Stilistisch präsentiert sich Sikseck recht einfach – er ist kein Poet, auch kein Romancier, eher ein junger, zwar fehlerfreier, aber doch noch nach einem literarischen Ausdruck suchender Essayist. So besteht der Roman im Grunde aus vielen kleinen Episoden, die sich aneinanderreihen und die alle – oft etwas aufdringlich – in einer Pointe oder Moral enden. Überhaupt ist das eine der größten Schwächen des Buches: das bisweilen Konstruierte, Künstliche. Erst gegen Ende verliert sich dieser Zug zunehmend und unverfälscht lässt Sikseck den Schmerz sprechen. Es sind erzählerisch die stärksten Seiten des Buches.

Ein spannendes, unbedingt lesenswertes Thema, wenn auch nicht eine immer überzeugende Form. Schön auf jeden Fall, dass es aller Widrigkeiten in der Verlagswelt zum Trotz noch unabhängige Literaturverlage wie Arche gibt, die mit Reihen wie Arche Paradies – von Denis Scheck herausgegeben – Autoren aus aller Welt ein Forum bietet.

Ayman Sikseck, Reise nach Jerusalem. Roman. Mit einem Nachwort von Hanan Hever. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. (Originalausgabe 2010 unter dem Titel El Yafo.) Gebunden mit Schutzumschlag, 155 Seiten. © Arche Literatur Verlag AG, Zürich – Hamburg, 2012.

Belgischer Bücherzauber

Besuch eines zauberhaften Bücherorts: Boekhandel Peeters in Leuven. Viele Regalmeter Geschichte als nur ein Beispiel, und darin völlig einvernehmlich Titel in vier, fünf Sprachen neben- und durcheinander – eine bunte Familie, in der die einzelne Sprache kaum eine Rolle spielt. Und einen Gang weiter ist die Orientalistik bald noch umfangreicher (und natürlich sprachlich bunter). Da kommt man um einen Kauf wirklich nicht herum, und sei es nur, um den Ort zu würdigen. Viel aufgeregtes Stöbern, dann endlich die Wahl: „An Introduction to Arabic Literature“.