24. Der Tag der Soledad
Einen Sack Reis gibt es unter anderem, ganze 25 Kilogramm Reis. Was für eine Pracht! Was als Witz über glückliche einstige Inkarnationen als Aufseher von Getreidespeichern begonnen hatte, endete in diesem leibhaftigen Sack Reiskörner. Vollgefressen, gemästet ergötze ich mich an dem Anblick, kann mich immer noch an dem Bild von Essen erfreuen, obwohl ich mich jetzt schon selbst schlachtreif fühle. Irgendwann wird das Essen zum Selbstläufer, zum sinnentleerten Automatismus, der einen durch die Feiertage steuert und jegliche Anflüge von Selbstzweifel oder Unruhe unterdrückt. Ja, das Fressen, das ist wie Computerspielen oder Wichsen aus Langeweile. Wie aber soll man sich in der Weihnachtszeit diesem Strom an Leckereien auch erwehren? Jede Verteidigungsstrategie scheitert gegen dieses Große Fressen. Da bleibt, wie ein Schulfreund an diesem Tag noch sagen wird, nur noch der Weg in die Bulimie.
Der Abend findet mich in einer Kneipe wieder. Viele Gesichter, die man vielleicht schon ein Jahr lang nicht mehr gesehen hat. Es ist berauschend. Jeder freut sich selbst über bloße Bekannte aus früheren Zeiten. Ein vergessen geglaubtes Gefühl kommt auf und wir schwingen alle in Glückseligkeit. Was ist es, was uns in schiere Euphorie versetzt? Sind es wirklich all diese Menschen? Der gemeinsame Background, das ist es, was uns zusammenschmiedet und glücklich macht, erklärt mir ein Freund, Mensch Nummer 500, mit dem ich an dem heutigen Abend Worte wechsel. Wir sitzen an der Theke und dann beginnt er vom „Fest der Liebe“ zu sprechen. Da sitzen wir also, ohne Frauen, und es soll das Fest der Liebe sein. Sie blickt mich an – könnte es doch heißen, aber nein: Es ist der Tag der Soledad. Eine Parabel wird nachgeliefert. „Ich erzähle euch eine Geschichte“, beginnt mein Freund neben mir an der Theke. „Stellt euch eine hohe Mauer vor, einen Hof dahinter und darin die Frauen, auf die wir unser Leben lang gewartet haben, von Aliens dorthin entführt. Und ich sage euch, Brasilien ist auf dieser Welt der Ort, der diesem Platz am nächsten kommt.“ Ja, Brasilien, schön und gut, denke ich, aber wir sitzen hier in Deutschland.
Irgendwann wird es schließlich zu viel: zu viele Sinnesreize, zu viele Menschen, zu viele Freunde sogar, man ist gesättigt. Ein Schiffbrüchiger in einem Meer aus Leibern, Wellen aus Lärm schlagen über dem Kopf zusammen, man ertrinkt fast, Atemnot stellt sich ein in den Nebelschwaden aus Rauch, die über diesen Wassern hängen und die Sicht verhüllen; ein gespenstischer, hoffnungsloser Ozean. Auf einmal ist man einsam. Einsam in der Menge und es bleibt nur die Flucht hinaus in die Nacht, in die kühle, leere Nacht. Der neblige Burgberg ragt empor und die Füße nehmen die niedrigen Stufen hoch, weg von den Menschen, hinauf, hinaus aus dem Meer der Geselligkeit. Der Blick fällt zwischen feuchten Buchen hinab auf den Friedhof. Rote Kerzen brennen auf den Gräbern und ich erinnere mich, dass ich in all den Jahren seit seinem Selbstmord immer noch nicht an P.s Grab dort unten gewesen bin.