‚Falestin auf Hebräisch einritzen‘ – Ayman Sikseck, „Reise nach Jerusalem“

Eine Gruppe palästinensischer Israelis demonstriert gegen einen militärischen Schlag Israels in Gaza. Die jungen Araber bereiten ein Plakat vor und stoßen auf eine simple Schwierigkeit: „Ich habe die Parolen so draufgeschrieben, wie ihr es haben wolltet, auf Arabisch, Hebräisch und Englisch. Allerdings habe ich vergessen, was ‚Transfer’ auf Arabisch heißt.“

Sikseck_9783716026878Es ist eine archetypische Situation in Ayman Siksecks kleinem Roman „Reise nach Jerusalem“. Jeder fünfte israelische Staatsbürger ist Araber. Und wie bei diesen jungen Demonstranten oszilliert ihre Identität zwischen zwei Welten, zu denen beiden sie nicht wirklich gehören. Sikseck, Jahrgang 1984, ist selbst einer dieser palästinensischen Israelis (oder Palästinenser in Israel, wie die Nomenklatur auch lautet). Er schreibt auf Hebräisch Kolumnen für Tageszeitungen und legt mit „Reise nach Jerusalem“ (treffender der Original-Titel: El Yafo, also Jaffa, der arabische Teil von Tel Aviv, woher Sikseck stammt) seinen ersten Roman vor.

Der Erzähler und seine Schwester versuchen sich im palästinensisch geprägten Jaffa zu emanzipieren: durch ein Studium, durch Arbeit im jüdisch-arabischen Gemeindezentrum, gegen die patriarchalisch-konservativen Strukturen ihrer Familie, gegen die – absichtlichen oder unabsichtlichen – Bevormundungen durch die hebräische Gesellschaftsmehrheit. Der Erzähler lebt in einem dauerhaften Zustand der Hin- und Hergerissenheit. Seine arabische Freundin Scharihan darf er nur heimlich treffen, solange er nicht offiziell um ihre Hand anhält. Ihre romantischen Spaziergänge vollziehen sich mit weitem räumlichen Abstand zwischen sich, um nach außen ja nicht den Eindruck irgendeiner Verbindung aufkommen zu lassen (sehr begehrt deshalb der Marktbesuch, weil man sich in dem Gedränge unweigerlich körperlich näher kommt), und endet „an der bröckelnden Rückwand eines alten Restaurants“, wo sie unter dem Abluftgebläse der Küche einen Moment der Intimität erleben können, wenn sie nicht ihr schwieriges Verhältnis über den Umweg der „Antigone“ und anderer klassischer (abendländischer) Literatur klären. (Ja, sie kennen Dostojewski oder Proust besser als Ghassan Kanafani, diese wichtige literarische Stimme der Palästinenser des 20. Jahrhunderts.) Und auf der anderen Seite steht seine israelische Freundin Nitzan, eine lebensoffene Soldatin, mit der er die Premiere des neuen Films der Coen-Brüder besucht und die ihn in Discos entführt und ihn erst mit Alkohol abfüllen muss, um ihn irgendwann abzuschleppen.

Die Kinder im palästinensischen Viertel feiern auch die jüdischen Feste – genauso wie ein längst globalisiertes Weihnachtsfest unter der Ägide von Santa Claus – und Jugendfreund Said grübelt über das Laubhüttenfest: „In der Grundschule gab es einiges, von dem wir dachten, es würde uns gehören, und dann war’s doch nicht so.“

Manchmal erhält dieses Leben zwischen den Identitäten etwas geradezu Unwirkliches. Wenn sich palästinensische Israelis außerhalb ihres heimischen Viertels begegnen, suchen sie bisweilen verlegen nach der sprachlichen Form – Arabisch, Hebräisch? – für ihr Gespräch; trifft der Erzähler Palästinenser mit dem Akzent der Besetzten Gebiete („ein militantes, krachendes Arabisch“, wie er es empfindet), wird er selbst wachsam und – ein Höhepunkt – auf den Busfahrten findet er sich von der gleichen Angst, der gleichen Paranoia vor Selbstmordattentaten gefangen wie die jüdischen Israelis, wenn er unruhig die Taschen der arabischen Mitreisenden mustert.

Die jungen Leute schauen Shrek II oder die Bourne-Trilogie, sie gehen zu IKEA, um sich einzurichten, und beugen sich zuhause dann doch dem Diktat der frommen Väter und Onkels und den Ehen, die ihre Eltern gegen ihre Herzenswünsche arrangieren. Während der Erzähler durch die Stadt irrt, immer sein geliebtes Notizbuch bei sich, um sich darin selbst zu vergewissern, sich darin immer wieder neu zu greifen versucht und doch scheitert, nimmt es seine Schwester Samaher gelassener: „Auch wenn’s nicht echt ist […] es kommt in diesem Fall der Echtheit so nahe wie möglich.“ Und fasst die Lage einer Millionenbevölkerung so zusammen: „Manchmal muss man auch das Unechte akzeptieren. […] Weil nichts anderes übrig bleibt.“

Es gibt Bücher, bei denen es sich lohnt, zuerst das Nachwort zu lesen. Sikseck gehört dazu, andernfalls bleiben womöglich zu viele Andeutungen enigmatisch. Der Form nach spürt man, dass der Roman aus Zeitungskolumnen hervorgegangen ist. Stilistisch präsentiert sich Sikseck recht einfach – er ist kein Poet, auch kein Romancier, eher ein junger, zwar fehlerfreier, aber doch noch nach einem literarischen Ausdruck suchender Essayist. So besteht der Roman im Grunde aus vielen kleinen Episoden, die sich aneinanderreihen und die alle – oft etwas aufdringlich – in einer Pointe oder Moral enden. Überhaupt ist das eine der größten Schwächen des Buches: das bisweilen Konstruierte, Künstliche. Erst gegen Ende verliert sich dieser Zug zunehmend und unverfälscht lässt Sikseck den Schmerz sprechen. Es sind erzählerisch die stärksten Seiten des Buches.

Ein spannendes, unbedingt lesenswertes Thema, wenn auch nicht eine immer überzeugende Form. Schön auf jeden Fall, dass es aller Widrigkeiten in der Verlagswelt zum Trotz noch unabhängige Literaturverlage wie Arche gibt, die mit Reihen wie Arche Paradies – von Denis Scheck herausgegeben – Autoren aus aller Welt ein Forum bietet.

Ayman Sikseck, Reise nach Jerusalem. Roman. Mit einem Nachwort von Hanan Hever. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. (Originalausgabe 2010 unter dem Titel El Yafo.) Gebunden mit Schutzumschlag, 155 Seiten. © Arche Literatur Verlag AG, Zürich – Hamburg, 2012.

Koriandertee und starke Preise – das Café Heller in Stuttgart

Das Eckcafé, einst Teil eines Autohauses, ist hell: zwei Seiten Glasfront, auch der lange Korridor zu den Toiletten besteht rechts aus Glas, links ist eine Galeriewand. Die ausgestellten Bilder muss man nicht mögen, aber das Licht, die hellen Holztische mit den dunklen Stühlen und der Boden aus ockerfarbenen Bruchplatten laden zum Verweilen ein. Bei schönem Wetter lockt eine Terrasse, dann ist der Blick auf die steinerne Rückwand des Finanzamtes noch ein bisschen unverstellter.

Die Karte punktet mit einer reichen Auswahl an Frühstücksvarianten (bis 16 Uhr), flankiert von gefüllten Pfannkuchen und hausgemachten Kuchen. Auch mittags und abends werden alle kulinarischen Bedürfnisse gestillt mit warmen Gerichten und einer ansprechenden Auswahl an Weinen und Cocktails. Die warme Küche serviert vor allem typische Lifestylegerichte, etwa gegrillte Gambas auf Avocadospalten mit Salatbouquet und Balsamicodressing. Beinahe neugieriger, weil unerwartet bodenständig, machen auf der Karte die gebackenen Grießschnitten mit rotem Beerenmus. So weit die Theorie.

Erster Praxistest in einem Café muss immer der Kaffee sein: der Espresso und seine Geschwister. Wider Erwarten, angesichts des Ambientes und der Karte, kann das Heller nicht mit einer richtigen Espressomaschine aufwarten. Statt aus einer guten Siebträgermaschine kommt der Espresso nur auf Knopfdruck aus einem Vollautomaten. Damit ist Kaffeegenuss also schon einmal gestorben.

Zum Glück verlockt da ein breites, bunt beschriebenes Angebot an offenen Tees (aus kontrolliert biologischem Anbau). Die Kännchen sind etwas klein geraten, die Farbzusammenstellung von dünnwandiger Tasse und Unterteller beißt sich bisweilen, der „Weite Blick“ mit Koriandersamen und anderen Gewürzen schmeckt angenehm frisch und scharf, der Earl Grey hingegen ist nicht spritzig, ihm fehlt – das scheint bei den Biovarianten öfters zu passieren – an Bergamotte.

Auch das Frühstück überzeugt nicht völlig. Geschmacklich gibt es nichts zu mäkeln, das kräftige Baguette ist sogar außerordentlich gut. Allein, das bayerische Weißwurstfrühstück wird sofort als zu teuer aussortiert, das Verhältnis aus Preis und Menge anderer Frühstücksvarianten fällt etwas ungünstig aus. Ein bisschen Hunger bleibt, und so gönnt man sich eben doch noch ein Stückchen hausgemachten Kuchens (er sieht aus, wie er heißt) oder ein Croissant und ist dann trotzdem nicht restlos glücklich.

Ein angenehmer Ort, ein neues Lieblingscafé hingegen nicht.

P.S. Nicht jeden wird es stören: Die leicht und modern gestaltete Website wie auch die mit sinnreichen Zitaten verzierte Speisekarte ließen sich durch Korrekturlesen noch veredeln …

Café Heller: Herzogstraße 4 – 70176 Stuttgart-West (nahe Feuersee)

Von Fernmagistralen, Weißwein und dem realen Prinzip – eine Reise an die Mosel

Quint, Bullay, Cochem – ginge ich nur nach den Namen der Haltestellen, wüsste ich nicht, noch in Deutschland zu sein. Als ich vom Zug in den Bus wechsle, verstärkt sich der Eindruck: Auf einer abgesteckten Grünfläche erspähe ich ein Schild „te koop“ (zu verkaufen) – und erst darunter die Botschaft auf Deutsch und Englisch.

Die Mosel scheint hier quasi in holländischer Hand. Auf den grünen Uferwiesen reihen sich die Campingplätze und darauf eine Legion an Fahrzeugen mit gelbschwarzen Kennzeichen. Tagsüber sitzen die Urlauber gerne in Liegestühlen vor ihren Wagen und trinken Bier („selbstmitgebrachtes“, beteuert ein Gewährsmann), abends dringt der flackernde blaue Schein der Fernsehapparate aus den Campingbussen und Wohnwagen. So kann man die Abende im idyllischen Moseltal auch verbringen.

Eine Geschäftsreise führt mich hierher an den Geburtsort eines berühmten spätmittelalterlichen Theologen, Philosophen und Gelehrten. Das Städtchen ist bis heute geprägt von dem berühmten Kirchenmann. Noch immer besteht die Stiftung, die aus seinen Weingärten hervorging, man kann ihre Trauben bis heute genießen – eine über 500 Jahre alte Institution.

Noch andere Schätze beherbergt das Doppelstädtchen. Der mittelalterliche Gelehrte verstarb auf einer Reise in päpstlicher Mission in Mittelitalien. Sein Leichnam wurde in Rom bestattet, aber seine Wagenladung voll Bücher (und sein Herz) haben seine treuen Diener bis an die Moselstadt zurückgebracht, wo die Handschriften bis heute ruhen und eine der kostbarsten noch erhaltenen mittelalterlichen Privatbibliotheken der Welt bilden.

Ein paar Stunden vor Beginn der Veranstaltung begegne ich auf der Burg über dem Fluss einigen unserer Herausgebern. Nicht gerade ein Wunder, solch eine Begegnung, erst recht nicht angesichts der Größe der Stadt. Aber es reicht für Witze wie „Herr E., Sie tauchen immer so überraschend auf!“ oder „der omnipräsente Verlag“. Ich denke, das kann dem Ruf nicht schaden.

Nach getaner Arbeit steigt die Gesellschaft abends hinab in die historischen Gemäuer der Mosel Vinothek. Sie gehört dem Deutschen Roten Kreuz, hier gibt es auch den Rebensaft vom weltweit einzigen DRK-Weingut. Das Angebot unterschiedlicher Themenweinproben ist faszinierend. Bei der klassischen Variante erhält man für 15 Euro in den Kellergewölben ausführliche Erläuterungen – und freien Genuss von 10 bis 17 Uhr. Einzige Auflage: Man muss in der Lage sein, auf eigenen Beinen die Treppe wieder emporzusteigen.

Heute bleibt, wir sind sowieso zu spät dran, nur eine Stunde Zeit, die Erläuterungen zu den einzelnen Weinen müssen wir selbst den Tafeln entnehmen. Nummern verweisen auf die Flaschen in den Kühlboxen. Selbst wenn man sich auf, sagen wir, den lieblichen Riesling beschränkt (dank der warmen Schieferhänge auch bei Zungen, die sonst gerne beim trockenen Wein bleiben, beliebt), kann man nur einen winzigen Ausschnitt kosten, bevor es weitergeht über die Moselbrücke in ein, versteht sich, Weinlokal.

Es ist fünf nach zehn Uhr abends in der Saison und die Küche weigert sich, für die Gruppe aus 30 Leuten noch etwas, und sei es noch so Kleines und Einfaches, aufzutischen. Dem maghrebinischen Kellner tut es sichtlich leid, hilflos lächelnd zieht er bei den Forderungen, dann doch wenigstens eine Pizza liefern zu lassen, die Schultern nach oben. Beim Abrechnen kann er wieder scherzen: Er hakt die Getränke von der Rechnung ab – und ergänzt: „und die Pizza natürlich“.

Ein Politikum war am Tischrund schnell gefunden: Auch das Moseltal hat sein Skandalbauwerk, den geplanten Hochmoselübergang, der die Bundesautobahnen A 60 und A 1 verbinden soll und seine Wurzeln noch in einem Vertrag aus dem Kalten Krieg hat. Damals sollte sichergestellt werden, dass über eine direkte Achse Brüssel – Frankfurt am Main NATO-Panzer zügig nach Osten verschoben werden konnten. Inzwischen zielt der Hochmoselübergang natürlich in eine andere Richtung, etwa auf eine Rettung des fragwürdigen Flughafens Frankfurt-Hahn. Man spürt sofort, hier zeigt sich ein regionales Reizthema: Kostenexplosion und Verschleuderung von Steuergeldern (von 600 Millionen Euro Kosten ist die Rede), untragbare Verschandelung des Landschaftsbilds, nicht kalkulierbare tektonische Risiken (Hangrutsche, Wasserhaushalt), Größenwahn der Politik bei letztlich unnötiger verkehrstechnischer Funktion – manches davon klingt bekannt von anderen aktuellen Bauprojekten der Republik.

Ein auswärtiger Besucher scherzt vom Widerstand gegen das Bauvorhaben, von Sabotage der Einheimischen und aufrechten Moselsoldaten – „das reale Prinzip bricht aus dem Ungrund hervor“, um es mit einem Philosophen des Deutschen Idealismus zu sagen. Meine Fantasie spinnt die Fäden weiter und ich male mir in Gedanken ehrwürdige Professoren aus mit Dynamit in den Sakkotaschen und hehrer Stirn. Was wäre das für eine Schlagzeile in der FAZ: „Vizepräsident einer internationalen philosophisch-wissenschaftlichen Gesellschaft plant Sprengung der umstrittenen Moselhochbrücke“! Das Fach wäre sich einer ganz neuen Aufmerksamkeit sicher.

Übrigens kreuzt die Verkehrsachse des Hochmoselübergangs eine ganz andere Magistrale, die Schienen der einstigen „Kanonenbahn“. Nach dem militärischen Sieg über Frankreich und der anschließenden deutschen Reichsgründung 1871 war es Vorgabe der Politik, rasch eine Direktverbindung zwischen dem annektierten Metz in Lothringen und der Reichshauptstadt Berlin einzurichten. 1880 war es soweit: Wer um 5 Uhr morgens in Metz den Zug bestieg, konnte am späten Abend in Berlin dem Kaiser die Hand küssen. Große Bedeutung hatte die Gesamtstrecke allerdings nie, die einzelnen Etappen entwickelten sich daher recht unterschiedlich weiter; man mag in diesem Punkt gern Vergleiche ziehen zur geplanten Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnachse Paris – Bratislava …

Bis heute, so hat man den Eindruck, ist die Bahn im Moseltal jedenfalls nicht viel schneller geworden. Dafür ist sie brechend voll am Samstagvormittag: Drei Gruppen angetrunkener junger Männer mit Plastikbechern wetteifern um den Lärmpegel, ein untergeklemmtes Bierfass drückt mich an die Gangwand, vor den Toiletten reihen sich die Bierblasen. („Krempeln Sie besser Ihre Hose hoch“, rümpft eine Dame beim Geruch aus dem Klo die Nase.) Eine johlende Gruppe steigt aus und wird sofort von der nächsten ersetzt. „Hangover Frankfurt“ steht auf ihren T-Shirts – der Kompass ist eingestellt.

Fragezeichen im Biodiscounter

Kürzlich erzählte eine Kollegin, wie junge Kassierer in Biodiscountern beim Abwiegen von Gemüse manchmal schlicht nicht wissen, was sie vor sich haben. „Bei allem, was über Tomaten hinausgeht, kann’s mit dem Wiedererkennungseffekt schwierig werden.“ Heute habe ich es selbst erlebt. Zögernd rollt die Verkäuferin mein Gemüse auf die Kassenwaage, blättert in ihrer Preisliste hin und her und lächelt mich schließlich hilflos an: „Nicht Brokkoli, sondern …?“ „Blumenkohl“, helfe ich ihr aus.

Ein Stern im Süden – Zacke: „Das Bier aus Stuttgarts schönstem Flecken“

„Alter, allerletztes“, knallt der Mann den Plastikbecher mit dem schwarzen Aufkleber („Zacke“ mit Sternchen) auf den Tresen. Es ist langer Samstag im Lehen, die Sterne des Südens – so nennen sich die Geschäfte, Unternehmen, Institutionen und Selbstständige hier vor Ort – präsentieren sich wieder in einem von Stuttgarts reizvollsten Stadtvierteln.

In einem der Hinterhöfe der Gründerzeitzeilen wird zwischen einem kleinen Flohmarkt das Zacke ausgeschenkt – ein außergewöhnliches Bier mit Lokalcharakter, der Braugang zu bescheidenen 120 Litern („ein Witz“, meint einer der Verantwortlichen, eine Rarität jedenfalls schon beim Abfüllen), heute erst zum dritten Mal von den Machern aus dem Viertel ausgeschenkt, zum ersten Mal überhaupt aus dem Fass. Ein Bier, zum Spaß geschaffen und jetzt schon mit so etwas wie Kultstatus in Stuttgart. Nachdem die Presse wenige Tage vorher über das Zacke-Bier berichtet hatte, kommen heute manche Leute aus den Nachbarvierteln, ja aus Vaihingen nur des Bieres wegen zum langen Lehensamstag.

IMG_0742Das „Zacke“ lockt!

Wie kommt man darauf, sein eigenes Bier zu machen? „Wir sind sechs Jungs und trinken gerne Bier, alle bis auf Oli, finden das Stuttgarter Bier aber scheiße.“ („Das Zacke trinke ich aber auch“, wirft Oliver dazwischen.) Und dann wurde das „Zacke“ 2012 als Weihnachtsaktion ins Leben gerufen. Jeder der Sechs aus dem Lehen (die im Alltag alle einem ganz anderen Beruf nachgehen) brachte seine Kompetenzen ein, sie kauften selbst das Malz und alle anderen Zutaten, besorgten sich unter Mühen die auffälligen, langhalsigen Flaschen („Handgranaten“), entwarfen das Etikett – mit seiner ganz eigenen Botschaft über das Bier, das Lehen und das Leben – und beklebten die Flaschen gemeinsam in Olivers Werkstatt.

Gebraut wird das Zacke in der Cast-Brauerei im Heusteigviertel, einer jungen, kleinen Biermanufaktur mit dem Mut zum Neuen und Besonderen. Das Zacke-Bier lagert doppelt so lange wie Industriebier, verträgt schlecht Temperaturschwankungen und ist deutlich weniger lang haltbar – eben ein echtes Naturprodukt ohne untergeschmuggelte Stabilisatoren.

„Wie haben Sie sich auf den Geschmack geeinigt?“, fragt eine Besucherin. Das war bei sechs Leuten anfangs tatsächlich nicht einfach, erläutert Marcus hinter dem Tresen. Als Vorbild wurde schließlich eine kleine Albbrauerei gefunden – „aber unseres wurde besser“. Das Zacke wird in zwei Sorten gebraut: das Lehenviertel Rotgold, malzig, auf eine frische Weise vollmundig, untergärig, und das Lehenviertel Pale Ale, hopfig, obergärig, fruchtig.

Viele Menschen lockt das Zacke in den Hinterhof, viele Gespräche stiftet es und nebenbei hat man die Gelegenheit, beim „Kultmacher – Antikes und Eigenwilliges“ hinter die Kulissen zu schauen: nicht nur in die Ausstellungsräume mit restaurierten edlen oder ausgefallenen Möbeln, sondern auch in die weiträumige Werkstatt dahinter.

IMG_0739Beim „Kultmacher“

Und schmeckt das Rotgold? „Man gewöhnt sich daran“, lacht eine Frau.
„Ein schönes Sommerbier“, sagt ein Gast.
„Bier von hier“, wirbt Marcus.
Ein distinguierter Herr kommt zwischen zwei Einladungen, um das Bier zu kosten – „nur einen Schnitt, ich habe nur eine kleine Pause“.
„Die beste Pause, die Sie je hatten!“, ruft Marcus und schenkt ein. Der Herr kostet mit Kennermiene und nickt zufrieden, bevor er zu seiner nächsten Verabredung zieht.
Ein Vater mit kleinen Kindern kramt die letzten Münzen aus der Tasche, um zwei Flaschen mitzunehmen, und ein englischsprachiger Besucher erkundigt sich hoffnungsvoll, wo das Bier zu beziehen ist – eine Frage, die immer wieder zu hören ist.

Ausgeschenkt wird das Zacke im Lehenviertel in der Gaststätte „Lehen“, im „Café List“, der Trattoria „Franca & Franco“, über das Viertel hinaus auch im „Aussichtsreich“ und im „Lichtblick“ – ein Testversuch mit eindeutigem Ergebnis: Das Bier wird begeistert angenommen und die Flaschen aus einem Braugang sind rasch ausverkauft. Zwei, drei Kästen werden noch im Zeitungsgeschäft „Schlagzeile“ beiseite gestellt, wer also schnell genug ist und sich den Kasten leisten will (günstig ist ein solches Bier natürlich nicht, die Zacke-Macher verdienen daran trotzdem praktisch nichts), kann hier also fündig werden. In der „Schlagzeile“ werden übrigens auch einzelne Zacke-Pfandflaschen zurückgenommen. Und die Zacke-T-Shirts finden inzwischen auch schon guten Absatz.

IMG_0740Drei der Zacke-Macher

Das Fass geht zur Neige, Marcus ruft zwischen Ausschank, Zigarette und vielen Fragen von Besuchern seine Zacke-Mitstreiter an. Endlich, Michael und Winfried bringen ein neues Fass, das Rotgold fließt wieder, der Ausschank kann weitergehen.

Abends gibt es dann ein Zacke-Bier-Release im Nebenzimmer des „Lehen“ – ein einzelnes, einmaliges Fässchen. Das auf Plakaten angekündigte Geheimbier entpuppt sich als ein Weizendoppelbock, sehr hochgehopft und stark mit 6,8 %. Bitter trifft es die Zunge und wird mit jedem Schluck fruchtiger. Und ist sehr gehaltvoll, wirklich ein Bier wie eine Mahlzeit.

„Es macht Spaß und ist eine schöne Viertelaktion“, resümieren die Zacke-Macher. Hoffentlich macht es noch lange weiter Spaß. Dass derzeit eine Website fürs Zacke aufgebaut wird, lässt jedenfalls auf einige weitere Braugänge hoffen. Und eine schöne Viertelaktion ist es tatsächlich. Gästen werde ich jedenfalls in Zukunft Bier im heimischen Lehen anbieten. Nur eines gibt es zu beanstanden: Dass ich auf meine Bekanntschaft mit dem Zacke-Pale Ale noch warten muss.

Das Zacke-Bier im Internet (Teaser, Seite im Aufbau)

Die Cast-Brauerei im Internet

Die Last der Entscheidungen – Nick Dybek: „Der Himmel über Greene Harbor“

Dybek_Cover„Loyalty Island – das war der Gestank von Hering, Lackfarbe und fauligem Seetang an Anlegestellen und auf Stränden.“ Die Menschen an diesem abgelegenen Stück Pazifikküste im Nordwesten der USA stehen im Bann der Naturgewalten und alter, patriarchalischer Traditionen. Im Herbst ziehen die Männer aufs Meer, Tausende Kilometer weit in die stürmische Beringsee, um sechs Monate lang Krabben zu fischen, während Frauen und Kinder im Dauerregen von Greene Harbor zurückbleiben. Alles, was diese Gesellschaft trägt – die Krabbenkutter, das Kühlhaus und nicht zuletzt die teuren Fanglizenzen – liegt in der Hand eines Mannes, John Gaunt, dem Nachkommen des fast schon mythologisch verehrten Stadtgründers.

Hier wächst der Erzähler Cal in den 1980er-Jahren auf, zwischen seiner kultivierten, einsamen Mutter, die sich in ihrer Sehnsucht nach der kalifornischen Heimat nächtelang in ihr Kellerstudio zurückzieht, und dem abwesenden Vater, dem „Mann mit der sanften Stimme und der seltsamen Narbe an der Oberlippe“. Ein einzelnes Ereignis bringt diese ganze Welt ins Wanken: John Gaunt stirbt, und sein Sohn Richard, ein unglücklicher, zynischer junger Mann („er war weg“ war alles, was die Leute über ihn wussten), ist der Stadt entfremdet und stand selbst nie auf einem Krabbenkutter. Was wird der Erbe tun? Wird er tatsächlich die Fanglizenzen an japanische Konkurrenten verkaufen? Wie wird es mit Greene Harbor weitergehen?

Ein ungesundes Warten beginnt und Angst liegt in der Luft, Angst vor dem Entschluss, und unter dieser Spannung werden zugleich die Bruchlinien im Mikrokosmos von Cals Familie schonungslos bloßgelegt. Dann fällt das Damoklesschwert, die Fangflotte läuft trotzdem aus und Richard ist verschwunden. Und während Cals Mutter nach Kalifornien entflieht, befällt den zurückgelassenen Vierzehnjährigen der furchtbare Verdacht, dass sein Vater hinter dem Verschwinden Richards steht. Im Regengrau der Herbstmonate kommt Cal einem verstörenden Geheimnis auf die Spur, das ihn selbst vor eine Entscheidung stellt – und seine Kindheit endgültig in Trümmern legt.

Nick Dybek (Jahrgang 1980) legt einen beeindruckenden Debütroman vor über Geheimnisse und Schuld, Loyalität und Verantwortung. Stilistisch erstaunlich sicher, ob Naturschilderungen, Milieustudien oder die Dialoge besonders der jüngeren Leute, braucht sich der Roman nur wenige Schwächen vorwerfen zu lassen. Manchmal will der junge Literat vielleicht ein bisschen zu viel, und im letzten Drittel verliert der Roman an Schwung wie ein Schiff, das seinen Kurs aufgibt, um noch etwas länger auf See bleiben zu können. Die Geschichte wird hier zu langatmig und erhält etwas Ratloses, ja Hohles. Auch, weil Dybek einen literarischen Kniff überstrapaziert, die Antizipation: gar zu oft überlässt sich der Erzähler Vorstellungen, wie eine Situation in der Zukunft ablaufen werde, bevor die Ereignisse tatsächlich geschildert werden.

Wirklich enttäuschend jedoch ist das Ende: die letzte, fundamentale Entscheidung des Protagonisten folgt einer rein dramatischen Logik der Geschichte, die auf einer Wende beharrt, nicht aber der Logik der Charaktere oder der konkreten Ereignisse und wirkt daher auf geradezu verärgernde Weise unbegründet und willkürlich.

Trotzdem: ein gutes, spannendes literarisches Debüt.

Nick Dybek: Der Himmel über Greene Harbor. Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Fingerhuth. (Original: When Captain Flint Was Still a Good Man, 2012). Gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 319 Seiten. © 2013 mareverlag Hamburg.

Blaubier und kalte Platte – Das Haus des Dokumentarfilms

Am Büfett gibt es Schnittchen mit veganer Leberwurst und Blaubier aus anonymisierten Flaschen. Wer den jeweiligen Inhalt richtig errät, erhält ein zweites Bier kostenlos. „Wulle! So schlonzig wie es ist.“ Aber nein, in dieser Flasche war norddeutsches Astra – verschärfte Bedingungen, denn wer erwartet so etwas in Schwaben.

Im Haus des Dokumentarfilms an der Stuttgarter Karlshöhe startete dieses Frühjahr die Reihe „YoungDOK“ – um dokumentarischen Filmemachern die Möglichkeit zu geben, ihre Produktionen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Organisiert von einer sehr rührigen Filmstudentin (Nordlicht wie das tückische Astra), lief im Mai als zweiter Film der Reihe „Die kalte Platte“, eine Doku über die Geschichte des Kleinen Schloßplatzes – einem über Jahrzehnte hinweg umstrittenen Stück Stuttgarter Innenstadt. Hervorgegangen war der Film als Studienprojekt von Chi-Hun Whang, Cem Kaya und Guido Negenborn an der Merz Akademie. Es war die erste intensive Beschäftigung der drei mit dem Dokumentarfilm. Entsprechend unbelastet näherten sich die Studenten ihrem „Protagonisten“ mit einem sehr spielerischen, erfrischenden Zugang.

Der Film rollt die Geschichte des Kleinen Schloßplatzes von seiner Eröffnung 1969 bis 2002 auf – ein Paradestück zeitgenössischer Stadtarchitektur und Unort zugleich: von der „autogerechten Stadt“ der 60er-Jahre (Bürger wurden damals offenbar als Autofahrer definiert); die verzweifelten Versuche, die „Kalte Platte“ zu beleben; die Ansiedlung „dysfunktionaler Gruppen“ (so ein Philosoph im Filminterview), die sich in der Presse in Schlagzeilen wie „Ist hier allmählich Klein-Chikago?“ niederschlug; der Umbau in die beliebte Freitreppe als Wahrzeichen Stuttgarts; die Jahrtausendwende mit der „Gaskammer“, als eine Bahn des Tunnels unterm Schloßplatz für Skater freigegeben wurde – eingeklemmt zwischen der abgasgeschwängerten Parallelspur und dem Straßenstrich; bis hin zum Bau des „Kubus“ – und dem politischen Nachbeben, das der Film für das Kunstmuseum auslöste.

IMAG0124Das rätselhafte Getränk

Zehn Jahre nach seiner Fertigstellung stellte sich Filmemacher Guido Nebenborn nach der Vorführung den Fragen des Publikums. Das Haus des Dokumentarfilms will ein „angstfreies Forum“ bieten, betonte die Geschäftsführerin zur Eröffnung, und das verwirklichte sich doch recht gut zwischen den Sitzreihen im knalligen 70er-Jahre-Orange. „Weist der Film über Stuttgart hinaus?“, fragte der sympathische Diskussionsleiter vom SWR. Erstaunlich, wie viele Deutungen der Film zulässt.

Und nebenbei ergaben sich unerwartete Gespräche: von ägyptischer Musik und der sozialen Stratifikation der Hörerschaften von Hassan el Asmar und Amr Diab über autobiographische Erzählungen aus der Schloßplatz-Szene der 80er-Jahre (wilde Fluchten vor rivalisierenden Punks inklusive) bis hin zum Hocharabisch der libanesischen Hisbollah-Geistlichkeit.

Ein spannender Abend in einem ganz angstfreien Forum.

Am 4. Juli geht es weiter mit YoungDOK im Haus des Dokumentarfilms. Der Eintritt ist frei.

Haus des Dokumentarfilms – Europäisches Medienforum Stuttgart
Mörikestraße 19 – 70178 Stuttgart

„Die kalte Platte“. Ein Film von Chi-Hun Whang, Cem Kaya & Guido Negenborn.
© 2003 KATO, Schwabentuerke, Cpt. Mono’s.

Carver – Stuttgarter Nu Metal aus der Hinterbank

Die Wahrnehmung regionaler Bands hat manchmal etwas so Dankbares. Ein recht überschaubarer Einsatz – ein günstiges Konzert, der Kauf einer selbstproduzierten CD, ein Posting in den social media – schafft bereits das wohlige Gefühl, Förderer der heimischen Kulturszene zu sein. So leicht lässt sich für ein paar Momente die Illusion eines Schmalspurmäzens konstruieren …

Die Stuttgarter Band Carver, ehemals Subterfuge Carver („Deathcore“), hat sich neu aufgestellt und im Februar ihr erstes Album „The Great Riot“ vorgelegt. Im Mai waren sie auf Konzert in Stuttgart und wärmten sich an einem der angenehmsten Orte der Stadt mit einem Akustik-Auftritt auf. Metal-Sound und „Great Riot“ unplugged – kann das aufgehen?

Es kann. Zwischen rotem Sofa und Schallplattenkisten spielten die fünf Musiker mit sympathischer Heiterkeit auf – eine unterhaltsame Unplugged-Interpretation ihrer Songs. „You never tried“ etwa, auf dem Album schnörkellos metallisch vorangetrieben, kleidet sich in der Akustikversion in bestes Südstaatenflair. Beim Refrain „Keep on Moving“ will man nur eines: auf den Straßen South Carolinas die Meilen fressen, die Fenster weit geöffnet – “Keep on breathing / breathing fresh air” –, während einen die Räder südwärts tragen.

Die Albumaufnahmen (zehn Songs von gut 43 Minuten Länge) warten mit anderen Geschützen auf. Treibende Rocksongs mit Clean voice-Gesang, melodiösen Refrains und (freundlich ausgedrückt) ziemlich geradlinigen Texten markieren „The Great Riot“ und beweisen in den besseren Stücken die Gabe zu überraschen, etwa mit spielerischen Progressive-Anleihen im sonst schnörkellosen Bett des Nu Metal. Zu den Höhepunkten des Albums zählt sicher „Precilla“, das flott und rhythmisch voranknüppelt – ein echter Kopfnicker.

Zwei Songs fallen aus diesem Raster: die gefällige Ballade „No one“ und das durchaus gelungene „Teardrop“-Cover (Massive Attack). Zwar muss die Coverversion ein wenig Überzeugungsarbeit leisten, gefällt dann aber immer besser: zu süßlich die ersten Takte, zu wenig markant die Stimme von Daniel Neuberger, aber dann legt der Song los (und erinnert fern an „Swamped“ von Lacuna Coil) und man denkt sich: Hut ab.

Überzeugend ist das Album alles in allem trotzdem nicht: manche Songs bleiben einfach zu flach und insgesamt fehlt „The Great Riot“ noch ein Quantum musikalischer Eigenart, an Charakter. Zu den Großen gehören Carver eben doch nicht. Und bleiben eine Stimme aus der Hinterbank.

The Great Riot
Released: 1.2.2013
Label: Supreme Chaos Records/Soul Food