Secuestro virtual oder: Wie entführe ich mich selbst

Das Telefon klingelte um 3 Uhr nachmittags, eine ungewöhnliche Zeit.
„Hallo?“
„Guten Tag, ist da das Hotel …, Zimmer 202?“
„Ja, wer spricht?“
„Zimmer 202, richtig?“
„Ja ja …“
„Hör mir gut zu, du verdammtes Arschloch. Wir wissen genau, was läuft, aber damit du kommst du nicht durch.“
„Äh …“
„Du bist am Ende, wir machen dich so was von fertig!“
„Warten Sie, warten Sie, da muss es sich um ein Missverständnis handeln!“
„Glaubst du etwa, du kannst die Zetas verarschen? Wir wissen genau, dass du Waffen für die Sinaloa in dem Zimmer versteckst. Wir holen uns dich, du Arschloch, und dann ist Schluss!“

J. war eben erst angekommen in der mexikanischen Stadt. Er war aus dem Süden Lateinamerikas angereist, um auf einer wissenschaftlichen Tagung einen Vortrag zu halten. Er hatte sich darauf vorbereitet, etwas über Bildhermeneutik zu vermitteln − nicht, in eine Auseinandersetzung zwischen den mexikanischen Drogenkartellen verwickelt zu werden.

„Nein, nein, hören Sie, das ist wirklich ein Missverständnis! Ich bin Professor, ich bin gerade aus dem Ausland angereist, um hier einen Vortrag zu halten, das ist alles!“
„Dann beweis es, was du sagst. Los, beweis es! Gib uns eine Telefonnummer von jemanden, der deine Geschichte bestätigen kann. Sag uns, wer dort ans Telefon gehen wird, mach schon. Und wenn nur eine Sache nicht stimmt an deiner Geschichte, dann TÖTEN wir dich!“

Später verfluchte sich J. dafür, was er nun tat. Er nannte die Nummer seines Zuhauses ein paar Tausend Kilometer entfernt. Er hörte, wie die Nummer angewählt wurde, wie sich seine Frau meldete. Dann brach die Verbindung ab und eine andere Stimme war in der Leitung.

„Okay, vielleicht war das ja wirklich ein Missverständnis. Professor bist du also? Zwei Kinder hast du?“ Es kam J. vor, als wüssten sie bereits alles über sein Leben. „Hör zu, wenn es stimmt, was du sagst, wird niemandem etwas passieren. Tu einfach genau das, was wir dir sagen, und alles wird gut, verstanden?“

Sie schickten ihn in einen Laden, um dort ein Handy zu kaufen und aufzuladen. Er tat es. Sie wechselten über zum Handy. Dann forderten sie ihn auf, ein Taxi zu nehmen. Er würde telefonisch Anweisungen für den Weg erhalten. J. verließ erneut das Hotel und hielt nach einem Taxi Ausschau. Blickt man von außen auf die Situation, erscheint es irrational. Aber J. war da schon zu tief in die Spirale aus Furcht gerutscht.

Und in diesem Augenblick kam ein mexikanischer Kollege die Straße herunter.
„Was ist los? Wo willst du hin? Du warst nicht zu deinem Vortrag da. Ich wollte nach dir schauen!“
„Tut mir leid, ich muss weg, meiner Frau geht es nicht gut, ich muss zum Flughafen …“
Der Mexikaner stutzte. Er spürte, dass irgendetwas nicht stimmte, er sah das Handy in J.s Hand.
„Sag mal, wirst du etwa gerade entführt?“
J. war nicht in der Lage, darauf in Worten zu antworten. Die Anrufer waren noch immer auf Leitung. Er nickte nur.
„Leg auf. Los, leg auf!“
J. konnte nicht. Sein Kollege entwand ihm das Telefon und drückte aus. Und plötzlich fiel ein Gewicht von J. Er konnte wieder frei atmen, er konnte wieder frei denken. Der Kreislauf der Angst und Manipulation war durchbrochen. Sie hatten keine Macht mehr über ihn.
„Du musst da einfach auflegen, wenn solche Typen dich entführen wollen. Das ist normal bei uns. Einfach sofort auflegen“, sagte der mexikanische Kollege.

Auch die Polizei nahm es gelassen. Für sie ist das Tagesgeschäft. Sie hat sogar eigens eine Hotline für solche Fälle einer virtuellen Entführung (secuestro virtual) oder ‚Selbstentführung‘ (autosecuestro) eingerichtet. Der Anruf wurde übrigens in ein Gefängnis in einer anderen Stadt zurückverfolgt. Von dort wurden solche Entführungen und Erpressungen eingeleitet − eine Art Callcenter der Kriminalität. Wäre J. den Anweisungen der Anrufer gefolgt, wäre er irgendwo in Empfang genommen worden. Und erst dann wäre die virtuelle Entführung körperlich manifest gewesen. (So musste er ‚nur‘ einen Freund in der Heimat anrufen, der sich aufmachte zu seinem Haus, um J.s Frau zu informieren, dass es ihm gut gehe − denn die Telefonleitung war dauerbesetzt von den Anrufern, die ihr weismachten, dass sie ihren Mann längst in ihrer Gewalt hätten, und Lösegeld forderten.)

Die Macht der mexikanischen Kartelle ist aber alles andere als virtuell. Der Drogenkrieg in Mexiko fordert Jahr für Jahr so viele Todesopfer, dass der Konflikt seine Bezeichnung als Krieg längst verdient hat.

Wir schauten J. an. Längst war es dunkel draußen. Ganz friedlich lag die Killesberghöhe da, so unerwartet friedlich nach dieser Erzählung. Noch immer sind nicht alle Wohnungen und Geschäfte in dem neuen Quartier bezogen, wo sich vor ein paar Jahren noch das alte Messegelände ausgebreitet hatte. Aber langsam füllen sich die hellen, rechteckigen Gebäude mit Leben.

F. stellte vier neue Gläser auf den Tisch und der Abend wandte sich neuen Geschichten, neuen Getränken zu. Er würde noch ein Weilchen gehen. Schließlich sahen wir unseren Freund aus Studienzeiten nur alle paar Jahre einmal.

Der Irrtum der Ayatollahs

Aleppo, 31.3.2011

Die junge Frau mit dem offenen, schulterlangen Haar hält mühsam das Gleichgewicht auf dem Fahrrad, tritt einmal in die Pedale, dann stockt die Fahrt wieder. Sie radelt durch den Suq von Aleppo, der Metropole im Nordwesten Syriens: schmalen, teils überdachten Gassen aus historischer Zeit, links und rechts reiht sich eine unüberschaubare Zahl kleiner Läden, dazwischen wälzt sich ein Strom an Menschen, Lastträgern und Handkarren dahin.

Das Fahrrad der jungen Frau ist modern, ein stolzes Tourenrad, das sich königlich ausmacht gegenüber den Klapperkisten, die es in Syrien gibt. Am Lenker baumelt ein Fahrradhelm (völlig unmöglich, sich so etwas in Syrien vorzustellen), über dem Gepäckträger hängen Reisetaschen. Ohne Frage, die Frau und das halbe Dutzend anderer junger Leute sind auf großer Fahrradtour. Sie sind Ausländer, aus einer anderen Welt. Sie sind Iraner.

Ihre Gesichter sind weich und schön, die Haut ist cremigbraun, die großen, hübschen Augen (alles bereits ein zarter Vorgeschmack von Nordindien, verglichen mit den Syrern um sie herum) blicken offen und neugierig all dem Fremden um sie herum entgegen. Ihre Augen tragen keinen ‚Schleier‘, keinen aus Vorsicht und Angst gewebten undurchdringlichen Vorhang wie die Syrer, obwohl sie selbst aus einem Regime stammen. Das ist erstaunlich.

Gut möglich, dass diese jungen Leute in ihrer Heimat privilegiert sind: die teuren Räder, die professionelle Ausstattung, aber auch ihr Aussehen (wohlgenährt und sportlich zugleich), ihr Ausdruck (höhere Bildung, gesicherte Verhältnisse).

„Welcome, Iran!“ oder „Ahlan wa-sahlan, Iran!“ rufen die syrischen und armenischen Ladenbesitzer. Eine der Frauen, mit langem Pferdeschwanz und ohne Kopftuch, lächelt breit − ein unbefangenes, freies Lächeln, das so gar nicht in dieses Land hier passt, erst recht nicht von einer Frau gegenüber einem fremden Mann − und ruft zurück „Thank you!“.

Und unwillkürlich denke ich mir, um wie viel weiter der Iran doch sein muss als dieses arabische Land hier. Und welch ein tragischer Irrtum das iranische Ayatollahregime für seine eigene Bevölkerung sein muss!

Eine Kunstvermeidung

„Hab mir den einen Tag eingebildet, täte verrückt werden“
(Oskar Schlemmer)

Mal ehrlich, diese Ballettfiguren von Oskar Schlemmer waren mir noch nie geheuer. „Gleich kommt das Beste!“, rief die Einstige, als wir uns in der Staatsgalerie den Kostümen des Triadischen Balletts näherten, und ich dachte mir nur: „Gruselig.“ Und: „Als wir mit der Schule hier waren, war‘s schon langweilig, aber die Figuren vom Schlemmer waren toll, die waren halt auch was für Kinder“, weiß ich von mehreren Eingeborenen. „Aber doch gerade die nicht!“, will ich entgegnen. Ich weiß nicht, was mich da traumatisiert hat.

Heute Abend begegnete Oskar Schlemmer in der Staatsgalerie Stuttgart auf eine ganz neue Weise. Denn zum ersten Mal wurde der Große Staatspreis für Bildende Kunst des Landes Baden-Württemberg als Oskar-Schlemmer-Preis vergeben. Er versteht sich als wichtiger Baustein der Kunstförderung durch die grün-rote Landesregierung und ist zugleich Zäsur. Der bisherige Hans-Thoma-Preis – Staatspreis des Landes Baden-Württemberg –, hat es nämlich einfach nicht mehr gebracht. Zu betulich und altbacken wirken die Landschaftsmalereien des Schwarzwälder Künstlers inzwischen. Dass zudem die Nazis die Werke des 1924 verstorbenen Malers schätzten, wäre als Totschlagargument vielleicht ein wenig zu schlicht gestrickt (das räumte Staatssekretär Jürgen Walter auf seine Begründung hin selbst gleich ein). Zukunftsweisend jedenfalls gilt das Werk Thomas heute nicht.

Die Programmhefte dienten an diesem (fast) ersten sommerlichen, jedenfalls bisher heißesten Tag des Jahres eher zum Fächeln als zur Lektüre. Es folgten die üblichen Etappen einer Preisverleihung. Dank an die Honoratioren. Abgelesene Reden. Eine kulturpolitische Rahmenabsteckung.

Kurze lokale Irritation: Eine Frau hat eifrig mitgeschrieben, dann schiebt sie ihr Notizbuch über zwei leere Sitze ihrer Nachbarin hinüber. Diese betrachtet die Seite, liest wohl die Sätze und gibt das Buch regungslos zurück. Was war denn das?

Suggestive Politik auf der Bühne: ein Akt, den ein Außenstehender (ich) wohl als plumpe Nötigung verstehen muss, dessen Resultat dann aber das Publikum zu lautem Applaus veranlasste, schließlich erhielt die Stuttgarter Staatsgalerie die Zusicherung, zwei Kunstwerke der Preisträgerin finanziert zu bekommen.

Die mitschreibende Frau wird wieder aktiv, dieses Mal reicht sie ihr Handy einem Mann in der Reihe hinter ihr. Er liest die Worte auf dem Display, reicht das Telefon zurück, die Frau lächelt, der Mann sagt, zeigt, deutet nicht viel. Rätselhaft.

Anstelle eines musikalischen Rahmenprogramms wurde aus Tagebüchern und Briefen Oskar Schlemmers gelesen, eine bunt gefächerte, hübsch zusammengestellte Auswahl – leider mit den diversen Redebeiträgen zusammen zu viel Text.

Die Frau verlässt ihren Platz, kommt nach einer Vietelstunde mit ihrer Tochter zurück, setzt sich an einen anderen Platz, schreibt wieder emsig mit, zu Sätzen der Rede, die mir wenig substantiell erscheinen.

Dann die Würdigung von Katharina der Großen: der Preisträgerin Katharina Grosse, 1961 in Freiburg geboren, Berlin, Düsseldorf, und ihrer Technik: der Eroberung des dreidimensionalen Raums mit der Spritzpistole.

Ich beobachte die Schreiberin und bin hin und hergerissen zwischen präventiver Abwehr und der stillen Hoffnung, ich möge der nächste sein, dem sie etwas zuschiebt.

Dann wird endlich der Preis übergeben, die Künstlerin steht mit verschränkten Armen auf der Bühne, Direktorin Lange der Staatsgalerie schiebt sie nach vorne, Blumen, Händeschütteln des Staatssekretärs, Wangenküsschen des Kurators Kittelmann, ein Plädoyer der Preisträgerin, Dank an die Öffentlichkeit, ans Publikum, denn kein Werk ohne Betrachter – und kein Betrachter ohne Werk?

Und dann ist es vorbei. Die schreibende Frau ist vergessen, die Menge strömt hinüber in den Nachbartrakt, wo ein Kunstwerk von Katharina Grosse zu sehen ist, wir hingegen bleiben irgendwo hängen, dann das rettende Glas Wasser und feine Häppchen auf Zahnstochern, von denen man sich nur zwei zu nehmen traut, obwohl es mindestens fünf verschiedene Varianten gibt, schließlich eine Erklärung, warum ich über die Preisverleihung keinen Blogartikel schreiben werde, und dann …

„Wie, wollen wir uns nicht verabschieden?“, stutze ich, als wir uns heimlich aus dem Gespräch schleichen. „Nein, nein, nicht nötig. Ich sehe das als Zeichen der Bescheidenheit, es nicht zu tun.“

Und so lassen wir den guten Geist Oskar Schlemmers zurück. Der Staatssekretär war da schon längst gegangen.

Die Party kocht! Oder: Fremde in meiner Küche

Das Fernsehen kommt zu früh. Ich habe keine Gelegenheit mehr, mein Hemd zu bügeln, und bitte das Team vom SWR um einen winzigen Augenblick, um wenigstens den Blogartikel, an dem ich eben geschrieben habe, noch abschicken zu können. Dann beginnt mein erster Cookasa-Abend: kurze Ortsbesichtigung mit Redakteurin, Kamera- und Tonmann und als es dann erneut klingelt und die ersten Überraschungsgäste vor der Tür stehen, laufen Ton und Kamera bereits.

Ein Cookasa-Abend ist ein überraschungsreiches Event (und nein, das Fernsehen üblicherweise nicht dabei): Erst einen Tag vor dem Ereignis erfahren die Teilnehmer, wo gekocht wird, welche Funktion man selbst übernimmt und wer der Teampartner ist, mit dem man sich kurzschließen, auf ein Gericht einigen und gemeinsam dafür einkaufen muss. Natürlich kennen sich die meisten Teilnehmer vorher nicht. Seit September 2013 ist Cookasa mit einer eigenen Website am Start. Inzwischen gibt es bereits in über einem Dutzend Städte von Cookasa organisierte Kochabende. Die Sache boomt. So sehr, dass das Fernsehen darauf aufmerksam wurde.

Bald sind alle Überraschungsgäste da. Zu acht machen wir uns ans Kochen, meine Küche platzt aus den Nähten, durchs Balkonfenster filmt der Kameramann. Wenn er sich durch das Gedränge schieben muss, flucht er still in sich hinein, der Tonmann hat es nicht leichter. Die Stimmung unter den Kochenden ist gut, es wird viel gelacht und die Vorspeise schmeckt schon mal prima.

Der ungezwungene Rahmen macht den Reiz an Cookasa aus. Es ist kein Dinner, bei dem eine Person zu brillieren hat und alle andere zuschauen und dann Punkte vergeben. Der gemeinsame Spaß steht im Vordergrund: Alle tragen zum Essen mit bei, jeder ist aktiv, ob jemand wenig oder viel Küchenerfahrung hat, ist nebensächlich, und wenn der Platz in der Küche nicht ausreicht, werden die Zwiebeln eben im Wohnzimmer geschnitten. Alles ganz easy, so malt es die Website von Cookasa aus, und es stimmt: Es ist ein recht lustiger Abend und ich habe große Freude daran, fremde Menschen in meiner Küche zu haben.

Aber interessant: Es gibt da ein paar Dinge, die die Kamera nicht eingefangen hat. Als wir uns zum zweiten Gang an den Tisch setzen, zieht das Fernsehen ab. Und plötzlich bricht etwas aus einem Gast hervor: Er fühlte sich von einer anderen Person vorgeführt vor der Kamera, mies hochgenommen. Fast erwarte ich Tränen am Tisch, doch der Sturm zieht vorüber, nur ein Stachel bleibt im Verborgenen. Schließlich treffen wir uns zum Ausklang in einer Kneipe mit drei anderen Cookasa-Gruppen, die an dem Abend gekocht haben. Und merkwürdig, auf einmal bin ich nicht mehr weit abgeschlagen der Gruppenälteste, und längst nicht mehr jede zweite Person ist eine sehr junge, sehr blonde Frau … Nun, etwaige Schlussfolgerungen daraus möge jeder für sich selbst ziehen.

Aber die betreffen ja einen normalen Cookasa-Abend nicht. Wer selbst einmal teilnehmen möchte, findet alle Informationen hier.

Unser Cookasa-Event wurde am 25.4. in der „Landesschau“ des SWR als Fünfminüter ausgestrahlt.

„Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.“

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Ein Sonntagsausflug hatte mich heute wieder in Stuttgarter Außenbezirke geführt, die zwischen mangelndem Charakter und schierer Trostlosigkeit changieren, und auch der Kurzbesucher erlebt, wenn er in Stuttgart-Mitte vorstößt, die Stadt mit ihrer kalten Büroarchitektur nicht von ihrer verführerischsten Seite.

Zu den Juwelen in der Krone der Stadt gehören hingegen die Straßenzüge aus den Zeiten von Historismus und Jugendstil. Von ihnen haben trotz der Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg (Wikipedia spricht von 57,5 Prozent zerstörter oder beschädigter Bausubstanz) genügend überlebt, um sich fast wie ein Ring um das Zentrum zu ziehen. Die abwechslungsreichen, detailverliebten Fassaden sind Fußgängerarchitektur und keine Autofahrerarchitektur, für die Feinheiten geschwindigkeitsbedingt nebensächlich sind, und vielleicht deshalb sprechen sie viele von uns so unmittelbar an. In diese Straßen, durch die ich jeden Tage spaziere, habe ich mich längst verliebt. Sie sind in meinen Augen ein wahrer Schatz.

Wird in die Erhaltung dieser Fassaden nicht investiert, verlieren sie ihren Liebreiz rasch; erst recht, wenn sie (wie es häufig der Fall ist) aus dem auf Umwelteinflüsse empfindlich reagierenden Sandstein sind. Und wirken manchmal, als trügen sie noch immer die Narben des letzten Krieges, wie dieses Haus in der Hauptstätter Straße, Stuttgart-Süd.

Der Dichter und die Massen

Zum Welttag des Buches hatte ich über eine Dichterlesung in Syrien berichten wollen. Die war auf den Monat genau zehn Jahre zuvor von einem der berühmtesten arabischen Gegenwartsdichter begangen worden. Ich hatte es sogar im Kalender stehen: „23. April: Welttag des Buches – Maḥmūd Darwīš“. Warum kam es nicht dazu? An dem Tag hatte ich einfach keine Lust, etwas zu bloggen. So schlicht sind manchmal die Motivationen. Nun reiche ich den Text nach. Es war damals ein Bericht an die Daheimgebliebenen. Ich gebe zu, manches würde ich inzwischen, zehn Jahre später, anders schreiben. Sollte ich es nachbearbeiten? Ich habe mich dagegen entschieden.

السلام هو الإنصراف إلى عمل في الحديقة:
ماذا سنزرع عما قليل؟

Frieden heißt den Garten pflegen und fragen:
Was pflanzen wir demnächst?

(Mahmud Darwisch)

Damaskus, April 2004

Araber lieben Poesie. Das ist uraltes arabisches Erbe. Vor dem Wirken des Propheten Mohammed, vor dem Auftreten des Islams also, oder – um es mit einem arabischen Wort zu bezeichnen – in der Zeit der „Dschahiliya“ (der Unwissenheit, Ignoranz) war die Kultur der Araber recht überschaubar. Nur in der Poesie, da waren sie groß gewesen, und was davon die islamische „Kulturrevolution“ überlebt hatte, gilt heute noch als eine der großen Epochen der Dichtkunst. Beduinen, die barfüßig durch die Dünen liefen und von Leidenschaft und Tod sangen und damit die Grundlage für das Hocharabische lieferten, einer Sprache so schwer, dass auch viele Araber an ihr verzweifeln. (Und bisweilen, wenn sie einer Fremdsprache mächtig sind, lieber in dieser mit einem Ausländer reden, als vom Dialekt auf das Hocharabische – da längst nur Schriftsprache – umzusteigen.) Bis heute erreichen arabische Dichter einen Ruhm, wie er für den europäischen Poeten – oft genug Sinnbild einer armen, wirkungsohnmächtigen Existenz – unvorstellbar ist. Einer von ihnen, der vielleicht größte und bekannteste dieser Zeit, sollte zu einer Lesung nach Damaskus kommen: Mahmud Darwisch.

In diesem Haus hatte ich zur Zeit der Dichterlesung gewohnt.

Nein, dieses Foto hat nur ganz am Rande etwas mit Mahmud Darwisch zu tun: In diesem Haus hatte ich zur Zeit der Dichterlesung gewohnt.

Mahmud Darwisch war Palästinenser und nicht zuletzt die Tatsache, dass er – auch – ein politischer Dichter war, eine Stimme Palästinas, machte ihn so ungeheuer populär in der arabischen Welt. In seinen jungen Jahren war der Dichter in der kommunistischen Partei tätig. 1970 ging er ins Exil und trat in die PLO ein, wo er schließlich eine wichtige Stellung einnahm. So war er unter anderem Mitglied der palästinensischen Gesandtschaft in Oslo, trat dann aber von seinem Posten zurück, weil ihm die palästinensischen Zugeständnisse gegenüber Israel in dem Oslo-Abkommen zu weit gingen. In den letzten Jahren galt er als innerpalästinensischer Oppositioneller – und ist ungebrochen populär sowohl als politischer Dichter wie auch als Denker und Poet, der die Verbindung zu den einfachen Dingen im Leben, den gewöhnlichen Menschen nicht verloren hat.

Wir waren eine bunt zusammengewürfelte Gruppe, die die Dichterlesung besuchte. Fast zwei Stunden vor Beginn der Veranstaltung betraten wir das unerwartet modern wirkende Sportareal. Schon jetzt standen die Menschen Schlange vor dem Eingang, an dem Taschen und Mäntel kontrolliert wurden. Die Lesung sollte in einer Turnhalle stattfinden – es gab keine Kultureinrichtung, welche die erwarteten Besuchermassen zu fassen imstande gewesen wäre. Die Sitzplätze waren bald belegt und eine harsche Lautsprecherstimme forderte die Stehenden auf, auf dem mit Tüchern ausgelegten Boden der Sporthalle Platz zu nehmen.

Schließlich war auch dieser belegt. Dichtgedrängt saß Reihe an Reihe. Viele Besucher waren junge Leute, wie sie auch in Europa nicht aufgefallen wären. Ein paar trugen Palästinaflaggen, schwarzweiße ‚Palästinensertücher‘ um den Hals oder ein Che Guevara-T-Shirt. Doch fanden sich letztlich ganz unterschiedliche Menschen unter den Zuhörern, die da in größter Disziplin und Geduld unten saßen, Ellbogen an Ellbogen (und ohne Zigaretten oder Alkohol): Jung neben Alt, Mann neben Frau, Reich neben Arm, Modernistisch neben Konservativ – Mensch an Mensch.

Ein Blick tiefer in die Gasse hinein. Hat der Krieg sie inzwischen verwüstet?

Ein Blick tiefer in die Gasse hinein. Hat der Krieg sie inzwischen verwüstet?

Es lag eine freudige Erwartung über der Menge. Einige Grüppchen junger Exil-Palästinenser klatschten im Chor und riefen die Freiheit Palästinas an. Dann endlich trat jemand ans Rednerpult der Tribüne und Tausende von Menschen erhoben sich, klatschten, riefen, jubelten. Kein Dichter, nur Rockstars werden bei uns so gefeiert. Doch zuerst gab es Vorreden, politische Phrasendrescherei vor allem und eine Schweigeminute für die „Märtyrer“ im Kampf um Palästina. (Als Märtyrer wird praktisch jeder vereinnahmt, der durch israelische Gewalt zu Tode kommt.) Ich war abgeschweift und reagierte zu langsam, als sich plötzlich alle in der Halle erhoben. Ein arabischer Freund stieß mich, auch wenn er persönlich wohl nicht so besonders viel von den arabischen Märtyrern hielt, in den Rücken und so zuckte auch ich hoch und erst nach und nach kamen einige Wortfetzen der vorigen Rede bei mir an und ich begriff. Jetzt sitzen zu bleiben wäre eine heftige Provokation gewesen.

Endlich kam der Dichter und wieder brandete Jubel auf. Mahmud Darwisch stand am Mikro, ein gepflegter, nicht besonders großgewachsener Intellektueller mit seiner großen Brille, und begann, seine Gedichte vorzutragen, selbstredend in Hocharabisch. Wie ich erwartet hatte, verstand ich nicht allzu viel von den Versen und nie den eigentlichen Sinn. Aber ich war sowieso nicht gekommen, um seine Gedichte zu erfassen. Die Lesung ging etwa anderthalb Stunden dahin und irgendwann ließ meine Konzentration spürbar nach, ich versuchte nicht einmal mehr, Worte und Halbsätze zu verstehen. Die Luft war schlecht, verbraucht und aufgeheizt von den vielen Menschen, und der Körper rebellierte gegen das stundenlange Sitzen auf einem zu kleinen Plastiksitz.

Und ums Eck mein Gemüsemarkt. Meist schätzten mich die Syrer gleich richtig als Deutschen ein. Dort hingegen wurde ich öfters für einen Russen gehalten.

Und ums Eck mein Gemüsemarkt. Meist schätzten mich die Syrer gleich richtig als Deutschen ein. Dort hingegen wurde ich öfters für einen Russen gehalten.

Ein paar wenige kleinere ungeplante Ereignisse unterbrachen die Lesung. Einmal trat ein Herr in Anzug an den Lesenden heran und küsste ihn auf die Stirn. Dann blieb der Strom kurze Zeit weg und gegen Ende hin ließen es sich die Zuschauer nicht nehmen, sich selbst zu Wort zu melden: Ein Mädchen rief dem Dichter ihre Liebe entgegen und einige äußerten einen Gedichtwunsch. Eine Art Dialog entspannte sich so zwischen dem Dichter und der Menge. Mahmud Darwisch ließ sich darauf ein, dass das Gegenüber von Lesendem und Zuhörer aufgehoben wurde. Natürlich sprach er mit den Zuhörern im Dialekt und es stellte sich das Gefühl ein, das auch in seinen Gedichten (liest man sie) zum Ausdruck kommt: Dass er einer von ihnen, den gewöhnlichen Menschen ist, aber dieses Leben in die Zaubersprache der Poesie zu bannen weiß.

Eine europäische Kommilitonin drückte sich am Folgetag so aus: „Ich hatte den Eindruck, dass dieser Mann in der Lage wäre, eine Revolution auszurufen.“

Mahmud Darwisch, die ‚poetische Stimme des palästinensischen Volkes‘, starb am 9. August 2008 mit 67 Jahren nach einer Herzoperation in Houston, Texas.

Wer den Dichter selbst in seiner Sprache hören will, findet hier ein Beispiel: Das Gedicht „Ich bin von dort, ich bin von hier. Und ich bin nicht hier und ich bin nicht dort“. Im Übrigen habe ich auf Youtube keine Rezitation von Mahmud Darwisch gefunden, die nicht musikalisch unterlegt wurde. Etwas ungewohnt für unsere Ohren – und vermutlich auch ein Ausdruck kultureller Disposition.

Mehrere Werke Mahmud Darwischs liegen in deutscher Übersetzung vor. Die Tücken der Umschrift bringen es mit sich, dass sein Name in den einschlägigen Datenbanken variiert: Machmud Darwisch, Mahmoud Darwisch, Mahmud Darwisch und Mahmoud Darwish habe ich als Schreibweise unter den lieferbaren Titeln gefunden.

Ein Geruch wie ein Wunder

IMAG1081Afghanisches Essen gab es. Und ein paar Menschen waren da, noch wenig oder gar nicht vertraut, freilich liebenswürdige, lachende, bloggende Menschen. Und einer zieht eine Reiseschreibmaschine hervor, fragt nach Stichworten (er bekommt drei als Vorgabe) und bringt unter Tastenklackern einige Zeilen aufs Papier − eine Gabe an den Gastgeber.

Was ein schönes Geschenk. Und weit mehr als eine Geschichte aus drei Stichworten. Das Aroma des Essens, Gesprächsfetzen, bei Zeilentiger Gelesenes, all das duftet in den Zeilen wie der herbe, an gesunde Pferde erinnernde Geruch des Kardamoms. „Hel“, wie er so oder in leichten Variationen in Ivrit, Arabisch, Farsi, Dari, Paschtu heißt. Ein Geruch wie ein Wunder.

Plissken meets Marlowe meets Monk – Nathan Larsons Future Noir-Roman „2/14“

Über Brians Gesicht huschte ein Lächeln. „Sie sind der geborene Killer. Also, das wird mir jetzt klar. Das ist sehr traurig. Geisteskrankheiten sind immer traurig.“

cover_978-3-03734-654-9In der dystopischen Zukunft überlebt auch der hardboiled detective nur mithilfe eines Sets an systemerhaltenden Neurosen, ganz davon abgesehen, dass er inzwischen ein Killer ist. New York ist nach den (nicht näher erläuterten) Ereignissen von 2/14 am Arsch, und zwar gründlich. Die Metropole ist zu weiten Teilen entvölkert, die Wirtschaft zusammengebrochen oder von mafiösen Strukturen durchsetzt, die öffentliche Hand praktisch auf Armeeeinsätze geschrumpft, der moderne Gesellschaftsvertrag aufgehoben. Zwischen Hunger, Krankheit und dem allgegenwärtigen Geruch von brennendem Müll und Plastik ist sich der Mensch wieder des Menschen Wolf.

Und Dewey Decimal ist einer der gefährlichsten Wölfe in diesem postapokalyptischen Dschungel. Wenn er nicht schmutzige Jobs für den Bezirksstaatsanwalt ausführt, haust er in der verlassenen New York Public Library und strukturiert die Überreste eines Wissensschatzes einer vergangenen Epoche nach der Dewey-Dezimalklassifikation, daher sein Name. Seinen echten kennt er nämlich nicht mehr. Er weiß nur, dass er einmal Soldat war. „Übrigens war ich auch Ehemann und Vater. Glaub ich.“ Denn nichts ist mehr sicher und gewiss in dieser Welt, nicht einmal die eigenen Erinnerungen (implantiert?). Kein Wunder, dass so jemand einen zwanghaften Charakter entwickelt, zu Migräneattacken und Gedächtnisproblemen neigt, hochgradig neurotisch ist und an dissoziativen Störungen leidet.

Aber das hindert Dewey Decimal nicht daran, als Geheimwaffe des Bezirksstaatsanwaltes eingesetzt zu werden, und als dieser ihn auf einen ukrainischen Gangster ansetzt, macht sich der Killer in einem zerknitterten Anzug und mit einem üppigen Vorrat an Pillen, Einweghandschuhen und seinem Reinigungsspray Purell bewaffnet (Requisiten wichtiger noch als Trinkwasser oder Feuerwaffen) auf zu einer Großstadtodyssee, in der sich die Fronten beständig verändern und – natürlich – nichts ist, wie es scheint …

In seinem Romandebüt „2/14“ entwirft Nathan Larson eine stimmungsvolle dystopische Welt. Vieles an dieser Welt ist nur angerissen; wichtig ist die Kulisse, nicht die Stringenz eines Weltenentwurfs, doch diese Kulisse ist dermaßen dicht und bildstark beschrieben, dass einem als Vergleich zum Buch eher Filme einfallen anstelle anderer Bücher – Filme wie „Die Klapperschlange“ etwa oder „Bladerunner“ oder „Soylent Green“. Manche Szenen bestechen durch eine geradezu fiebrige Intensität – ein beeindruckender Beleg für das stilistische Vermögen des Debütanten. Etwas, das Larson nicht nur in seinen Beschreibungen, sondern auch in seinen knackigen, pointierten Dialogen unter Beweis stellt, wie man es bei einem Schüler der hardboiled novels erwarten darf.

Allerdings scheitert Larson daran, den Zug der Geschichte bis zum Ende durchzuhalten. Das Erstaunliche ist, dass der Autor den entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte selbst ganz offen thematisiert: „Dieses dumme alte Pulp-Klischee, das müdeste aller müden Klischees, kommt mir in den Sinn. […] Wenn man nicht weiterweiß, dann sucht man die Frau. Cherchez la femme.“ Versucht Larson hier seinen Plot durch Ironisierung zu retten? Besagte Entwicklung (und die dazu gehörige viel zu holzschnittartige Frauenfigur) bleibt nicht die einzige Schwäche. Was als stimmungsvolle, knallharte Geschichte mit Suchtpotential („2/14“ ist der erste Teil einer Trilogie um Dewey Decimal) beginnt, erschöpft sich in der zweiten Hälfte zu oft in Klischees: der hartgesottene Kämpfer, der sich auch frisch von der Kniescheiben-OP weiter durch die Stadt kämpft; der getriebene Ermittler, der im Laufe der Geschichte ungefähr so oft bewusstlos zusammenbricht wie die Figuren in Raymond Chandlers frühen Schreibversuchen; eine Story, die mehrmals auf einen Deus ex Machina-Effekt zurückgreifen muss; Handlungen, für die der Autor keine überzeugende Motivation liefern kann; und ein müder, unglaubwürdiger Moralkodex des Killers (S. 181, wer‘s genau wissen will). Aus dem Rückblick bleibt der Roman (wie so viele Versuche im Kielwasser eines Dashiell Hammetts oder Raymond Chandlers) doch nur wieder einmal zu sehr Geste und Topos.

Ganz ungerecht wäre es aber, über diese einzelnen Kritikpunkte hin zu vergessen, dass „2/14“ über weite Strecken ein verflucht packender, dichter, stilistisch hochsouveräner Zukunftsthriller ist. Freunde des Genres dürfen sich auf die Fortsetzung freuen.

Nathan Larson, 2/14. Ein Dewey-Decimal-Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Stumpf. Mit einem Nachwort von Thomas Wörtche. (Originaltitel: The Dewey Decimal System, 2011.) 255 Seiten, Broschur oder als E-Book.  Diaphanes, Zürich-Berlin 2014.

Mit einem Dank an crimenoir, dessen Buchbesprechung von „2/14“ mich auf den Roman aufmerksam gemacht hat.