Die Entführten sind längst tot und verwesen unter Plastikfolien, als das FBI das Haus in einer Vorstadt Arizonas stürmt. Warum diese Menschen aus Mexiko, aus Lateinamerika, sterben mussten, wird nicht restlos klar, und das ist symptomatisch für ein ungeheuer komplexes Geflecht aus Verbrechen und Not entlang des Grenzwalls zwischen den USA und Mexiko: Schleuserbanden, Massenimmigration, Erpressung und Entführung, Waffenschmuggel, offene und verheimlichte staatliche Gewalt und nicht zuletzt der Drogenkrieg, der Mexiko seit Jahren in einem kriegsähnlichen Zustand hält. Und es liegt in der Logik des Drogenthrillers „Sicario“ (spanisch für Auftragskiller), denn die Einsatzleiterin Kate Macer (Emily Blunt) wird abgezogen zu einem Team unter der Leitung zweier Regierungsbeauftragter, die die Hintermänner des Verbrechens ins Visier nehmen wollen.
Der Auftrag ist nicht das, was Macer erwartet hatte. Von Anfang an kämpft die FBI-Agentin gegen einen ungreifbaren Gegner aus Fehlinformationen und Schweigen an. Der CIA-Mann Matt Graver (burschikos und ein homo homini lupus Josh Brolin) und sein Mitarbeiter Alejandro Gillick, ein ehemaliger kolumbianischer Staatsanwalt (undurchsichtig und vielschichtig Benicio del Toro in hellem Sakko und mit tiefen Augenringen) halten Macer immer wieder im Unklaren über ihre Ziele und Motive. Bereits der erste Einsatz ist nicht, wie Macer gegenüber angedeutet, eine Besprechung in El Paso, sondern führt ein Einsatz-Team über die Grenze nach Ciudad Juárez (eindrücklich, wenn auch nicht frei von Klischees als Hölle inszeniert), um dort ein Kartellmitglied auszulösen und in die USA zu überführen. Auf dem Rückweg kommt es zu einem Feuergefecht. US-amerikanische Staatsbürger töten, vollkommen rechtswidrig, auf mexikanischem Territorium, und keine Zeitung wird darüber Anklage erheben, keine Behörde eine Akte über das anlegen, was wirklich passiert ist. (Der Einsatz ist übrigens eine absolute cineastische Glanzleistung, wunderbar choreographiert – allein dem Weg der Fahrzeugkolonne durch die Stadt zu folgen, lohnt den Kinobesuch – und atemraubend spannend.)
Immer tiefer verstrickt sich Kate Macer in dieses Geflecht aus Lügen und rechtswidrigen Einsätzen, in dem die CIA in einer unheiligen Allianz die Macht der mexikanischen Kartelle zu brechen versucht. Die Handlungsfreiheit der FBI-Agentin schränkt sich mit der zunehmenden Bloßlegung dieser schmutzigen Politik eines „Der Zweck heiligt die Mittel“ immer weiter ein und drängt sie in eine passive Rolle (was keine Schwäche des Drehbuchs ist, erst recht nicht eine der schauspielerischen Leistung von Emily Blunt, sondern ein Gradmesser, wie sehr sich die Figur immer weiter von einer Welt entfernt, die sich an gesellschaftlich ausverhandelten Regeln von Recht und Transparenz orientiert), bis hin zu dem Augenblick, als Alejandro in den Mittelpunkt des Filmes rückt und in einer erschütternden Szene („Jetzt lernst du Gott kennen“) seine Epiphanie als Auftragskiller erlebt.
Zu den dramaturgischen Stärken „Sicarios“ gehören die souveränen Tempowechsel. Der Film gestattet sich über weite Teile eine ganz überraschende Ruhe und Langsamkeit, die ihm sehr zugute kommt, und ist zugleich ungeheuer dicht und packend. Eine gewisse Schwäche mag das Drehbuch (Taylor Sheridan) dort haben, wo Fragen offen oder Figuren beziehungslos bleiben. Biographische Orientierung wird nur angedeutet, wo es absolut notwendig ist. Psychologisch kann damit nur aus dem Augenblick und nicht aus einem gewachsenen Leben heraus gearbeitet werden, aber das passt zu im Dämmerlicht von Geheimakten und Schmugglertunneln operierenden, entwurzelten Spezialisten und wird wettgemacht durch das Mienenspiel der Schauspieler: die Erschütterung und das Ringen von Emily Blunt, das Taktieren aus Lüge und roher Entschlossenheit von Josh Brolin, dem traumatisierten Strudel aus Verletzlichkeit, Sanftmut und Psychopathie von Benicio del Toro.
Wummernde Bässe (Musik: Jóhann Jóhannsson) – man weiß es nicht: ist es das adrenalingetriebene Pochen des Blutes in den Ohren, ist es ein zur Unkenntlichkeit gesteigerter Sound aus Ghetto-Blastern? – unterstreichen das eindrückliche Bildwerk des Kameramanns Roger Deakins. Zu den schönsten Bildern gehört, wo der Mensch in einen weiteren, unendlich weiten Kontext gestellt wird. Die Landschaft in „Sicario“ ist Schrecklichkeit und Majestät zugleich, unter ihrem zeitlosen Himmel führen die Menschen ihr Leben aus Leiden und Krieg; sie kennen nur noch den Schrecken, nicht mehr des Himmels Herrlichkeit: Wo Wetterleuchten den stahlblauen Horizont über der Wüste elektrisiert, beobachten die amerikanischen Grenzschützer nachts die Leuchtgeschossspuren der Bandenkämpfe in Juárez. Und in einem Abendrot, das die Kraft besitzt, einen längst ab- und aufgegebenen Glauben wiederzufinden, steigen Elitesoldaten in die Schwärze der Nacht hinab mit Infrarot- und Wärmesichtgeräten, die ihre Gegner zu Silhouetten herunterrechnen, die es zu töten gilt.
In seiner Aussichtslosigkeit und Eindrücklichkeit erinnert „Sicario“ als Thriller um den Drogenkrieg an „Traffic“. Gleichzeitig schafft der kanadische Regisseur Denis Villeneuve mit eigener Handschrift einen der packendsten Thriller der jüngeren Zeit, der gerade dadurch seine Größe erhält, weil er der Ruhe ihren weiten Raum lässt statt sich in einem Feuerwerk aus Action und Grausamkeit zu verlieren.
Und dann verlässt du das Kino mit einer Gänsehaut und schweigend gehst du nebeneinander her. Menschen lachen in den Straßen. Sie leben in einer anderen Welt.
Eine Buchrezension zu Ciudad Juárez gibt es auf Zeilentiger liest Kesselleben hier, einen Tatsachenbericht zu Entführungen in Mexiko hier.