„Jetzt lernst du Gott kennen“ – Das lange Schweigen nach dem Drogenthriller „Sicario“

Die Entführten sind längst tot und verwesen unter Plastikfolien, als das FBI das Haus in einer Vorstadt Arizonas stürmt. Warum diese Menschen aus Mexiko, aus Lateinamerika, sterben mussten, wird nicht restlos klar, und das ist symptomatisch für ein ungeheuer komplexes Geflecht aus Verbrechen und Not entlang des Grenzwalls zwischen den USA und Mexiko: Schleuserbanden, Massenimmigration, Erpressung und Entführung, Waffenschmuggel, offene und verheimlichte staatliche Gewalt und nicht zuletzt der Drogenkrieg, der Mexiko seit Jahren in einem kriegsähnlichen Zustand hält. Und es liegt in der Logik des Drogenthrillers „Sicario“ (spanisch für Auftragskiller), denn die Einsatzleiterin Kate Macer (Emily Blunt) wird abgezogen zu einem Team unter der Leitung zweier Regierungsbeauftragter, die die Hintermänner des Verbrechens ins Visier nehmen wollen.

Der Auftrag ist nicht das, was Macer erwartet hatte. Von Anfang an kämpft die FBI-Agentin gegen einen ungreifbaren Gegner aus Fehlinformationen und Schweigen an. Der CIA-Mann Matt Graver (burschikos und ein homo homini lupus Josh Brolin) und sein Mitarbeiter Alejandro Gillick, ein ehemaliger kolumbianischer Staatsanwalt (undurchsichtig und vielschichtig Benicio del Toro in hellem Sakko und mit tiefen Augenringen) halten Macer immer wieder im Unklaren über ihre Ziele und Motive. Bereits der erste Einsatz ist nicht, wie Macer gegenüber angedeutet, eine Besprechung in El Paso, sondern führt ein Einsatz-Team über die Grenze nach Ciudad Juárez (eindrücklich, wenn auch nicht frei von Klischees als Hölle inszeniert), um dort ein Kartellmitglied auszulösen und in die USA zu überführen. Auf dem Rückweg kommt es zu einem Feuergefecht. US-amerikanische Staatsbürger töten, vollkommen rechtswidrig, auf mexikanischem Territorium, und keine Zeitung wird darüber Anklage erheben, keine Behörde eine Akte über das anlegen, was wirklich passiert ist. (Der Einsatz ist übrigens eine absolute cineastische Glanzleistung, wunderbar choreographiert – allein dem Weg der Fahrzeugkolonne durch die Stadt zu folgen, lohnt den Kinobesuch – und atemraubend spannend.)

Immer tiefer verstrickt sich Kate Macer in dieses Geflecht aus Lügen und rechtswidrigen Einsätzen, in dem die CIA in einer unheiligen Allianz die Macht der mexikanischen Kartelle zu brechen versucht. Die Handlungsfreiheit der FBI-Agentin schränkt sich mit der zunehmenden Bloßlegung dieser schmutzigen Politik eines „Der Zweck heiligt die Mittel“ immer weiter ein und drängt sie in eine passive Rolle (was keine Schwäche des Drehbuchs ist, erst recht nicht eine der schauspielerischen Leistung von Emily Blunt, sondern ein Gradmesser, wie sehr sich die Figur immer weiter von einer Welt entfernt, die sich an gesellschaftlich ausverhandelten Regeln von Recht und Transparenz orientiert), bis hin zu dem Augenblick, als Alejandro in den Mittelpunkt des Filmes rückt und in einer erschütternden Szene („Jetzt lernst du Gott kennen“) seine Epiphanie als Auftragskiller erlebt.

Zu den dramaturgischen Stärken „Sicarios“ gehören die souveränen Tempowechsel. Der Film gestattet sich über weite Teile eine ganz überraschende Ruhe und Langsamkeit, die ihm sehr zugute kommt, und ist zugleich ungeheuer dicht und packend. Eine gewisse Schwäche mag das Drehbuch (Taylor Sheridan) dort haben, wo Fragen offen oder Figuren beziehungslos bleiben. Biographische Orientierung wird nur angedeutet, wo es absolut notwendig ist. Psychologisch kann damit nur aus dem Augenblick und nicht aus einem gewachsenen Leben heraus gearbeitet werden, aber das passt zu im Dämmerlicht von Geheimakten und Schmugglertunneln operierenden, entwurzelten Spezialisten und wird wettgemacht durch das Mienenspiel der Schauspieler: die Erschütterung und das Ringen von Emily Blunt, das Taktieren aus Lüge und roher Entschlossenheit von Josh Brolin, dem traumatisierten Strudel aus Verletzlichkeit, Sanftmut und Psychopathie von Benicio del Toro.

Wummernde Bässe (Musik: Jóhann Jóhannsson) – man weiß es nicht: ist es das adrenalingetriebene Pochen des Blutes in den Ohren, ist es ein zur Unkenntlichkeit gesteigerter Sound aus Ghetto-Blastern? – unterstreichen das eindrückliche Bildwerk des Kameramanns Roger Deakins. Zu den schönsten Bildern gehört, wo der Mensch in einen weiteren, unendlich weiten Kontext gestellt wird. Die Landschaft in „Sicario“ ist Schrecklichkeit und Majestät zugleich, unter ihrem zeitlosen Himmel führen die Menschen ihr Leben aus Leiden und Krieg; sie kennen nur noch den Schrecken, nicht mehr des Himmels Herrlichkeit: Wo Wetterleuchten den stahlblauen Horizont über der Wüste elektrisiert, beobachten die amerikanischen Grenzschützer nachts die Leuchtgeschossspuren der Bandenkämpfe in Juárez. Und in einem Abendrot, das die Kraft besitzt, einen längst ab- und aufgegebenen Glauben wiederzufinden, steigen Elitesoldaten in die Schwärze der Nacht hinab mit Infrarot- und Wärmesichtgeräten, die ihre Gegner zu Silhouetten herunterrechnen, die es zu töten gilt.

In seiner Aussichtslosigkeit und Eindrücklichkeit erinnert „Sicario“ als Thriller um den Drogenkrieg an „Traffic“. Gleichzeitig schafft der kanadische Regisseur Denis Villeneuve mit eigener Handschrift einen der packendsten Thriller der jüngeren Zeit, der gerade dadurch seine Größe erhält, weil er der Ruhe ihren weiten Raum lässt statt sich in einem Feuerwerk aus Action und Grausamkeit zu verlieren.

Und dann verlässt du das Kino mit einer Gänsehaut und schweigend gehst du nebeneinander her. Menschen lachen in den Straßen. Sie leben in einer anderen Welt.

„Sicario“. Regie: Denis Villeneuve. Mit Emily Blunt, Benicio Del Toro, Josh Brolin. 122 min. Deutscher Kinostart: 1.10.2015 (FSK 16).

Eine Buchrezension zu Ciudad Juárez gibt es auf Zeilentiger liest Kesselleben hier, einen Tatsachenbericht zu Entführungen in Mexiko hier.

Plissken meets Marlowe meets Monk – Nathan Larsons Future Noir-Roman „2/14“

Über Brians Gesicht huschte ein Lächeln. „Sie sind der geborene Killer. Also, das wird mir jetzt klar. Das ist sehr traurig. Geisteskrankheiten sind immer traurig.“

cover_978-3-03734-654-9In der dystopischen Zukunft überlebt auch der hardboiled detective nur mithilfe eines Sets an systemerhaltenden Neurosen, ganz davon abgesehen, dass er inzwischen ein Killer ist. New York ist nach den (nicht näher erläuterten) Ereignissen von 2/14 am Arsch, und zwar gründlich. Die Metropole ist zu weiten Teilen entvölkert, die Wirtschaft zusammengebrochen oder von mafiösen Strukturen durchsetzt, die öffentliche Hand praktisch auf Armeeeinsätze geschrumpft, der moderne Gesellschaftsvertrag aufgehoben. Zwischen Hunger, Krankheit und dem allgegenwärtigen Geruch von brennendem Müll und Plastik ist sich der Mensch wieder des Menschen Wolf.

Und Dewey Decimal ist einer der gefährlichsten Wölfe in diesem postapokalyptischen Dschungel. Wenn er nicht schmutzige Jobs für den Bezirksstaatsanwalt ausführt, haust er in der verlassenen New York Public Library und strukturiert die Überreste eines Wissensschatzes einer vergangenen Epoche nach der Dewey-Dezimalklassifikation, daher sein Name. Seinen echten kennt er nämlich nicht mehr. Er weiß nur, dass er einmal Soldat war. „Übrigens war ich auch Ehemann und Vater. Glaub ich.“ Denn nichts ist mehr sicher und gewiss in dieser Welt, nicht einmal die eigenen Erinnerungen (implantiert?). Kein Wunder, dass so jemand einen zwanghaften Charakter entwickelt, zu Migräneattacken und Gedächtnisproblemen neigt, hochgradig neurotisch ist und an dissoziativen Störungen leidet.

Aber das hindert Dewey Decimal nicht daran, als Geheimwaffe des Bezirksstaatsanwaltes eingesetzt zu werden, und als dieser ihn auf einen ukrainischen Gangster ansetzt, macht sich der Killer in einem zerknitterten Anzug und mit einem üppigen Vorrat an Pillen, Einweghandschuhen und seinem Reinigungsspray Purell bewaffnet (Requisiten wichtiger noch als Trinkwasser oder Feuerwaffen) auf zu einer Großstadtodyssee, in der sich die Fronten beständig verändern und – natürlich – nichts ist, wie es scheint …

In seinem Romandebüt „2/14“ entwirft Nathan Larson eine stimmungsvolle dystopische Welt. Vieles an dieser Welt ist nur angerissen; wichtig ist die Kulisse, nicht die Stringenz eines Weltenentwurfs, doch diese Kulisse ist dermaßen dicht und bildstark beschrieben, dass einem als Vergleich zum Buch eher Filme einfallen anstelle anderer Bücher – Filme wie „Die Klapperschlange“ etwa oder „Bladerunner“ oder „Soylent Green“. Manche Szenen bestechen durch eine geradezu fiebrige Intensität – ein beeindruckender Beleg für das stilistische Vermögen des Debütanten. Etwas, das Larson nicht nur in seinen Beschreibungen, sondern auch in seinen knackigen, pointierten Dialogen unter Beweis stellt, wie man es bei einem Schüler der hardboiled novels erwarten darf.

Allerdings scheitert Larson daran, den Zug der Geschichte bis zum Ende durchzuhalten. Das Erstaunliche ist, dass der Autor den entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte selbst ganz offen thematisiert: „Dieses dumme alte Pulp-Klischee, das müdeste aller müden Klischees, kommt mir in den Sinn. […] Wenn man nicht weiterweiß, dann sucht man die Frau. Cherchez la femme.“ Versucht Larson hier seinen Plot durch Ironisierung zu retten? Besagte Entwicklung (und die dazu gehörige viel zu holzschnittartige Frauenfigur) bleibt nicht die einzige Schwäche. Was als stimmungsvolle, knallharte Geschichte mit Suchtpotential („2/14“ ist der erste Teil einer Trilogie um Dewey Decimal) beginnt, erschöpft sich in der zweiten Hälfte zu oft in Klischees: der hartgesottene Kämpfer, der sich auch frisch von der Kniescheiben-OP weiter durch die Stadt kämpft; der getriebene Ermittler, der im Laufe der Geschichte ungefähr so oft bewusstlos zusammenbricht wie die Figuren in Raymond Chandlers frühen Schreibversuchen; eine Story, die mehrmals auf einen Deus ex Machina-Effekt zurückgreifen muss; Handlungen, für die der Autor keine überzeugende Motivation liefern kann; und ein müder, unglaubwürdiger Moralkodex des Killers (S. 181, wer‘s genau wissen will). Aus dem Rückblick bleibt der Roman (wie so viele Versuche im Kielwasser eines Dashiell Hammetts oder Raymond Chandlers) doch nur wieder einmal zu sehr Geste und Topos.

Ganz ungerecht wäre es aber, über diese einzelnen Kritikpunkte hin zu vergessen, dass „2/14“ über weite Strecken ein verflucht packender, dichter, stilistisch hochsouveräner Zukunftsthriller ist. Freunde des Genres dürfen sich auf die Fortsetzung freuen.

Nathan Larson, 2/14. Ein Dewey-Decimal-Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Stumpf. Mit einem Nachwort von Thomas Wörtche. (Originaltitel: The Dewey Decimal System, 2011.) 255 Seiten, Broschur oder als E-Book.  Diaphanes, Zürich-Berlin 2014.

Mit einem Dank an crimenoir, dessen Buchbesprechung von „2/14“ mich auf den Roman aufmerksam gemacht hat.

Der Finger, der verwundet und verzaubert zugleich – „Die Möbius Affäre“

Ein monumentaler Kameraschwenk über die Steilklippen hinab auf Monaco zu schicksalsschweren Chorgesängen, hinein in das Großraumbüro einer Bank, in dem die coole Brokerin den Chef mit ihrem jüngsten Aktiencoup vorführt (Einführung Protagonistin 1), und ein Schnitt hinüber in ein anonymes Apartement, in dem der russische Top-Agent eine Mitarbeiterin psychologisch für ihren nächsten Einsatz drillt (Einführung Protagonist 2) – der Film will Großes, das spürt man sofort, und wirkt in den ersten Minuten doch etwas spröde, beinahe verunsichert, als wüsste er selbst, dass er mit den großen Agentenfilmen Hollywoods nicht wird gleichziehen können.

Dann aber besinnt sich der französische Agententhriller „Die Möbius Affäre“ (Kinostart 1.8.) auf seine eigenen Qualitäten und spielt sich auf umwerfende Weise frei. Das liegt nicht am Plot. Der ist komplex, um nicht zu sagen verwirrend. Auf zwei Sätze heruntergebrochen: Die Bankerin Alice Redmond (Cécile de France) betreut in Monaco das Vermögen des Oligarchen Ivan Rostovski (Tim Roth) und wird gleichermaßen vom CIA und dem russischen Geheimdienst FSB umworben. Ein doppelbödiges Verwirrspiel aus Hochfinanz, Geheimdienst und politischer Intrige beginnt und wird zur Bühne eines verhängnisvollen Liebesreigens zwischen Alice und Gregori Ljubov (Jean Dujardin), dem Leiter des russischen Agententeams.

Was den Film auszeichnet, ist seine in aller Ruhe ausgearbeitete Präsenz und Intensität, es sind die (nach den Anfangsschwierigkeiten) herrlich zwingenden, geschliffenen Dialoge; ein gekonnt langsames Erzähltempo, in dem sich nur ein einziges Mal die Gewalt wirklich körperlich manifestiert und die Normalität umso erschreckender durchbricht; es ist die Sorgfalt gegenüber den kleinen Gesten, besonders den Blicken: Blicke, die forschen, zögern, verschleiern, flackern, brennen, Blicke voller Einsamkeit und Hingabe; es ist auch ein szenisch eindrucksvoll eingebundener Sound, von der Barmusik bis zum Babygeschrei irgendwo in der trostlosen Weite der Mietskaserne.

Am dichtesten zeigt sich diese Intensität in der Begegnung der beiden Protagonisten Alice und Gregori, die in einer Welt der Lüge ihre Liebe zu leben suchen – eine Ehrlichkeit und ein Begehren, bei dem es hörbar knistert auf der Leinwand, und die in einer minutenlangen, wunderschönen Liebesszene einen Höhepunkt erreicht, in dem noch die Einstellung auf ein zitterndes Augenlid, die Schutz schenkenden Arme pure Erotik sind.

Natürlich können diese beiden Liebenden nur verlieren, was umso tragischer ist, weil sie, die sich Halt zu geben versuchen in einer schwindelerregenden Welt, einander in einem unbeabsichtigen Doppelspiel selbst zu Fall bringen.

Ein in seiner Ruhe durchwegs spannender (und anders als der steintrockene „Dame, König, As, Spion“ sehr sinnliche) Agentenfilm, der kaum etwas mit einem James Bond oder Jason Bourne zu tun hat, und zugleich ein ergreifendes Liebesdrama, ein Film bester französischer Kinotradition. Wer sich auf „Die Möbius Affäre“ einlässt, tritt als anderer Mensch aus dem Kinosaal und bleibt im besten Fall auch noch Stunden später verwandelt. Wie berührt von einem Finger, der verwundet und verzaubert zugleich.

Die Möbius-Affäre“ (Original: „Möbius“). Regie: Eric Rochant. Mit Jean Dujardin, Cécile de France, Tim Roth. 103 min. 2013.

Crime Time in Bollywood – Ein Besuch auf dem 10. indischen Filmfestival Stuttgart

Ein roter Teppich vor dem Kino Metropol, eine zwei Meter hohe Elefantenfigur („bitte nicht berühren“) und in der Gelateria nebenan als Special ein Mango-Joghurt-Eis – das war der Rahmen zur Eröffnung des 10. indischen Filmfestivals Stuttgart am gestrigen Abend. Ein paar Reden, ein paar schöne Menschen, ein paar Stilnoten (interessanterweise schien den Indern die Kleidung einfach besser zu passen als den Deutschen, unabhängig davon, ob indische Gewänder, westliche Anzüge oder Marken-T-Shirts), dazu wahlweise Sekt oder Mangolassi als Getränke – und eigentlich wie immer auf Filmfestivals keine Karten ohne Reservierung für den Eröffnungsfilm.

Gehört man nicht zu den VIPs, bleibt da also nur die Möglichkeit, sich am zweiten Tag einen spannenden Film zu sichern – und danach noch so viele, wie Programm, Entdeckerfreude und Alltagsverpflichtungen eben hergeben. Die Wahl fällt auf „Talaash“ (Suche), englisch „The Answer Lies within“, ein Thriller der Regisseurin Reema Kagti mit namhaften Staraufgebot: Aamir Khan, Kareena Kapoor, Rani Mukerji.

Ausverkauft ist der Saal heute nicht mehr. Frauen sind ganz erheblich in der Überzahl unter den Zuschauern, und das, obwohl es sich um einen Thriller handelt. Ein paar deutsche Ethnokultisten in wallenden Gewändern stechen schon nicht mehr so ins Auge wie am Vorabend.

Nach einer knappen Einführung in den Film gibt es Rätselraten. Zwei hübsche junge Frauen mit Krönchen auf dem Kopf dürfen auf der Bühne ein paar Preise halten, die Reden schwingen die Männer. Ein Vertreter des (deutschsprachigen) Bollywoodmagazins „Ishq“ stellt ein paar Fragen – wer sie beantworten will, muss dazu aufstehen, und kann dann eine DVD, eine CD mit Filmmusik und natürlich ein Exemplar von Ishq gewinnen. Zum Aufwärmen eine leichte Aufgabe: „Was ist der Lieblingssport von Aamir Khan?“ Von wegen leicht, erst die dritte Person antwortet korrekt: „Tennis!“ Bei der Frage, mit welchem Schauspieler Bollywood-Schönheit Kareena Kapoor verheiratet ist, springen die Männer am schnellsten auf. „Was heißt ‚Talaash’ auf Hindi?“ Lauter Protest aus der hintersten Reihe: „Falsch gestellte Frage!“

Der Ishq-Moderator verliert darüber nicht seine flotte Zunge, macht ein Witzchen über die Schwaben und dann: „Wir im Rheinland sind pleite, stehen aber dazu und haben Spaß.“ Und als auf die Bonusfrage zur Hochzeit Kareena Kapoors wieder derselbe junge Bollywood-Spezialist der Schnellste ist, gibt der seinen zweiten Preis bereitwillig ab an die Nächste – eine Mitarbeiterin des Festivals. „Ist das überhaupt erlaubt?“, fragt der rheinländische Lockenkopf. „Aber mich geht es ja nichts an, das ist Stuttgarter Klüngel.“

Und dann geht es los mit dem Film.

Oder sollte es.

Da ist er, der Festivalstrailer. Anschließend eine deutliche Antiraucherwerbung auf Hindi. Ein Logo. Und dann – die Projektion der Programmoberfläche mit dem Mauszeiger, der verzweifelt nach der richtigen Schaltfläche sucht.

Es dauert ein paar Augenblicke, dann fängt es von vorne an: Antiraucherkampagne, Logo, noch ein Logo. Aber wo bleibt der Spielfilm? Nach gefühlten zwei Runden im Kreis endlich eine neue Einstellung: der englische Copyright-Hinweis, dass die Nutzung dieses Datenträgers ausschließlich für private Vorführungen erlaubt sei. Gelächter im Publikum und spontaner Szenenapplaus.

Und dann endlich „Talaash“, nächtliche Impressionen, ein dramatischer Unfall, die ersten Dialoge auf Hindi – und keine Untertitel. Rufe, ein lauter Pfiff, kurz taucht wieder der Mauszeiger im Menü auf, dann endlich die englischen Untertitel. Erneuter Applaus.

Ein Bollywood-Star stirbt unter merkwürdigen Umständen bei einem Autounfall. Die Polizei tappt völlig im Dunkeln, was die Unfallursache anbelangt. Alles sieht nach einem dieser ungeklärten Fälle aus, mit denen sich die Polizei herumzuschlagen hat, bis sie gnädigerweise im Aktenschrank abgelegt werden. Dann stößt Inspektor Surjan Shekhawat auf eine Spur ins Rotlichtmilieu Mumbais. Als sich schließlich die Prostituierte Rosie als eine wichtige Informantin in dem Fall entpuppt, beginnen für den Polizisten erst die wirklichen Schwierigkeiten. Festgefahren in seiner Trauer um seinen verstorbenen jungen Sohn und unnahbar gegenüber seiner depressiven Ehefrau, fühlt sich Shekhawat zunehmend zu seiner Informantin hingezogen. Seine Welt gerät ins Wanken …

2013-07-18 FilmfestivalSchauspieler Nawazuddin Siddiqui –
erst ein halbes Dutzend Fans vor der Zigarette

„Talaash“ nimmt wenig Rücksicht auf Genregrenzen, nimmt sich viel Zeit (beides kann man gut- oder schlechtheißen) und bedient allerlei Klischees – angefangen beim unbestechlichen, in der Isolation seines Schmerzes nie lächelnden Gesetzeshüter auf der Suche nach der Wahrheit oder der Edelprostituierten, die dem „Milieu“ Glamour schenkt und sich als überlegener gefallener Engel gefällt. Und natürlich gibt es auch ein bisschen Kitsch – es ist ja schließlich Bollywood –, Songs mit sinnreichen Texten (nein, keine tanzenden Schauspieler), die üblichen rot- und safrangelben Tücher, durch welche die Protagonisten in Zeitlupe hindurchspringen, um ihren sinnlichen Gefühlen füreinander Ausdruck zu verleihen und nicht zuletzt ein atmosphärisches Mumbai Noir-Feeling, das sich mehr malerisch als trist gibt.

Die Kritiker in den amerikanischen Medien attestierten dem Film eher wenig ehrenvolle Attribute, sie sprachen unter anderem von „red herrings“, die man auf Meilen bereits als solche enttarne. Ich gebe zu, für mich – ich wusste nur, dass ein Krimi mich erwarten würde – war das Ende wunderbar überraschend. Mehr noch: Wo manch kritischer Geist müde von Naivität sprechen würde, bescherte mir der Film bei der Auflösung des Falls wie beim kathartischen Höhepunkt eine wohlige, lange nicht mehr erlebte Gänsehaut. Dass im Finale durch Schäden an der CD einige Sekunden lang das Bild ausfiel, störte da schon nicht mehr wesentlich.

Zum Ausklang stellten sich zwei Schauspieler des Filmes den Fragen des Publikums. Sympathisch lässig setzten sie sich auf die Kante der Bühne und ließen die Beine baumeln, während sich die Zuschauer verzweifelt ein paar Fragen ausdachten, bevor alle in die Freiheit entlassen wurden.

Und nun beginnt sie: die Suche nach dem nächsten Festivalbeitrag.

Talaash (2012), 139 Minuten. Regie: Reema Kagti. Drehbuch: Farhan Akhtar, Zoya Akhtar. Mit: Aamir Khan, Kareena Kapoor, Rani Mukerji.

Website des Filmfestivals
Official Trailer (ohne englische Untertitel)

Sam Hawken, „Die toten Frauen von Juárez“

Hawken_9783608502121Kelly, ein heruntergekommener Boxer, flüchtet nach einem Fehltritt über die Grenze nach Mexiko, wo er sich in illegalen Arenen blutig prügeln lässt oder Kurierdienste für einen Kleindealer übernimmt. Kelly ist ein Verlorener in einer Stadt der Verlorenen – Ciudad Juárez, geprägt von Armut und Gringos auf Partygang, gebeutelt vom Drogenkrieg und den ‚feminicidios’, verschwundenen und ermordeten Frauen. Als schließlich auch Kellys mexikanische Freundin entführt und ermordet wird, bricht seine Welt völlig zusammen. Und der Einzige, der den Fall nicht mit Kellys Verhaftung ad acta legt, ist ein alter, einsamer Polizist: Sevilla, selbst Vater einer der „toten Frauen“, gräbt tiefer …

Ohne Frage ist dieses Erstlingswerk nicht frei von Schwächen: einzelne Sätze, die erklären statt zu erzählen; logische Fragwürdigkeiten in der Ermittlung; ein stellenweise schleppender Gang, wo Verdichtung angebracht wäre. Trotzdem gelingt Hawken über weite Strecken ein mit Herzblut geschriebener, intensiver und sinnenreicher Roman über Gerechtigkeit, der das Zeug dazu hat, verschlungen zu werden. Ein lesenswertes Debüt und weit mehr als ein Thriller.

Sam Hawken: Die toten Frauen von Juárez. Kriminalroman. Aus dem Englischen von Joachim Körber. (Originalausgabe 2011 unter dem Titel The Dead Women of Juárez). Gebunden mit Schutzumschlag. 316 Seiten. © Tropen-Verlag (Klett-Cotta), Stuttgart 2012.

„Jack Reacher“ – Ein Hauch von Hitchcock

Nein, ein Freund von Scientology bin ich auch nicht. Aber das Schauspieler-Tom Cruise-Bashing kann ich nicht teilen. Warum sollte jemand, nur weil er Vorzeige-Scientologe ist, nicht gleichzeitig ein guter Schauspieler sein, den man gerne spielen sieht – und das ist er unbestreitbar, denkt man an Filme wie „Magnolia“, „Collateral“ oder „Operation Walküre“. (Andererseits, wo sind die Grenzen? Nehmen wir einmal drastischere Beispiele: Darf man einen SS-Mann für sein feinfühliges Violinenspiel loben? An einem überführten Mörder die freundliche Zuvorkommenheit hervorheben? Da tun sich plötzlich Fallgruben auf …)

In „Jack Reacher“ mag Tom Cruise tatsächlich nicht die Idealbesetzung sein, kennt man die literarische Vorlage von Lee Child. Ob aber Werner Herzog als bizarrer Gulag-Überlebender und Erzbösewicht besser gewählt ist, sei dahingestellt. Ich teile in diesem Punkt nicht die Begeisterung der Feuilletons, aber nun ja, so bekommt dieser Krimi sogar noch einen Hauch Arthaus.

In Vielem hingegen überzeugt „Jack Reacher“ auf eine angenehm überraschende Weise. Statt Technikspektakel setzt der Film auf eine ausgefeilte Geschichte und eine erstaunlich liebevolle Inszenierung, die mehr mit einem Hitchcock oder einem der ganz großen Kultwestern gemein hat (Oldschool im allerbesten Sinne also) als mit den digitalen Materialschlachten Hollywoods – wie etwa in der Vorschau zu „Stirb langsam 5“, wo zu „Freude schöner Götterfunken“ die Autos höher in die Luft geschleudert werden denn je … In einer minutenlangen Verfolgungsjagd in „Jack Reacher“ überschlägt sich kein einziges Auto – man stelle sich das vor! –, aber man glaubt im Kinositz sehr wohl, selbst den Asphalt unter den Pedalen zu spüren.

Und natürlich ist der Film nicht perfekt, natürlich lässt das eine oder andere eher unfreiwillig lachen. Trotzdem: Ein Kinostreifen, der sehr viel Spaß macht und seine Stimmung noch eine ganze Weile mit aus dem Kinosaal hinausträgt. Weil er Magie hat – die Magie des Erzählens, nicht die der bloßen Technik.

Regie: Christopher McQuarrie. Mit Tom Cruise, Rosamund Pike, Richard Jenkins. USA 2012.

http://www.jackreacher.de/

„Killing Them Softly“

Sie reden viel in diesem Film, die schäbigen Ganoven und kleinen Gangster, und handeln wenig, es ist fast schon ein Kammerstück, das sich in alten Straßenkreuzern und auf tristen Städtebrachen, an Hoteltischen und Theken abspielt, während aus den Radios und Fernsehgeräten die hehren Versprechungen des amerikanischen Wahlkampfs von 2008 tönen.

Langweilig wird es keinen Augenblick, dafür sorgen die geschliffenen Dialoge und die ungeheure Aufmerksamkeit, die die Charaktere erhalten mit all ihrer Schäbigkeit, ihren Hoffnungen und ihrem Elend, ihrem Eheproblem oder der Angst des Killers vor Emotionen (daher tötet er lieber „weich“ aus der Entfernung), dafür sorgen auch die wunderbar unbedarft ausgelebte Ästhetik der Kamera, die immer wieder die Szenerien in Spiegelungen einfängt, Personen im gleißenden Gegenlicht verliert oder Farben und Konturen im tristen Regen aufgehen lässt, und die Musik, Songs, die ins Schwarze treffen, die so gute Laune machen könnten, ginge es nicht um Verbrechen und Wirtschaftskrise, um gesellschaftliche Lügen und ums Sterben.

Denn ja, zwischendurch müssen sie auch sterben, diese erbarmungswürdigen Kleinkriminellen. Und während Obama am Ende im Bildschirm über dem Tresen seinen Sieg feiert, leistet der Killer Cogan eine ganz andere Bestandsaufnahme: „America Isn’t a Country; It’s a Business. So Pay Me, Motherfucker.“ Schnitt und Ende.

Eine schmutzige kostbare Perle und einer der interessantesten Kinofilme des Jahres 2012.

Regie: Andrew Dominik. Mit Brad Pitt, Scoot McNairy, Richard Jenkins, Ray Liotta. USA 2012.

http://www.killing-them-softly.de/

„Small Town Murder Songs“

In einer Mennonitenkleinstadt in der kanadischen Provinz wird eine Tote aufgefunden. Walter, der örtliche Polizeichef, ist überfordert und wird zunehmend mit seiner eigenen dunklen Vergangenheit konfrontiert. Ein Film wie der herbstliche Nebel über den kanadischen Äckern – archaisch, langsam, schön.

Regie: Ed Gass-Donnelly. Mit Martha Plimpton, Peter Stormare, Jackie Burroughs. Kanada 2012.

http://www.smalltownmurdersongs.com/

Carlos Busqued, „Unter dieser furchterregenden Sonne“

Projekt2:Layout 2„Cetarti verbringt seine Tage kiffend vor dem Fernseher und schaut mit Vorliebe Tierfilme über kannibalische Riesenkraken. Der Anruf eines Unbekannten reißt ihn jäh aus seiner Lethargie. Seine Mutter und sein Bruder sind erschossen worden, er solle sich um die Leichen kümmern. Eher unwillig macht er sich in sein abgelegenes Heimatdorf auf – ein finsterer Ort, wo die Häuser immer tiefer im Schlamm versinken und eine grelle, furchterregende Sonne die Menschen in den Wahnsinn treibt.“ (Rückentext)

Die originelle Umschlaggestaltung lenkt die Aufmerksamkeit augenblicklich auf diesen Roman. Entziffert das Auge einen Moment später den Titel, greift die Hand bereits nach dem Buch und spätestens nach der Lektüre des Klappentexts ist endgültig entschieden, dass dieses Buch gekauft werden muss, eine nur Sekunden währende Kette von Folgerichtigkeiten – und eine rundum überzeugende und gelungene Werbestrategie. Kann da der Inhalt mithalten?

Ja, er kann. Busqued entwirft in seinem Romandebüt eine Gesellschaft voller Rohheit, das Buch bietet auf 180 Seiten eine wahre Schreckensfahrt durch die dunklen Täler des heutigen Argentiniens, in dem die Spuren der Vergangenheit allgegenwärtig sind. Die älteren Menschen erweisen sich als Erben der Militärdiktatur: grob, gewissenlos und brutal; die jüngeren sind nichts als schlaffe, zugekiffte Mitläufer der Gewalt ohne einer eigenen Zukunft. Und eine wirkliche Lösung ist nicht in Sicht. Ein irres, brutales Buch und eine kleine literarische Sensation, aber nichts für empfindliche Gemüter.

Carlos Busqued, Unter dieser furchterregenden Sonne. Aus dem argentinischen Spanisch von Dagmar Ploetz.
© 2010 Verlag Antje Kunstmann