„Unser dummer europäischer Kulturrelativismus ist eigentlich nur linksgewendeter Heidegger.“ Tischgespräche.
Da stehe ich beim Väterchen. Ein Reiterhelm treibt in den Wellen, kommt nicht voran, weil der Riemen in Geäst verhangen. Metallisch knarzt es, wo Kahne an Landungsbrücken liegen. Der Wind weht streng und frisch, als wäre es hier das Meer und nicht der Rhein. Wo ich stehe, hatten die Römer vor fast 2000 Jahren eine feste Brücke über den Fluss gebaut. Drüben leuchtet das Oktagon des „Pegelhauses“, einst das Fundament eines Tretradkrans, diesen Hamsterrädern bekannt von Abbildungen mittelalterlicher Großbaustellen. Wellen klatschen an das Ufer, flache Holländer schieben sich surrend stromaufwärts, stromabwärts. „Sulamaro“ – ist der Schiffsname ein Anklang an Indonesien, an die exotische Welt der niederländischen Kolonialvergangenheit? Somerset Maugham und Eric Ambler sehen mit mir dem Schiffe nach.
Nach zwei Tagen unter Kantianern ist mir nach Ausschreiten. Ich lasse den Uferstreifen mit seinen furchtbar schlechten Sprachwitzen hinter mir: „Schauen Sie mal R(h)ein“ oder „Koblenz & die Region Mittelrhein – immer ein guter ‚Diehl‘“ (wenn das Hotel wenigstens die Anführungszeichen weggelassen hätte). In Pfaffendorf überrascht mich die Bäckereiverkäuferin mit der Frage „Mögen Sie Zimt?“. Aber ja doch, und sie schiebt noch ein Zimtbrötchen in die Tüte. Eine Gasse führt auf ein Drehkreuz zu, dahinter wird der Weg zum Pfad, schlagartig ändert sich die Stimmung. Vom Rhein ist hier nichts mehr zu ahnen, ein Bach plätschert in einem lauschigen Tal, es fehlt nur noch das Mühlrad der Romantik. Doch der Straßenverkehr gleich hinter der Böschung beschwert den Flug der Fantasie.
Es geht also ein wenig hinauf, immer am sandigen Bach entlang. Mauern aus Schieferplatten stützen die Hänge. Manche Bäume kenne ich nicht. Der immer noch ungelesene Baumführer fällt mir ein, den ich doch eigens im letzten Jahr für solche Fragen erworben habe. Er liegt wohl in dem Bücherberg auf dem krummen Stuhl, den ich keinem Gast mehr zumuten will, vielleicht auch in dem Stapel dort im Regal neben der russischen Puschkin-Ausgabe, die ich überhaupt nicht lesen kann und nur der archaischen Bilder wegen einmal in einem Antiquariat erworben hatte.
Das militärische Sperrgebiet oben auf der Rheinhöhe liegt ganz friedlich im Sonnenschein, dann geht es durch „das schlimmste Schlammloch von Koblenz“, wie mir ein Radfahrer bestätigt. Auf der Wiese knallt es dann doch, noch ein Schuss, der Himmel ist plötzlich zugezogen. In Schleifen und Winkeln zieht sich der nasse Weg über der Stadt hinweg. Jeden Kilometer ändert sich das Gesicht des Waldes, das hält ihn interessant. Wanderer – nicht Spaziergänger, sondern Wandersleute – kommen mir immer wieder entgegen. Wie einsam erscheinen mir, in dieser Hinsicht, die württembergischen Wege!
Vom Lichten Kopf geht es dann steil nach Lahnstein hinab. Was sich mir von dort unten zeigt – gereihte Würfel und ein Fluss in seinem Gefängnis aus Kanalmauern –, ist reizlos. Der Weg schweift auf halber Höhe in einem weiten Schwung die Lahn aufwärts und fällt nach einem Halbbogen erneut ab, noch steiler als zuvor. Mountainbiker rutschen mit durchgedrückten Bremsen den Grat hinab mit seinen senkrecht stehenden Platten, als wäre unter einer Erdschicht der Rücken eines Stegosauriers nur schlecht getarnt.
Und noch einmal schwenkt der Weg in einem Bogen zurück. Südhangig schichtet sich der Fels in einer Palette aus Grau und Rost und Umbra, gefleckt von dem Gelb, Grün, Weiß der Flechten. Es ist ein Eidechsenreich, wie die Pfalz, wie die Hänge um Toledo, auch wenn ich die Reptilien noch nicht sehe.
Der dritte Abstieg wird der schönste, hinein in die Ruppertsklamm. Matschig ist der Saumpfad am Bachlauf, dann verschwindet der Weg ganz. Die Füße suchen Halt auf glitschigen Steinen, ein paar Mal helfen Drahtseile beim Abstieg über den Fels. Es ist beinahe Wildnis hier, das Plätschern stimmt heiter, wer mir entgegenkommt, lacht. Und ich habe Kant abgeworfen und trage nur noch ein paar Bücher im Rucksack und folge dem Wasser hinab zwischen den Wänden aus Sandstein und Schiefer. Und fließe.
Das Entsetzen liegt auf beiden Seiten, als ich meinen reservierten Platz in einem Abteil mit feiernden Techno-Freunden auf der Reise zu einem Festival finde. Rückzug in den Gang? Flucht in den digitalen Raum, hinter die Seiten eines Buches? Erst zögerlich, dann immer neugieriger suche ich das Gespräch. Eine Stunde und manche Anekdote später trinke ich von den in Wodka aufgelösten Eisbonbons und klatsche unter Johlen Hände ab, als die Raver den Zug verlassen. Beinahe hätten sie mich noch mitgenommen auf ihr Time Warp. Und wir alle haben wieder einmal menschlich gelernt in unserer Begegnung. Vielleicht war Kant da ja doch wieder unter uns.
Rheinsteig