… und stehe, weil ich von dem Albtraum auf der Alb noch nichts weiß, von der Bank auf und mache mich weiter gen Süden. Die Schönheiten des Weges – goldenes Getreide auf den Feldern, reifer und die Landschaft bereits viel wärmer als an den letzten beiden Tagen; stille Tümpel im Schatten der Bäume; gurgelnde Bäche und das Ried und die Felsen im Brieltal – haben nicht mehr meine volle Aufmerksamkeit. Die Füße schmerzen, die Knie ziehen, die Beine ächzen, ich bin hungrig und durstig. Das letzte Dörfchen vor meinem Ziel betrete ich über eine Seitenstraße, zwei Bauern machen sich auf ihrem Hof an einem Gerät zu schaffen, stumm stellt sich mir ihre Abneigung entgegen. Ich rufe ein kräftiges „Grüß Gott“ hinüber und zwinge so dieses verstockte Volk wenigstens zu einem murmelnden Gruß, der sich unter Mühen ihren verschlossenen, misstrauischen Gesichtern entwindet.
Im Brieltal
Dann bin ich am Ziel. Die Tür der Pension ist verschlossen, ich rufe übers Handy die Wirtin an, ach schon da, ja, sie wird vorbeikommen, es wird eine Dreiviertelstunde, nein, eine halbe Stunde dauern, verbessert sie sich rasch. Es tue ihr leid. Ich setze mich auf einen weißen Plastikstuhl vor der Pension – einer ehemaligen Gaststätte, man sieht noch verblichen den Namen des einstigen Wirtshauses -, über die Bundesstraße rauscht ein Strom an Blech an mir vobei. Nach einer Weile öffnet sich in meinem Rücken knarzend ein Fenster. Eine zerknautschte, alte Frau blickt auf mich herab, sie sagt etwas. Ich verstehe sie nicht, ahne nur, beruhige sie: Ja ja, sie wird kommen, ich habe sie angerufen, es kann nicht mehr lange dauern. Das hoffe sie aber, glaube ich die alte Frau sagen zu hören. Da ist wohl Spannung in der Luft zwischen den beiden Generationen.
Ein Auto mit Familie fährt schließlich auf den Hof, der Mann zwingt sich zu einem kleinen Smalltalk mit mir, erklärt, dass sie ja gar nicht hier wohnten, sondern seine Frau nur noch für seine Mutter diese Pension verwalte. Dann führt mich die Ehefrau, eine Russin, vermute ich, ins Haus, zeigt mir Bad und Zimmer, der Schlüssel wechselt gegen Bargeld den Besitzer, ich solle ihn morgen einfach stecken lassen, denn wir sehen uns nicht mehr, hier im Haus wird niemand ansprechbar sein, ein Frühstück ist sowieso nicht im Angebot eingeschlossen. Die Frau geht, das Auto fährt ab und ich bin allein in dem Haus mit der alten Frau im Stockwerk unter mir.
Das Zimmer ist sauber und günstig, immerhin, aber das ist auch alles, was sich Gutes sagen lässt. Das ganze Haus atmet etwas Überholtes, etwas, das nicht sein darf. Es ist ganz Lieblosigkeit. Ich betrete das hellere der beiden Gemeinschaftsbäder – ein funktionaler, unschöner Raum, seine einzige Einrichtung ist das Putzzeug zur Reinigung, das ganz offen, schamlos geradezu dasteht, um es möglichst rasch zur Hand zu haben. Ich setze mich aufs Klo und blicke den Autos entgegen, die über die Bundesstraße aus Oberschwaben heraufkommen, ein Wagen nach dem anderen. Frei ist mein Blick auf die Straße, der Blick von der Straße zu mir.
Zum Duschen wechsel ich in das andere Bad. Es ist düster, nur über der nicht bis zur Decke hochgezogenen Trennwand empfängt es Licht aus dem Nebenbad. Während das Wasser an mir herunterrinnt, höre ich Schritte. Ich bin also doch nicht allein in diesem Haus, auf diesem Stockwerk. Damit habe ich nicht gerechnet. Der Unbekannte kommt näher, betritt das andere Bad, ist nur noch eine Armlänge von mir entfernt. Er kümmert sich nicht darum, dass gleich hinter der oben offenenTrennmauer jemand duscht, und setzt sich ungeniert aufs Klo. Ich wische mich mit meinem T-Shirt trocken (Handtücher gibt es keine) und ziehe mich in mein Zimmer zurück, rette mich dann nach draußen auf die Straße. Jetzt ist endlich Zeit für eine vernünftige Mahlzeit!
Ich mache mich auf ans Dorfende zum Gasthaus (wo es ebenfalls Zimmer, allerdings deutlich weniger günstige, gibt) und mir wird bange beim Blick auf den leeren Hof. Tatsächlich, es ist geschlossen: Ruhetag. Meine Laune sinkt im Steilflug. Eine andere Möglichkeit, in diesem Ort Essen zu bekommen, gibt es nicht (außer an einer Tür zu klingeln und zu betteln). Die umliegenden Orte sind für meine geschundenen Füße gerade weit genug weg, um den Plan zu verwerfen, davon abgesehen, dass ich keine Garantie habe, dort ein offenes Gasthaus zu finden. Ich versuche über das Smartphone einen hilfreichen Hinweis zu finden, vergebens. Nur ganz am Rande des Dorfes habe ich einen minimalen, schlechten Empfang. Ich werde mich also nicht einmal damit ablenken können, auf meinem Zimmer durch die sozialen Medien zu stromern. Aber halt, eine Bushaltestelle! Ich suche den Plan, tatsächlich, es fährt auch abends noch ein Bus hinab ins Donautal zur nächsten Stadt, die nur einige Kilometer weit entfernt ist. Aber was besagt dieses Zeichen da hinter der Uhrzeit? Nur bei Anruf eine Stunde vor Fahrtbeginn … Zur Hölle nochmal.
Was tun, was tun? Ich drehe mich um und strecke den Daumen raus. Habe ich das schon lange nicht mehr gemacht. Sieht man ja auch kaum mehr heutzutage. Ich kneife die Augen gegen das abendliche Sonnenlicht zusammen, halte die Hand mit dem gestreckten Daumen raus. Fahrzeug an Fahrzeug fährt ungerührt an mir vorbei. Ich bin zu alt, ach nein, diese gesamte Anhaltersache ist zu alt, für jemanden wie mich jedenfalls hält heutztage niemand mehr an.
Geschlagen mache ich mich auf ins Zimmer. Ich höre Schritte des Anderen im Nebenzimmer. Ich kaue den allerletzten Rest Walnüsse – kein Esslöffel voll ist es – und trinke einen Kamillentee, das einzige, was diese Pension anbietet, alte Teebeutel, eine nicht ganz sauber aussehende Tasse, ein Wasserkocher im Flur. Ich beschließe, bis morgen Früh meine Zimmertür nicht mehr zu öffnen. Wie mich ablenken bis dahin? Ein Fernseher, ja es gibt einen Fernseher. Er wird mich (ich habe zuhause keinen) ganz dümmlich machen, einer Gehirnwäsche gleich, wird mich entsetzt und verständnislos zurücklassen, aber immerhin – Ablenkung den restlichen Abend hindurch!
Ich scheitere daran, das Gerät zum Laufen zu bringen.
In Ordnung, irgendwo im Rucksack ist ein Büchlein, das tut es doch, besser sogar. Ich lese, bis es dämmert, schließe dann die Augen.
Es ist stickig heiß im Zimmer. Ich öffne die Fenster und werde von dem Lärm der Fahrzeuge ins Kissen gedrückt. Hoffnungslos. Ich schließe das Fenster wieder und liege wie ein Sack in der drückenden Hitze. Die Füße schmerzen, noch mehr schmerzen die Knie, sie werden die ganze Nacht hindurch schmerzen, mich immer wieder wachhalten, bis in die Hüften hinein schmerzt es.
Die Nacht ist ein Dahindämmern zwischen Unruhe und Erschöpfung. Das Bild des Rehkadavers drängt sich mir immer wieder auf, ich höre Schritte des Unbekannten nebenan, ich höre etwas von unten aus der Wohnung der alten Frau, ich höre die Autos erbarmungslos rauschen, die Scheinwerfer blitzen durch die dünnen Jalousien, der Magen knurrt, ich wälze mich in der Hitze hin und her, Schritte vor meiner Tür, die leeren Augenhöhlen des Rehs, die Schmerzen, Schritte …
*
Der Rest ist schnell erzählt. Irgendwie überlebe ich die Nacht, diese Nacht in Bates Motel, diesen Tag wie aus einem Film von David Lynch. Es ist 6.15 Uhr, als ich aus dem Haus flüchte, die letzte Angst, die Haustüre wäre verschlossen und ich gefangen, verflüchtigt sich und ich bin draußen, unterwegs. Die Sonne steht bereits am Himmel. Sieben Kilometer sind es bis zum nächsten Dorf, vielleicht werde ich dort einen Bäcker finden. Einen Kaffee und etwas zu essen, das treibt mich trotz der Schmerzen an. Den Blick der Autofahrer, die mir auf den Landsträßchen entgegenkommen, entnehme ich, dass sie Wanderer um diese Uhrzeit nicht gewohnt sind. Schön ist der Weg auch dort nicht, wo ich die Fahrzeuge zurücklasse: auf einem kilometerlangen, beinahe schnurgeraden Waldweg über den Höhenzug. Solche langen Achsen haben immer etwas Bedrohliches für den Fußgänger, selbst noch für den Radfahrer.
Ich erreiche das nächste Dorf und finde nichts. Also weiter, die nächsten sieben Kilometer. Der Abstieg ins sonnenverzauberte Tiefental (schon wieder eines!) – mir gleichgültig. Die gewundenen Wege durch das wirklich sehenswerte, verschlungene, tiefe, grüne Wolfstal – nebensächlich. Kein Blick für die reizende Lauter, deren Wasser ich quere. Ich will weiter, ich will weg, ich will etwas zu essen, ich steige keuchend den Hochberg empor, mache dort eine kurze Rast.
Das einsame Wolfstal
Zum ersten Mal komme ich mit einem Wanderer in ein längeres Gespräch. Eine Tagestour macht der freundliche, bärtige Mann, der sich neben mir auf einer Bank niederlässt, eine seiner geliebten Erkundungstouren durch sein Schwabenland. Wir reden über Gott und die Welt oder genauer: über Deutschland früher und heute. Nie hatten wir es so gut wie heute, meint er, und trotzdem, wir haben so viel Unzufriedenheit, so viel Unruhe, so viel Depression und so viel Hass in uns. Wir, die Heutigen, stehen am Abstieg eines Gipfels, einer historischen Ausnahme, die wir undankbar zu schätzen verlernt haben. Die Zeiten werden härter werden.
Das Thema ist ernst, aber der Mann lacht viel, er spricht milde, er freut sich über einen Plausch mit Blick über Oberschwaben, hinüber zum Bussen dort drüben, der letzten markanten Höhe bis zum Voralpenland. Doch der Hunger treibt mich weiter. Ich wünsche dem Mann einen schönen Tag, steige hinab, durch ein Dörfchen, von dem nichts zu erwarten ist, schreite über halb überwucherte Wege. Endlich stehe ich in Rechtenstein, dem nächsten Hoffnungsort. Kraftwerk, Burg, Bahnhof – alles vorhanden! Aber kein Bäcker. Kein Laden. Das Gasthaus um diese Zeit natürlich noch geschlossen.
Die südlichen Ausläufer der Schwäbischen Alb
Ich tobe innerlich, nehme den nächsten Ort ins Visier. Den wunderschönen Pfad entlang der braunen Donau, schmal hier noch und trotzdem schon ehrfurchtgebietend mit ihren geheimnisvollen Strudeln, dem rätselhaften Platschen, kann ich nicht mehr würdigen. Auch Emeringen: Fehlanzeige. Mein Blick verengt sich, ich habe längst zu schielen begonnen, habe einen Tunnelblick, lege immer öfter kurze Pausen ein, die Füße brennen.
Zwiefaltendorf, das offizielle Etappenziel, lasse ich links liegen und mache mich auf der Halbhöhe ins Tal der Ach hinein, dorthin, wo bereits die Kuppeln des Münsters von Zwiefalten über die Hänge ragen. Mittags bin ich endlich dort, nach 25 Kilometern Marsch seit der Flucht aus der Pension. Ein Café vor dem Münster ist geöffnet, endlich, ich esse und trinke, ich bin so berauscht, dass ich mir nochmals etwas bestelle und übertreibe. Das Essen tut mir nicht gut, es war die falsche Wahl, mir wird übel von der Schlagsahne, ich könnte wüten darüber, dass ich mir meinen heiß ersehnten Genuss so leichtfertig wieder zunichte gemacht habe. Das ist Hass auf mich selbst.
Als ich mich in einen Sitz des leeren Busses fallen lasse, der mich über die Schwäbische Alb bringen wird, kehrt Ruhe ein. Für die nächste Stunde muss ich nichts mehr tun, nichts mehr wollen. Ich bin Glück.
(In Oberschwaben wird die Reise weitergehen.)