Hohenlohisches Itinerar

Flimmern über den Gleisen. Reicher Sommer, und sei’s nur heute.

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LIMES steht auf dem Stein. Ich quere die unsichtbar gewordene Linie und betrete Barbarenlande. Über mir glüht die Sonne.

Die Stadtrandsiedlung ist neu, die zwei Reihen von Erdschüttungen an ihrem vorläufigen Ende schiere Blumenpracht: ein Paradies auf modernen Wällen.

An der baumbeschatteten Kreuzung eine Unsicherheit. Hunde bellen mich an. Ich schlage den falschen Weg ein, korrigiere mich nach einem Blick auf die Karte und mache kehrt. Die dicke Frau auf der Bank, an der ich eben noch fremd und schweigend vorüber bin, spreche ich nun an. „Da habe ich doch den falschen Weg genommen.“ Sie greift den Ball fröhlich auf: „Und das bei diesem Wetter!“ Große Traktoren, Mähmaschinen.

Unter der Autobahn hindurch. Das letzte Mal auf ihrer Fahrbahn über mir dürfte um 4 Uhr morgens nach einem langen Konzertabend in Nürnberg gewesen sein. Eine Band kündigte auf dem kleinen Progrockfestival einen Coversong von Kansas an und ich brüllte meine Begeisterung hinaus, als einziger im Saal. Die Rückfahrt eine Qual aus Müdigkeit und Winterregen, ich war sterbensmüde und wagte nur deswegen nicht, auf dem Beifahrersitz einzuschlafen, weil ich spürte, wie der Fahrer selbst mit seiner Müdigkeit kämpfte und kämpfte. Gemeinsam haben wir es geschafft.

Hinter der Unterführung Weinsbach, hübsch und beschaulich wie sein Name. Am Dorfende zwei Jungs vor mir, sie biegen ab zu einem Trampolin, werfen mir nur einen Seitenblick zu. Ich hätte sie gerne gegrüßt, aber zu rasch drehen sie dem Fremden wieder den Rücken zu. Auch der Mann an dem beschatteten Fischteich misst mich mit misstrauischem Blick. „Grüß Gott, falsch abgebogen“, sage ich und seine Hab-acht-Stellung wird zum Gönnertum: „Ja, das kommt vor.“

Nicht in die Allee mit den silbrighohen Bäumen hinein, sondern in einem Bogen den Hügel hinauf. Ein Moped überholt mich. Als ich die Kuppe erreiche, hat es bereits die folgende Höhe erklommen.

Gelbes Getreide (ich möchte gilbend schreiben, wie Lakritze es tut), goldenes Stroh, Baumreihen in den Tälern, im Blau des Himmels ein Raubvogel. Von den Kirschen am Wegesrand nasche ich eine, dann eine zweite nur und bete, der Besitzer möge die Früchte mit allem Ernst und aller Hingabe ernten und sie nicht etwa verkommen lassen, denn köstlicher als diese können Kirschen nicht sein.

Gehöfte, groß und steinern und einsam. So stehen ihre Namen auf der Karte: Haberhof, Göltenhof, Orbachshof. Dazwischen immer wieder ein Hungerberg. Gewellt ist das Land, ohne weite Sicht, hell und trocken und still. Provinz, ganz warm.

In der Senke eine Furt, klares Wasser strömt, erst auf den zweiten Blick sehe ich das Brücklein für Fußgänger zwischen den Büschen. Heu ausgestreut auf dem Weg hinauf auf den nächsten Hügel, der goldene Schnitt des Ackers führt direkt in den Himmel. An der Wegkreuzung ein Baum, eine Bank. Ein Auto irgendwo, kein Mensch zu sehen. Erhabenheit in kleinen Dimensionen, dem Menschen gerecht.

Die Mittagsstube des Hirschen ist voll besetzt. Der Duft von Sonntagsbraten und neugierige Blicke auf den schweißglänzenden Wanderer. An der Theke warte ich geduldig, ich zahle das alkoholfreie Weizen gleich, das Herbsthäuser schmeckt köstlich. Der Neunfingerwirt kommt aus der Küche, begrüßt Stammgäste, knüpft dann ein Gespräch mit mir an. Wenige gehen diesen Wanderweg, erzählt er in seinem westfränkischen Dialekt. Es ist halt doch nicht der, der … Er stockt, sucht nach einem Namen, als er nicht weiterkommt, helfe ich aus: „Der Jakobsweg.“ „Genau“, ruft der Wirt. „Und ich wollte schon sagen: Johannesweg! Das eine wie das andere.“

Im Tal dann eine neue Seite: Pfade durch den Auenwald. Fröhliches Kindergeschrei, ein Flüsschen, plantschende Menschen zwischen Bäumen.

Die Kupfer mündet in die Kocher, auch hier schwimmen Kinder im Gewässer. Eine Blaskapelle spielt auf der Uferwiese. Forchtenberg selbst, Geburtsort von Sophie Scholl, liegt im Mittagsschlaf, die Weinstube Winkler ist noch zu. Ich werde für sie einmal wiederkehren mit einem Freund aus der Region oder für den Freund wiederkehren zu ihr, irgendwann einmal.

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Diese Dorfbahnhöfe zwischen Einsamkeit, Flucht und Heimat. „Schön, dass du da warst.“ Und ein junger Mensch nickt unter seiner Sonnenbrille, packt seinen Rucksack und zieht wieder hinaus in die große Welt.

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Lemberg, Südhang

Ein zweifacher Sommer wärmt den winterdunklen Kopf: ein ostpreußischer im Rucksack, 140 Seiten lang, und ein württembergischer vor mir, ausgebreitet an diesem frühen Maientag, als gäbe es keinen schönern Ort auf dieser Welt.

Über den ‚tödlichen Männerschnupfen‘ lässt sich gut spotten, das sehe ich ein. Und doch ist‘s in seinen Wellentälern ja wirklich ein Elend – das ganze Vitalsystem wirkt wie fundamental erschüttert, alle Lebenssinnhaftigkeit ist hinterfragt, Hoffnung für die Zukunft ganz undenkbar. Krumm stöhnt einer in der Küche wie unter der Last des dreifachen Alters. Einer weint vielleicht bei Musik. Bitte, es ist doch nur eine Erkältung! Und trotzdem hasse ich diese zwei, drei Tage im Kalenderlauf, mehr noch, ich fürchte sie inzwischen mit jedem Jahr ein bisschen mehr – eine hübsche Regelmäßigkeit des Älterwerdens.

Andererseits macht man manchmal ja so Entdeckungen. Im eigenen Regal zum Beispiel. Du ziehst ein Buch heraus, das über Jahre hinweg nur bei Umzügen angetastet wurde, schlägst es auf, erwartest nichts – und bist verloren. Es ist ein Sommer an der kurischen Nehrung in den letzten Jahren des Kaiserreichs, wovon Eduard von Keyserling in seinen „Wellen“ erzählt. Von den Sorgen, Nöten und Hoffnungen der Strandgäste, gefangen in den Konventionen einer sterbenden Zeit, getrieben von ihren Leidenschaften und Ängsten. Da ist Doralice, die junge Gräfin mit dem schicksalshaften Mund, die ihren um vieles älteren Ehemann verlassen hat für den idealistischen Maler Hans. Dort, ein paar Häuser weiter, residiert unter der Führung der pragmatischen Generalin die Adelsfamilie, welche die Regelbrecherin Doralice halb fürchtet, halb verehrt und als Gemeinschaft daran fast zerbricht. Überall und nirgends der verwachsene Geheimrat Knosperius, ist er Außenseiter oder Puppenspieler? Die Fischerfamilien. Und natürlich das Meer.

Alles spielt an (oder in oder auf der) baltischen See, an jedem Tag, in beinahe jeder Szene beschreibt von Keyserling erneut und fast wie nebenbei das Meer – und kein Mal gleicht es sich. Das ist die hohe Kunst der Wahrnehmung der Impressionisten, empfänglich für die tausendfachen Eindrücke des Lichts, und es ist eine wahre Lust zu lesen. (Die pointierten Dialoge, die zu andauernden Unterstreichungen verlocken, unterschlage ich.) Und das ganz Erstaunliche ist: Dieser Eduard von Keyserling, eine etwas traurige, unstete Gestalt von nicht so recht zu beschönigender Hässlichkeit – darf man dem Porträt des Malers Lovis Corinth Glauben schenken –, dieser Eduard von Keyserling, Spross einer deutschbaltischen Adelsfamilie, diktiert, von der Syphilis gezeichnet und längst erblindet und bettlägrig, diese Geschichte – zeichnet so viele Spielarten des Lichts (und der menschlichen Regungen) aus der Finsternis seines Krankenlagers und seines sterbenden Körpers heraus.

Kaum ist der erste Schritt aus dem Aschetal gemacht, will ich tun, tun, tun. Ich fliehe hinaus aus der dunklen Wohnung, aus der Stadt. Die Menschen tragen sommerkurze Kleidung. Ich wage nicht, die Hemdsärmel umzukrempeln, und selbst durch den Schal hindurch frisst der Wind an meinem Hals. Trotzdem hinaus, hinaus! Das erste Gras ist eingeholt, der Schnitt leuchtet blassgrün, Böen fahren ungestüm durch grünes Getreide, Apfelblüten treiben über die Wege, die Hecken am Bachufer verdichten sich, Bäume gewinnen Fülle. (Es ist doch wenig Schöneres als diese Er-füllung eines gewaltigen Baumes.) Ich tauche über weiche Pfade in den Wald ein, langsam, sehr langsam steige ich die kleine Höhe hinauf und dann bin ich ganz unvorbereitet auf die Weite, die sich auftut.

Der Lemberg ist ein Zeugenberg, steht also dem Höhenzug, dem er einst zugehörte, wie ein Posten vorgerückt. Nichts versperrt den Blick. Im Osten sehe ich auf die Backnanger Bucht, weit hinten ragt der kaiserliche Hohenstaufen über die Hügel (die Burgen Teck und Hohenneuffen auf der Schwäbischen Alb hingegen sind im Dunst versteckt); der Korber Kopf markiert das Tal der Rems im Süden, dort der Württemberg mit seiner Grabkapelle, dann der Stuttgarter Kessel, gesäumt vom Asemwald, dieser Gigantomanie einer corbusierschen Architektur, von Fernsehturm und Birkenkopf (hier und hier), die Augen springen hinüber zum Ludwigsburger Wasserturm, weiter zum Hohenasperg – Zwilling des Lembergs auf der anderen Neckarseite – mit seinem jahrhundertealten Gefängnis, ruht schließlich im Westen, fast schon Nordwesten, auf der langen, bläulichen Flanke des Strombergs. In diesem Augenblick kommt es mir vor, als hätte ich nie einen schöneren Blick auf diese Region geworfen.

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Lemberg, Südhang

Ein paar Schritt weiter entdecke ich einen Biergarten und lasse dem Kräutertee aus der Thermoskanne spontan ein alkoholfreies Weizen folgen. (Weihenstephan, eine Enttäuschung für eine so berühmte Brauerei.) Die Wirtin der 7 Eichen – letztes Jahr haben hier ELO und Marillion gespielt, staune ich – klagt, ach ihr Kreislauf. „Mag jemand ein Freibier?“, fragt sie in die Warteschlange hinein. Das Fass ist leer, sie schafft es nicht allein, einer der Gäste folgt ihr hinüber in den Schuppen und schleppt den Nachschub herüber, darf es sogar selber anschließen. „Und dann noch der VfB“, seufzt die Wirtin weiter. „Ich will gar nicht wissen, wie es gerade steht. Das will ich erst wissen, wenn ich zuhause bin.“ Eine kluge Entscheidung, denn nach der 6:2-Niederlage gegen Bremen am Montag hat das Fußballteam auch sein Schicksalsspiel gegen Mainz verloren. Die 2. Liga winkt. Schockstarre im Club.

Ich aber bin dann noch bis Backnang gegangen. Die Sonne stand schon tief.

Novemberklein, erstes Drittel

Sie hat ein Tattoo hinterm Ohr und ich denke mir nur: Vampirbesitz.

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Wunderbarste Novemberstimmung. Das Licht der Laternen und Scheinwerfer von einem weichen, lockenden Gelb dank der Teppiche aus Laub und Nebelschwaden, die Luft tatenlustig frisch. Was fehlt, ist nur noch, in ein von tausend Kerzen erleuchtetes Herrenhaus am Hang geladen zu werden.

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Ein Stapel Amtsblätter vor der Tür (niemand liest sie), die Straße gesperrt für eine Baustelle, deren Niederkunft naht, Lockern des Schals im Ahnen von Sonne. Erste Schritte am Tag.

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Mittags Kaffeegespräch mit einem älteren griechischen Herrn. Nach 45 Jahren in Deutschland spricht er immer noch ein fürchterliches Deutsch, und in seiner gebrochenen Sprache erklärt er mir, weshalb die Griechen an ihrer Wirtschaftskrise voll und ganz selbst schuld seien und sich an Deutschland ein Vorbild nehmen sollten. Und ich frage mich: Ist der Mann nun integriert oder nicht?

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Hinter der Trikolore aus Blättern – Gelb, Grün, Rot in drei warmen Streifen – Menschen in Klettergurten. Baumbürger jenes Herbstlandes?

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„Das ist der Tigerpapa.“ Ich stutze über den unerwarteten Ehrentitel. Nachdem die Kinder bespaßt sind, überlasse ich sie wieder ihren Eltern und schreite in das Tal hinab, zwischen den Felsen hindurch, dem Gewässer nach. Forellen schwimmen in Licht. Die Klarheit der Ach ist – ach. Als sich die Türme des Zwiefaltener Münsters vor mir zeigen, biege ich links ab, die Serpentinen hoch, lasse Ziegen an meinen Händen schnuppern. Über Trampelpfade folge ich der Beschilderung, schließlich durch einen aufgelassen Garten hindurch, dann bin ich im Loretto. Für das Café am ökologischen Hofladen bin ich leider zu früh (verlockend reihen sich schon Brote und Gebäck), aber Moritz kann ich mich kurz in der Backstube vorstellen. Er bloggt in seiner Freizeit, fängt in Zweizeilern kraftvoll die Landschaft der Schwäbischen Alb ein. Moritz rollt Teig aus, ich störe, freue mich trotzdem, wieder einmal einen Menschen aus der Blogosphäre im leibhaftigen Leben getroffen zu haben.

Hinter dem Hof schlage ich einen Weg zwischen Buchen ein. Der Boden ist nichts als rotes Laub und Krähen krächzen laut, fordernd, gierig. Beinahe unheimlich ist dieser Novemberwald, träte ein Wesen fremder Art hinter einem Baum hervor, würde ich mich erschrecken, nicht wundern. Dann begreife ich das Kreischen der Vögel. Ein Luftkampf findet statt, Bussarde hart bedrängt von einem Krähenschwarm. Die Schlacht begleitet mich noch eine Weile.

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Pappardelle al filetto di manzo. Ein Traum in Nelke und Tomate.

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Gedicht, das ich im Vorbeigehen treffe, du gefällst mir. Ja doch, Walt Whitman würde sich freuen über diese Begegnung in der Straßenbahn.

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Das Fenster in Blau quert sie, dann hält sie unterm gelben Schein des nächsten, als wäre es hier wärmer für ihre dringlichen Worte am Ohr.

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Waldbier 2014: Schwarzkiefer. Eine leichte, grüne Flasche mit dem elegant schlichten Etikett eines Produkts, das weiß, was es wert ist. Die Flüssigkeit unter dem zarten Schaum in der Farbe von Bernstein und Baumpech, eine Note von Honig und Met in der Nase, von Harz auf der Zunge, bitter und süß umspült zugleich wie das wahre Leben. Ein kleines, starkes Bockbier aus „100% heimischen Rohstoffen“, gebraut in Österreich, weshalb das Bier Schwarzkieferzapfen aus den Bundesforsten des südlichen Wienerwaldes aufnehmen darf. Ein richtiges Genussbier, das seine Zeit verdient. Etwa zu einer Schallplattenseite von My Brightest Diamond.

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Gold – Eine Vermessung Oberschwabens (Teil 1)

Dass ich meine Wanderung durch Oberschwaben in einem ICE beginnen würde, überraschte mich selbst. So viel also zum Thema Entschleunigung. Die Realität war aus dem Zug hinausklimatisiert, vom Land da draußen gab es nur verschwommene Fernsehbilder durch die Fensterscheiben. Etwa dort, wo ich im Juni meine Flucht über die Schwäbische Alb abgeschlossen hatte, knüpfte ich im August meine fünftägige Durchquerung des schwäbischen Oberlandes an. Es würden die heißesten Tage des Jahres werden. Davon ließ der wolkige Morgen noch wenig ahnen.

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Sommer in Oberschwaben

Zwiefaltendorf, die „Idylle an Ach und Donau“. Ein Schloss steht an der Donaubrücke. Auf dem Turm des sehr aufgeräumten, hübschen Kirchareals nisten Störche, gegenüber „Im Gäßle“ plätschert ein Brunnen vor einem strahlend blau gestrichenen Häuschen. An der Front steht um das Gesicht unseres Gestirns geheimnisvoll die Parole „Die Wahrheit liegt im Sonnenaufgang“.

Die monströse Hupe eines Lastwagens reißt das Dorf aus seiner träumenden Beschaulichkeit. Der Transporter hat erschreckend große Schlachtschweine geladen, ein Pestschweif zieht sich hinterher. (Wer nur mag solche Tiere essen?) Als Motorengeräusch und Schweinegestank jenseits der Donau ersterben, setzt sich das Dorf wieder durch. Essensduft zieht vom Gasthaus – ist es das mit der Tropfsteinhöhle im Keller? – über die Straße, schon sitzen (anders als in den Albdörfern) Menschen auf der Terrasse in Vorfreude auf das Mittagsmahl. Die Bahnhofsstraße hinaus stehen schmucke, alte Häuser aus einer bürgerlichen, nicht bäuerlichen Welt. In den Getreidefeldern knackt es. Hinter dem schmalen, langen Gleis kommt Wind auf. Es raschelt im Gebüsch, in den jungen Kirschbäumen, im hohen Mais.

Über weite Schleifen führt der Weg zwischen Waldsaum und Getreidefelder hinein ins Oberland. Ein Vogel schlägt Alarm, ein Reh setzt in hohen Sprüngen aus dem Korn ins Unterholz. Einmal noch holt die Zivilisation den Wanderer auf rohe Weise ein. Die Lastwagen brausen über die Bundesstraße, die den Wald durchschneidet, oder sie reihen sich auf dem Parkplatz, wo Polizeibeamte eine Kontrolle durchführen. Dann hat einen der Wald wieder und wenn man schließlich heraustritt, dort den Bussen sieht – den heilige Berg Oberschwabens, auf weite Strecke gen Süden die markanteste Erhöhung –, da den flachen Schwung von Hügeln, das Blau der Wälder, das erdige Gold der Kornfelder, teils bereits geschnitten, warme Flächen, gänzlich reifer Sommer, hier Wiesen und grüner Mais, seine Spitzen hell, die Fäden rot, immer wieder Wegkreuze unter schattigen Bäumen … Dann hat man sich längst verliebt in diese Landschaft.

Oberhalb des Dorfes Möhringen mit seiner auffallenden St. Vitus-Kirche und dem Pfarrhaus mit seinen schön bemalten Fensterläden, deren Muster mich an antike Formen erinnern, geht es rückseitig über einen Schleichweg den Bussen hinauf. Die Fichten stehen hier locker genug, um grünwuchernden Untergrund zu erlauben, es ist keiner dieser leb- und klanglosen, dunklen Forste, wo du auf dem braunen Nadelteppich, karg bis vielleicht auf Knochen und kleine Schädelchen, die Luft anhalten möchtest, um kein namenloses Unheil zu wecken. Rasch wird der Wald noch lichter mit Eschen und anderen Laubbäumen, geradeaus zieht sich der Weg als herrlicher Trampelpfad, das Gras wächst teils schulterhoch, nur der Gedanke an Zecken trübt die unschuldige Freude ein wenig.

Die Wallfahrtskirche auf dem Hügel steht im Gerüst, zwei Handwerker beschallen den Platz mit einem österreichischen Popsender. Von der Sakralität des Ortes ist da wenig zu spüren, doch der Blick nach Süden ist offen und weit und reicht an klaren Tagen – über den Federsee, über Felder und Wälder, über Ketten von Höhenzügen – bis zu den Alpen. Über eine Breite von über 300 Kilometern, das demonstriert eine gewaltige Panoramatafel, zeigen sich dann die Gipfel der Alpen, von tief im Bayerischen im Osten bis ins Berner Oberland im Westen. Kein Wunder, dass sich auf dem Bussen – heute noch vielbesuchter Wallfahrtsort – Hinweise auf eine Kultstätte schon in keltischer Zeit finden lassen.

Im Dorf unterhalb der Kirche setze ich mich in einen Biergarten mit Fernblick und freue mich, ein alkoholfreies Weizen einer Brauerei zu finden, die ich bisher nicht kannte. Alkoholfreie Weizenbiere überzeugen ja nur selten im Geschmack, dann aber sind sie mir – erst recht an einem heißen Tag auf Wanderung – mein größter Favorit. Das Bier der Brauerei Farny aus Kisslegg wird mir am heiligen Bussen zur Offenbarung: Mühelos schlägt es die bisherigen Favoriten, leicht und herrlich frisch ist es, süffig und rein im Geschmack ohne den kleinsten Anklang an Moder, wie es viel zu viele alkoholfreie Weißbiere haben. Ich habe mein neues Lieblingsbier gefunden.

Die Kellnerinnen sind freundlich und offen, nicht alle anwesenden Schwaben aber können aus ihrer Haut. Belustigt lausche ich den zahlenden Damen am Nebentisch: „Die Pommes zahle ich aber nur zur Hälfte, die andere zahlt sie“. Der Ort jedenfalls profitiert von den vielen Besuchern. Der Biergarten ist gut besucht, an der Straße gibt es einen Antik-Laden, den ein Herr mit wallend weißem Bart betreibt, auch ein Backhaus kennt das Dorf. Hier in Offingen ist Leben.

Unterhalb des Bussens geht es über kaum geschwungenes Land, abwechslungsreich und offen, weiter zum Federsee. Längst brennt die Sonne herab. Traktoren wirbeln Staub über den Äckern auf. Das Getreide, das sie schneiden, und das Stroh, das gefällt auf dem Felde bleibt, spielen in den verschiedensten Tönungen von Gold: Hellgold, Ockergold, Kupfergold zeigt sich mir an diesem Tage … Auf einem Waldweg steht ein Reh. Noch hat es mich nicht wahrgenommen, ich komme näher und warte jeden Augenblick auf das Heben des Kopfes, das kurze Erstarren, das Schnellen des Leibes. Da ist es endlich soweit. Ein kurzes Stück später mache ich eine Rast, einen Apfel und ein gekochtes Ei lang. Wieder taucht das Reh vor mir auf, quert, wechselt zurück, kommt nochmals ein Stückchen weiter unten aus dem Unterholz, trollt vor mir den Weg entlang, bis es schließlich endgültig im Wald verschwindet.

Als ich an einer Wegkreuzung nicht weiter weiß und die Karte studiere, hält ein Traktor mit beladenem Hänger neben mir und der Fahrer – golden das Haar, goldbraun seine Haut – fragt mich gutmütig nach meinem Ziel, erklärt mir ausführlich den Weg. Ich bedanke mich, mache einen Scherz, falle dabei wie von selbst in meinen eigenen Dialekt. Wir lachen. Ja, der Bussen mit seiner alten Tradition von Pilgern und Besuchern und seinem lieblichen Umland öffnet seine Menschen. Mir gefällt es.

Die Landschaft verändert sich. All dies hier war einst Teil eines nacheiszeitlichen Sees, dessen letzter Rest der Federsee bildet mit seinem weiten Speckgürtel aus Sümpfen, Mooren und Feuchtwiesen. An manchen Stellen ist das Gras am Waldrand verdorrt, regelrecht versengt von der Sommersonne. Überquere ich diese Flecken, spüre ich die Glut aufsteigen – und einen würzigen, heuartigen Geruch, der mich beinahe berauscht. Dann wieder duften die Feuchtwälder. Licht flimmert zwischen den hellen Stämmen, mannshohe Brennnesseln flankieren den Pfad.

Hinter Moosburg beginnt der lange Steg durch das Banngebiet Staudacher hinüber nach Bad Buchau, jener einstigen winzigen, ja kleinsten Reichsstadt überhaupt, die im Alten Reich von ihrem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil profitiert hatte. Das Wurzelwerk eines gestürzten Baumes ragt in die Höhe, Schlick und Brackwasser sind zwischen dem Pflanzendickicht unter den Planken zu ahnen. Ein Kanal zieht sich durch das Schilfmeer, das in seinem Herzen den Rest des Federsees verbirgt, der mit knapp anderthalb Quadratkilometern nur noch einen Bruchteil seiner einstigen Größe darstellt (und trotzdem noch der zweitgrößte See in Baden-Württemberg ist).

Am Ortseingang biege ich ab zum Federseemuseum, wo schon steinzeitliche Menschen gesiedelt hatten, später Kelten sesshaft wurden. Zwischen den Hütten aus Neolithikum und Bronzezeit suche ich sie: teure Freunde aus Studienzeiten, durch Beruf und Familienleben in München und Ravensburg meinem Alltag entrückt, die als Archäologinnen und Archäologen im Augenblick aber hier im Museum arbeiten. Herzliche Umarmungen sind die Belohnung für die Wanderung, ich erhalte eine Vesper aus Ziegenkäse, Brot und Heidelbeeren – fast schon ein authentisches Mahl, scherze ich –, ich wiege Bronzeäxte, vergleiche an aufgereihter Wolle die Färbungen von Lindenblättern und Birkenrinde, trage abends tönerne Webgewichte in die Hütten und höre das Schmatzen der Holzwürmer im Gebälk der bronzezeitlichen Häuser. Der Zahn der Zeit, er nagt. Er frisst und frisst ohne Unterlass – an diesen Bauten, an unseren sozialen Beziehungen, an uns selbst. Doch heute ist alles Gold, Bronze, Licht.

Gold das Getreide, das gereihte Stroh auf den Äckern.
Bronze die Äxte am Federsee, die nackten Arme.
Licht der Himmel, der Blick übers Land, zu den Freunden.

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Zum Federsee

 

Bierguerilla

Die nächtliche Übergabe findet im dunklen Hinterhof statt. Der Botschafter der Bierguerilla hat keinen Bierschmuggler geschickt, sondern überbringt die Lieferung persönlich: ausgesuchte Biere aus regionalen Mikrobrauereien – ganz besonderer Stoff, an den so leicht nicht zu kommen ist. Ein paar Tipps zu Lagerung und Ausschank gibt es obendrauf, dazu sogar noch ein paar Einzelstücke anderer Biere – „die kriegst du so zum Kennenlernen“ –, dann verschwindet der Botschafter wieder in der Nacht. Die Nachbarn haben uns, höre ich später, aus dem Fenster beobachtet.

Es war längst wieder einmal an der Zeit für eine Veranstaltung an meinem ‚Fenster zum Hof‘. An ein Biryani (ein Reisgericht aus den Ländern rings um das Arabische Meer) mit den Fingern hatte ich zuerst gedacht. Dann kamen wir an einem Musikabend in der Küche – wir hörten Strawinskys „Le Sacre du printemps“ und Fugen von Bach – auf die Idee einer Bierverköstigung.

Am Ende stehen fünf Sorten von Ale aus (mehr oder weniger) regionalen Mikrobrauereien bereit. Ein Ale – als kurze Erklärung für diejenigen, die es (wie ich bis vor Kurzem) nicht einzuordnen wissen – ist ein mit obergärigen Hefen gebrautes, ursprünglich einmal hopfenfreies Bier, das klassischerweise in Großbritannien, aber auch etwa in den USA, in Australien oder Belgien gebraut wird. Über die amerikanische Tradition des craft beer, also handwerklich in kleineren Brauereien hergestelltes obergäriges Bier, erreichte das Ale vor wenigen Jahren auch Deutschland und bereichert das ehedem doch recht stromlinienförmig gewordene Angebot. Auch unter Einhaltung des deutschen Reinheitsgebotes kennzeichnet die hiesigen Ales klassischerweise eine erkennbar fruchtige Note. Verschiedene Hefen und Hopfensorten erlauben unterschiedlichste geschmackliche Anklänge – eine neue Dimension des Biergenusses.

Und entsprechend neugierig sind wir alle an einem Frühsommerabend, weit offen das Fenster zum Hof, Wetterleuchten am Himmel.

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Die Kandidaten

„Wirklich kühl und dunkel lagern“ steht auf dem Etikett des Braumeister Spezials der Cast-Brauerei, denn die Biere aus dem Stuttgarter Heusteigviertel sind nur ein paar Wochen haltbar. In dieser Saison hat Braumeister Daniel Bleicher ein leichtes, frisches Spring Ale vorgelegt. „Eine Duftnote von Holunder“, kommentiert ein Gast. „Ich schmecke Stachelbeere“, meint jemand. „Ananas“, ein dritter Eindruck. Fruchtig ist es definitiv, das Spring Ale mit seinen nur 3,2 % Alkoholgehalt läuft gut runter, aber viele Gäste vermissen doch eine gewisse Markanz. Doch wo viele Menschen, da sind auch viele Geschmäcker: Ein Freund, der kürzlich auf dem Braufest von Cast noch enttäuscht war von seinem Spring Ale, ist jetzt sehr angetan.

Noch frischer zeigt sich das zweite Bier, das Hopfenstopfer Citra Ale aus Bad Rappenau bei Heilbronn. Während die Mutterbrauerei Häffner einen sehr starken Lokalbezug hat, ist die 2008 gegründete Hopfenstopfer-Linie unter Liebhabern inzwischen bundesweit bekannt. Das Citra Ale ist als Single Hop Craft Beer ausgewiesen, es kommt also mit einer einzigen Hopfensorte aus, dem amerikanischen Citra-Hopfen, dafür finden sich in der Schütte gleich sieben verschiedene Malze. Der Name spricht für sich: Das Ale hat ein zitroniges Aroma, es ist ein ausgeprägt (und eher geradlinig) fruchtiges, deswegen nicht süßes, sehr frisches Bier. Ein richtiger ‚Durstlöscher‘! (Wenn man mal davon absieht, dass ich ein alkoholisches Getränk als „Durstlöscher“ grundsätzlich für verfehlt halte.)

Das Zacke ist wieder ein 0711-Heimspiel. Es wird von einem Freundeskreis aus dem Lehenviertel konzipiert und vertrieben, gebraut bei Cast im Nachbarviertel. Das (untergärige) Zacke Rotgold ist in einer Handvoll ausgesuchter Kneipen und Cafés in Stuttgart zu erhalten, das Zacke Pale Ale habe ich nun zum ersten Mal in der Hand. Schon die Flasche besticht: eine elegante „Granatenflasche“ mit gediegenem, leichten Layout auf dem Etikett. Und was das Äußere verspricht, hält auch der Inhalt. Als sehr rund empfinden viele Gäste das Pale Ale mit genau dem richtigen Grad an Bitterkeit. Nur dass das Bier überläuft und schier endlos Schaum ausstößt, verblüfft uns.

Wie schwierig es sein kann, Eindrücke und Geschmäcker in Worte zu fassen, zeigt die vierte Probe, ein Indian Pale Ale von Black Sheep, einem internationalen Braukollektiv aus Freiburg. Das IPA war ursprünglich in Großbritannien gebraut und beliebt bei den Kolonialtruppen in Indien. Damit das Bier die lange Reise und das heiße Klima übersteht, war ein höherer Alkoholgehalt nötig (in Indien sollte das Bier dann mit Wasser verdünnt werden), außerdem wurde es stark gehopft und damit bitterer. Ein Freund, der gerne Bier trinkt, bewertete sein erstes IPA kürzlich in Hamburg als „scheußlich“ bitter und Gästen nicht zumutbar. Ich bin also nervös. Ganz ohne Grund: Ob die Gäste es nun als „angenehm kräftig und am konventionellsten“ oder schon fast gegenteilig als „überraschend, sehr angenehm“ bezeichnen, „gut trinkbar“ resümieren sie alle. Die Hamburger Erfahrung ist widerlegt: Ein fruchtig-hopfiges IPA kann Gäste begeistern.

Zum Abschluss darf der Hopfenstopfer nochmals ran. Das Strong Ale mit seinem verführerischen Namen Dark Red Temptation ist mit seinen 9,0 % Alkoholgehalt ein Dessertbier, dunkel, stark, malzig, mit der Note von kräftigem, bitteren Karamell. Schokoladenkuchen hätte dazu gut gepasst. Den meisten ist es zu mächtig und aufdringlich im Geschmack. Weg ist der Vorrat trotzdem bald und einen Geheimtipp kann ich nicht mehr ausprobieren. Ein Strong Ale reift nämlich angeblich auch weit über sein Mindesthaltbarkeitsdatum hinaus, ich hätte für die Probe aufs Exempel eine Flasche irgendwo im Keller verstecken können. (Nachtrag: „Das ist voll mein Ding. Unglaublich lecker“, schreibt eben ein früh aufgebrochener Gast, dem ich eine Flasche mitgegeben habe.)

Nach Punkten hätte wohl das Zacke Pale Ale gewonnen, dicht gefolgt vom Black Sheep. Bestechende Bierqualität oder doch (auch) eine psychologische Erklärung? „Das ist reine Empathie, weil ihr den Brauer kennt“, analysiert jemand, denn einer der Zacke-Macher ist an dem Abend auch zu Gast gewesen.

„Vorsicht, da sind alkoholfreie drin“, wird eine späte Besucherin gewarnt, als sie an den Kühlschrank tritt. „Also erst das Etikett lesen.“ Es ist kurz nach Mitternacht und die Ausdauernden gönnen sich von ihrem Favoriten des Abends ein zweites Glas, eine zweite Flasche.

Als die Beatles-Schallplatten durch sind, dämmert der Morgen. Das Bier ist alle, nur eine Flasche Rotwein ist noch geöffnet worden. Die Vorräte waren gut bemessen, die Gäste glücklich. Draußen singen die Vögel den neuen Tag herbei.

Auf den Geschmack gekommen? Hier alle Links gesammelt.

– Die Bierguerilla „für besseres Bier an mehr Orten“ wird in Personalunion mit dem Gärtringer Geschäft sueffisant geführt. Wer aus dem Raum Stuttgart oder Schönbuch feine Biere und Limonaden schätzt, sollte sich unbedingt das Sortiment von Martin Dambach anschauen.
– Die Brauerei Cast und besonders das Zacke aus dem Lehenviertel wurde schon einmal auf Zeilentiger liest Kesselleben vorgestellt.
– Beim Hopfenstopfer war auch einmal Craft-beer.tv zu Besuch. Auf Youtube finden sich viele weitere Verkostungen und Brauereibesuche.
– Sehr angenehm und sympathisch der Webauftritt von Black Sheep aus Freiburg.

WG gesucht – Junge Literatur zur zwischen/miete in Stuttgart

„Zur Lesung? Einfach links zum Aufzug und dann in den 9. Stock“, erklärt der nette junge Mann, der sich mit Krücken in einem Stuhl vor dem Eingang fläzt. Oben werden wir in Empfang genommen, für einen Fünfer gibt es einen roten Stempel auf die Hand, dann geht es hinein in die WG des Max-Kade-Hauses. In der Küche des Wohnheims bekommt man ein Rothaus Tannenzäpfle und eine Butterbrezel (schwarzer Stempel, im Eintrittspreis inbegriffen), im Wohnzimmer sitzen ringsum Leute auf Stühlen, Hockern oder Kissen, die Autorin hat bereits hinter einem niedrigen Tisch mit Mikrofonen Platz genommen. Die Fenster stehen weit offen, in den Zimmern dampft es noch, draußen hat der Gewitterregen die Luft abgekühlt. Wann war ich das letzte Mal in einem Studentenwohnheim?

Das klassische Publikum des Stuttgarter Literaturhauses trägt – ob gerechtfertigterweise oder nicht – den Ruf eines silberhaarigen, pietistisch eingefärbten Bildungsbürgertums. Der Kultureinrichtung und Literaturlesungen neues Publikum zu erschließen, kann jedenfalls so oder so nicht verkehrt sein. Die Leiterin des Literaturhauses Stefanie Stegmann, die im Januar Florian Höllerers Nachfolge angetreten hatte, brachte ein in ihrer früheren Wirkungsstätte Freiburg bereits erprobtes Format mit nach Stuttgart: die „zwischen/miete“ – Lesungen jüngerer Autorinnen und Autoren in WGs.

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Bunt unterm Fernsehturm: „zwischen/miete“ in Stuttgart

Die zwanglosen Wohnzimmerlesungen eröffnet hatte im Frühjahr „Wie ich mir das Glück vorstelle“ von Martin Kordić. Im Juni folgte Verena Roßbacher, 1979 im österreichischen Vorarlberg geboren und in Berlin wohnhaft, mit ihrem Werk „Schwätzen und Schlachten“. Das ist irgendetwas zwischen Kriminalgeschichte, Weltroman und griechischem Mythos mit österreichischem Einschlag. Seine Schauplätze sind unter anderem Berlin sowie Meck-Pomm, „das müssen Sie nicht kennen“, der Handlungsmotor ein Mord, der noch gar nicht begangen wurde, und am Ende gibt es drei Hochzeiten (hoffentlich ironisch genug, um nicht reaktionär zu wirken). Die drei Ermittler, Berlinbewohner selbstverständlich, erweisen sich als Detektive der hysterischen Sorte, sie sind Hipster ohne Coolness, „softe Jungs, die im Notfall sogar stricken können“, wie Verena Roßbacher sie charakterisiert. Man ahnt, solche Ermittler treiben die Handlung eher durch Gequatsche voran, überhaupt ist das Buch eine einzige große Plauderei. (Durchsetzt, nebenbei, von einer kulturellen Bestandsaufnahme in Gestalt eines Klopapiers des Wissens, das – Wandkacheln aus dem iranischen Isfahan gleich – ein schier unendliches Muster aus Information transportiert, in unserem Fall mit allem, was ein 30 Something als Teil seiner kulturellen Identität wiedererkennt: von der Musik Philipp Glass‘ bis zu Asterix, den guten alten Heften natürlich.)

Am interessantesten an der Plauderei ist die Metaebene des Romans, auf der sich die Autorin und ihr Lektor Olaf über das Buch unterhalten: ein gewitzter Schlagabtausch, eines Waldorfs und Statlers würdig, und eine erzählerische Finesse, die an „Das Wetter vor 15 Jahren“ ihres Landsmannes Wolf Haas erinnert und mit knisternden Reminiszenzen an die Gegenwartskultur angereichert ist: Etwa bei dem Kaffeehaustreffen zwischen Autorin und Lektor, bei dem er einen Apfelstrudel bestellt und sich mit entschlossenen Gesten Strudelstücke mit Schlagsahne in den Mund schiebt, und man unweigerlich in diesem Augenblick das Gesicht von Christoph Waltz aus „Inglorious Basterds“ vor sich sieht.

Auf 630 Seiten läuft sich das Gequatsche allerdings doch irgendwann tot. Da helfen dann auch eingängige Parolen wie „Österreich ist eine Krise“ oder „Das Plumplori schläft nie“ nicht. Immerhin, so muss man doch sagen, tut Verena Roßbachers Lust am Schwätzen dem Abend gut. Die Moderation ist zögerlich, die Autorin aber zur Stelle und sie wickelt die Lesung souverän im Alleingang ab, beantwortet dankenswerterweise Fragen, die gar nicht gestellt wurden, und drängt, bevor ein peinliches Stocken aufkommen könnte, zum nächsten Kapitel, das sie mit sexy rauer Stimme vorträgt. Interessant war der Abend allemal.

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Hinterhoflesung im Osten

Und so geht es am 2. Juli zur nächsten „zwischen/miete“ in einer 2er-WG im Stuttgarter Osten. Eine doppelflügelige Holztür öffnet die Wohnung zum schmalen Hinterhof hin. Kleine Lampions hängen über dem Eingang, Kästen mit Tannenzäpfle stapeln sich neben der Tür, ein einladender Ort. Das Wohnzimmer – Halbparterre zur Straße hin – ist bereits besetzt von jungen Menschen, auch in der Küche stehen sie, doch draußen gibt es nach einem Gang zur WG-Toilette (spätestens jetzt als Fremder an dem intimen Ort fühlt es sich irritierend mehr nach Party als nach einer Lesung aus dem Literaturhausprogramm an) noch ein paar Stühle. Dort sitzt schon P., bereits zufälliger Sitznachbar auf der zweiten „zwischen/miete“ und erprobter Lesungsbesucher. Ein paar Leute teilen sich Pizza aus einer Familienschachtel und „hoppla“ sagt der stämmige weißhaarige Mann aus dem Nachbarhaus, als er ums Eck biegt und unvermutet zwischen unsere Klappstühle gerät.

Die Stimmung ist eine ganz andere als bei der vorherigen Lesung. Dorothee Elmiger ist mit ihrem Roman „Schlafgänger“ aus der Schweiz angereist. Das Buch erweist sich als ein Kaleidoskop flüchtiger Existenzen und Momente, der Tonfall ist lakonisch und entrückt wie ein Traum, das Erlebte entgleitet seinen Erzählern. Die sanfte Stimme Dorothee Elmigers mit dem Schweizer Anklang in ihrem Lesehochdeutsch trägt den Text perfekt. „Und ich hob, heiter fast“ und das ist ganz wichtig, dieses „fast“, denn die Dinge sind wie weggerückt, schlafwandlerisch.

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Das Sofa schon besetzt? Kein Problem, ein Lautsprecher ist zur Stelle.

Der sommerliche Wind umweht einen draußen auf den Hofstühlen, er raschelt durchs Gebüsch, gedämpft brummen die Autos hinter den hohen Ziegelwänden, eine Kirchglocke schlägt an, ein einzelner Schlag nur, gegenüber das Klackern eines Topfdeckels durch eine offene Balkontür herab, Murmeln irgendwo, Gläserklingen und diese behutsame Stimme aus dem Wohnzimmer und sie trägt einen fort und fort … Und doch ist „Schlafgänger“, das darf auf keinen Fall unterschlagen werden, ganz und gar kein eskapistisches Traummärchen, sondern ein Roman über Migration, Verortung und Verteilung.

„Erstaunlich, dass es kaum eine Überschneidung gibt zwischen dem Publikum im Literaturhaus und dem der zwischen/miete“, konstatiert P., der bisher alle drei Veranstaltungen aus der Reihe besucht hat. Und es ist wahr: Mit wem man hier (außer P.) ins Gespräch kommt, ist vielleicht ein junger Mann, der frisch vom Studium entlassen, etwas „mit Medien“ in Hamburg macht und zu seiner Freundin in Stuttgart pendelt, oder ein Mädchen, das bald in Tübingen ihr Studium beginnen wird, Volkswirtschaft und Kulturwissenschaften, versteht sich. Ob sie alle der Literatur wegen kommen – oder nicht doch eher, weil hier etwas geht, weil da was los ist nebenan mit Menschen und einer Flasche Bier? Vielleicht ist das ja auch ganz egal!

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Buch und Bier – die zwischen/miete für junge Literatur

Im Oktober geht es jedenfalls weiter mit der vierten Stuttgarter „zwischen/miete“. Vanessa F. Fogel wird aus „Hertzmann’s Coffee“ lesen. Und ich wünsche mir fast, noch in einer WG zu leben.

Hier gibt es mehr zur zwischen/miete in Stuttgart.

Und diese Romane wurden gelesen:

Verena Roßbacher, Schwätzen und Schlachten. Roman. Kiepenheuer & Witsch. Gebunden, 640 Seiten. Köln 2014.

Dorothee Elmiger, Schlafgänger. Roman. Dumont. Gebunden, 142 Seiten. Köln 2014.

Schmollmund und Tattoo im Markt am Vogelsang

Ich steige zum ersten Mal an der Haltestelle Stuttgart-Vogelsang aus und bin sofort für den Stadtteil eingenommen durch den Anblick jener eleganten jungen Frau in Rot, die vor mir die Stadtbahn verlässt. Augenblicklich klemmt sie sich eine Zigarette zwischen den arroganten Schwung ihrer Lippen, ich skaliere ein wenig nach unten und bin dann überrascht, dass sie wie ich den Weg zur Markthalle am Vogelsang einschlägt.

Die berühmte Bauernmarkthalle im ehemaligen Straßenbahndepot gibt es nicht mehr, für sie komme ich zu spät. Seit 2010 können Biowaren dafür im Neubau erworben werden, dem „Markt am Vogelsang“ − einer Art Öko-Mall im Stuttgarter Westen, Halbhöhenlage.

Die Galerie mit Holzgeländer teilt sich das Restaurant Lässig mit einer Verkaufsfiliale des Waschbär-Versands (Mini-Bär für die Kleinsten inklusive). Eigentlich suche ich nach Handtüchern aus Bio-Baumwolle, sie gibt es nicht in der Auslage. Die Hemden und Lederhalbschuhe sind zwar auch verlockend (sie sind es immer) und dazu gerade im Angebot, aber für einen „Ich kaufe aus Spaß und nicht weil ich es brauche“-Einkauf mir doch immer noch zu kostspielig.

Also geht es wieder hinab ins Erdgeschoss, nach rechts und dann katapultiert sich ein Geschäft aus dem Nichts unter die Top drei der Stuttgarter Buchhandlungen. Buch + Spiel. Edition tertium hat eine Menge Spielwaren, etwa ein Drittel der Fläche ist für Bücher reserviert: ein ganz ausgezeichnetes, spürbar handverlesenes Sortiment, das auch und gerade Titel aus unabhängigen Verlagen umfasst.

Bevor ich mich mit hemmungslosen Bucheinkäufen unglücklich mache, rette ich mich hinüber ins Café De Luca − einer Theke mit Backwaren der Eselsmühle (einer Demeter-Holzofenbäckerei im nahen Siebenmühlental) und ein paar soliden Tischen. Der Bobbes ist leider zu trocken, das geht auch anders, und der Kaffee ist aus einem „Knöpfchen-drück-mich“-Vollautomaten und damit (ja, ich weiß, ich wiederhole mich) per definitionem nicht genießbar, aber der über und über tätowierte Kellner ist von ganz perfekter Aufmerksamkeit.

IMAG0588Ein Kaffee im De Luca

Ich knabber an meinem Eselchen und schaue mich um. Draußen wehen Demeterfahnen jenseits der winterlich verwaisten Terrasse mit den Olivenbäumchen und den Markisen von Neumarkter Lammsbräu, der einzigen Brauerei neben Erdinger im Übrigen, der es gelingt, ein köstliches alkoholfreies Hefeweizen zu brauen. Drinnen neben Buch + Spiel der Marktladen, der nicht nur im Namen etwas an den Marktladen in Tübingen erinnert, dem angenehmsten mir bekannten Bioladen, da ihm das Kunststück gelingt, das reichhaltige Angebot eines Biosupermarktes zu führen, ohne als solcher zu wirken. (Und selbstredend auch nichts mehr zu tun hat mit den graugesichtigen, penetrant riechenden Bioläden aus alter Zeit …)

Unter Carnivoren und Flexitarieren ist Boeuf de Hohenlohe hipp. Das Fleisch des Hohenloher Weiderinds gibt es neben anderen Bio-Delikatessen wie vom Schwäbisch-Hällischen Landschwein bei der Bäuerlichen Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall neben dem Marktladen. Das Demeter-Weinsortiment mit Kochbüchern schließlich, in verschwenderischer Raumnutzung, schließt den Reigen ab. Wie die alte Bauernmarkthalle wohl war? Bio war sie auch, aber an einen quirligen Gemüsemarkt auf hartem Depotbeton erinnert hier nichts. Es ist alles sehr adrett und hübsch mit Wohlfühl-Biosiegel. Einer jener Stuttgarter Orte, wo ökologisches Gewissen und die Freiheit vor alltäglichen Geldsorgen eine Ehe eingehen und die Illusion einer schöneren und besseren Welt zaubern.

Als die Stimmung im Café zu betulich wird, steuert der knackige, tätowierte Kellner mit Reggaemusik dagegen. „Ja, wir haben Montag bis Samstag geöffnet“, antwortet er mit entzückendem Akzent. „Heute aber nur bis 18 Uhr. Wir haben Betriebsfeier später, alle zusammen − bis morgen Früh …“

Die Rote habe ich übrigens nicht mehr gesehen. Vielleicht war sie ja doch nicht in die Markthalle gegangen.

Markt am Vogelsang, Stuttgart-West

Ein Stern im Süden – Zacke: „Das Bier aus Stuttgarts schönstem Flecken“

„Alter, allerletztes“, knallt der Mann den Plastikbecher mit dem schwarzen Aufkleber („Zacke“ mit Sternchen) auf den Tresen. Es ist langer Samstag im Lehen, die Sterne des Südens – so nennen sich die Geschäfte, Unternehmen, Institutionen und Selbstständige hier vor Ort – präsentieren sich wieder in einem von Stuttgarts reizvollsten Stadtvierteln.

In einem der Hinterhöfe der Gründerzeitzeilen wird zwischen einem kleinen Flohmarkt das Zacke ausgeschenkt – ein außergewöhnliches Bier mit Lokalcharakter, der Braugang zu bescheidenen 120 Litern („ein Witz“, meint einer der Verantwortlichen, eine Rarität jedenfalls schon beim Abfüllen), heute erst zum dritten Mal von den Machern aus dem Viertel ausgeschenkt, zum ersten Mal überhaupt aus dem Fass. Ein Bier, zum Spaß geschaffen und jetzt schon mit so etwas wie Kultstatus in Stuttgart. Nachdem die Presse wenige Tage vorher über das Zacke-Bier berichtet hatte, kommen heute manche Leute aus den Nachbarvierteln, ja aus Vaihingen nur des Bieres wegen zum langen Lehensamstag.

IMG_0742Das „Zacke“ lockt!

Wie kommt man darauf, sein eigenes Bier zu machen? „Wir sind sechs Jungs und trinken gerne Bier, alle bis auf Oli, finden das Stuttgarter Bier aber scheiße.“ („Das Zacke trinke ich aber auch“, wirft Oliver dazwischen.) Und dann wurde das „Zacke“ 2012 als Weihnachtsaktion ins Leben gerufen. Jeder der Sechs aus dem Lehen (die im Alltag alle einem ganz anderen Beruf nachgehen) brachte seine Kompetenzen ein, sie kauften selbst das Malz und alle anderen Zutaten, besorgten sich unter Mühen die auffälligen, langhalsigen Flaschen („Handgranaten“), entwarfen das Etikett – mit seiner ganz eigenen Botschaft über das Bier, das Lehen und das Leben – und beklebten die Flaschen gemeinsam in Olivers Werkstatt.

Gebraut wird das Zacke in der Cast-Brauerei im Heusteigviertel, einer jungen, kleinen Biermanufaktur mit dem Mut zum Neuen und Besonderen. Das Zacke-Bier lagert doppelt so lange wie Industriebier, verträgt schlecht Temperaturschwankungen und ist deutlich weniger lang haltbar – eben ein echtes Naturprodukt ohne untergeschmuggelte Stabilisatoren.

„Wie haben Sie sich auf den Geschmack geeinigt?“, fragt eine Besucherin. Das war bei sechs Leuten anfangs tatsächlich nicht einfach, erläutert Marcus hinter dem Tresen. Als Vorbild wurde schließlich eine kleine Albbrauerei gefunden – „aber unseres wurde besser“. Das Zacke wird in zwei Sorten gebraut: das Lehenviertel Rotgold, malzig, auf eine frische Weise vollmundig, untergärig, und das Lehenviertel Pale Ale, hopfig, obergärig, fruchtig.

Viele Menschen lockt das Zacke in den Hinterhof, viele Gespräche stiftet es und nebenbei hat man die Gelegenheit, beim „Kultmacher – Antikes und Eigenwilliges“ hinter die Kulissen zu schauen: nicht nur in die Ausstellungsräume mit restaurierten edlen oder ausgefallenen Möbeln, sondern auch in die weiträumige Werkstatt dahinter.

IMG_0739Beim „Kultmacher“

Und schmeckt das Rotgold? „Man gewöhnt sich daran“, lacht eine Frau.
„Ein schönes Sommerbier“, sagt ein Gast.
„Bier von hier“, wirbt Marcus.
Ein distinguierter Herr kommt zwischen zwei Einladungen, um das Bier zu kosten – „nur einen Schnitt, ich habe nur eine kleine Pause“.
„Die beste Pause, die Sie je hatten!“, ruft Marcus und schenkt ein. Der Herr kostet mit Kennermiene und nickt zufrieden, bevor er zu seiner nächsten Verabredung zieht.
Ein Vater mit kleinen Kindern kramt die letzten Münzen aus der Tasche, um zwei Flaschen mitzunehmen, und ein englischsprachiger Besucher erkundigt sich hoffnungsvoll, wo das Bier zu beziehen ist – eine Frage, die immer wieder zu hören ist.

Ausgeschenkt wird das Zacke im Lehenviertel in der Gaststätte „Lehen“, im „Café List“, der Trattoria „Franca & Franco“, über das Viertel hinaus auch im „Aussichtsreich“ und im „Lichtblick“ – ein Testversuch mit eindeutigem Ergebnis: Das Bier wird begeistert angenommen und die Flaschen aus einem Braugang sind rasch ausverkauft. Zwei, drei Kästen werden noch im Zeitungsgeschäft „Schlagzeile“ beiseite gestellt, wer also schnell genug ist und sich den Kasten leisten will (günstig ist ein solches Bier natürlich nicht, die Zacke-Macher verdienen daran trotzdem praktisch nichts), kann hier also fündig werden. In der „Schlagzeile“ werden übrigens auch einzelne Zacke-Pfandflaschen zurückgenommen. Und die Zacke-T-Shirts finden inzwischen auch schon guten Absatz.

IMG_0740Drei der Zacke-Macher

Das Fass geht zur Neige, Marcus ruft zwischen Ausschank, Zigarette und vielen Fragen von Besuchern seine Zacke-Mitstreiter an. Endlich, Michael und Winfried bringen ein neues Fass, das Rotgold fließt wieder, der Ausschank kann weitergehen.

Abends gibt es dann ein Zacke-Bier-Release im Nebenzimmer des „Lehen“ – ein einzelnes, einmaliges Fässchen. Das auf Plakaten angekündigte Geheimbier entpuppt sich als ein Weizendoppelbock, sehr hochgehopft und stark mit 6,8 %. Bitter trifft es die Zunge und wird mit jedem Schluck fruchtiger. Und ist sehr gehaltvoll, wirklich ein Bier wie eine Mahlzeit.

„Es macht Spaß und ist eine schöne Viertelaktion“, resümieren die Zacke-Macher. Hoffentlich macht es noch lange weiter Spaß. Dass derzeit eine Website fürs Zacke aufgebaut wird, lässt jedenfalls auf einige weitere Braugänge hoffen. Und eine schöne Viertelaktion ist es tatsächlich. Gästen werde ich jedenfalls in Zukunft Bier im heimischen Lehen anbieten. Nur eines gibt es zu beanstanden: Dass ich auf meine Bekanntschaft mit dem Zacke-Pale Ale noch warten muss.

Das Zacke-Bier im Internet (Teaser, Seite im Aufbau)

Die Cast-Brauerei im Internet

Blaubier und kalte Platte – Das Haus des Dokumentarfilms

Am Büfett gibt es Schnittchen mit veganer Leberwurst und Blaubier aus anonymisierten Flaschen. Wer den jeweiligen Inhalt richtig errät, erhält ein zweites Bier kostenlos. „Wulle! So schlonzig wie es ist.“ Aber nein, in dieser Flasche war norddeutsches Astra – verschärfte Bedingungen, denn wer erwartet so etwas in Schwaben.

Im Haus des Dokumentarfilms an der Stuttgarter Karlshöhe startete dieses Frühjahr die Reihe „YoungDOK“ – um dokumentarischen Filmemachern die Möglichkeit zu geben, ihre Produktionen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Organisiert von einer sehr rührigen Filmstudentin (Nordlicht wie das tückische Astra), lief im Mai als zweiter Film der Reihe „Die kalte Platte“, eine Doku über die Geschichte des Kleinen Schloßplatzes – einem über Jahrzehnte hinweg umstrittenen Stück Stuttgarter Innenstadt. Hervorgegangen war der Film als Studienprojekt von Chi-Hun Whang, Cem Kaya und Guido Negenborn an der Merz Akademie. Es war die erste intensive Beschäftigung der drei mit dem Dokumentarfilm. Entsprechend unbelastet näherten sich die Studenten ihrem „Protagonisten“ mit einem sehr spielerischen, erfrischenden Zugang.

Der Film rollt die Geschichte des Kleinen Schloßplatzes von seiner Eröffnung 1969 bis 2002 auf – ein Paradestück zeitgenössischer Stadtarchitektur und Unort zugleich: von der „autogerechten Stadt“ der 60er-Jahre (Bürger wurden damals offenbar als Autofahrer definiert); die verzweifelten Versuche, die „Kalte Platte“ zu beleben; die Ansiedlung „dysfunktionaler Gruppen“ (so ein Philosoph im Filminterview), die sich in der Presse in Schlagzeilen wie „Ist hier allmählich Klein-Chikago?“ niederschlug; der Umbau in die beliebte Freitreppe als Wahrzeichen Stuttgarts; die Jahrtausendwende mit der „Gaskammer“, als eine Bahn des Tunnels unterm Schloßplatz für Skater freigegeben wurde – eingeklemmt zwischen der abgasgeschwängerten Parallelspur und dem Straßenstrich; bis hin zum Bau des „Kubus“ – und dem politischen Nachbeben, das der Film für das Kunstmuseum auslöste.

IMAG0124Das rätselhafte Getränk

Zehn Jahre nach seiner Fertigstellung stellte sich Filmemacher Guido Nebenborn nach der Vorführung den Fragen des Publikums. Das Haus des Dokumentarfilms will ein „angstfreies Forum“ bieten, betonte die Geschäftsführerin zur Eröffnung, und das verwirklichte sich doch recht gut zwischen den Sitzreihen im knalligen 70er-Jahre-Orange. „Weist der Film über Stuttgart hinaus?“, fragte der sympathische Diskussionsleiter vom SWR. Erstaunlich, wie viele Deutungen der Film zulässt.

Und nebenbei ergaben sich unerwartete Gespräche: von ägyptischer Musik und der sozialen Stratifikation der Hörerschaften von Hassan el Asmar und Amr Diab über autobiographische Erzählungen aus der Schloßplatz-Szene der 80er-Jahre (wilde Fluchten vor rivalisierenden Punks inklusive) bis hin zum Hocharabisch der libanesischen Hisbollah-Geistlichkeit.

Ein spannender Abend in einem ganz angstfreien Forum.

Am 4. Juli geht es weiter mit YoungDOK im Haus des Dokumentarfilms. Der Eintritt ist frei.

Haus des Dokumentarfilms – Europäisches Medienforum Stuttgart
Mörikestraße 19 – 70178 Stuttgart

„Die kalte Platte“. Ein Film von Chi-Hun Whang, Cem Kaya & Guido Negenborn.
© 2003 KATO, Schwabentuerke, Cpt. Mono’s.