In den Betonauen

Reiher sind, hatte ich immer gedacht, die scheuesten Vögel, die ich kenne. Man kann auf einem Spaziergang entlang eines Baches noch hundert Schritt von dem Tier entfernt sein, und schon erhebt es sich panisch in die Luft. Der silberhaarige Angler unter der Straße hat sie fast gezähmt. Hier in den Betonauen warten zwei Graureiher, den Hals dicht an den Körper gezogen, links und rechts der Bank, auf der sich der Mann niedergelassen hat. Sie kümmern sich nicht um die Passanten, die die Stufen zur Uferpromenade herabsteigen. Sie haben den Angler im Blick und ihre Konzentriertheit spricht von Hunger, ohne dass sie einen Laut von sich geben oder in eine schnelle Bewegung verfallen müssten. Der Mann packt seine Brotzeit aus und wirft nach ein paar Bissen den Tieren etwas hin. Sie staken noch etwas näher und keine zwei Armlängen von dem Angler entfernt schlingen sie ihre Mahlzeit hinunter und verharren dann wieder. Der Mann wartet mit ihnen.

*

Der Sand zwischen den Kieferngewächsen ist aufgewühlt von Menschen- und Hundefüßen. Was im Sommer der „Stadtstrand“ mit seiner Bar und seinen Liegestühlen überm Neckarufer ist, legt nun eher den Verdacht eines Hundeklos nahe. Ein Paar Einweghandschuhe liegt im Sand. In die Dauerbaustelle auf der anderen Seite des Flusses schieben sich Blaulichter. Nicht ein oder zwei, sondern immer mehr Polizeifahrzeuge steuern flussabwärts. Ihr Sirenenklang wird von der Wand hinter der Baustelle zurückgeworfen und vervielfacht die Kakophonie aus Motoren und Bremsen der Autokolonnen, dem Kreischen und Rumpeln der Bahnen auf der Brücke, dem Baustellenlärm, den bauchigen Hupen der Lastwagen. Die Stadt als permanenter Ausnahmezustand. Ob die Baustelle im Frühjahr die Besucher vom Stadtstrand abhalten wird? Jetzt machen nur verstreut ein paar einsame Männer hier Halt, mit Zigarette und Bierflasche zum Mittagsmahl, oder Zigarette und Handy am verkniffenen Gesicht. Auf einer Bogenlampe sitzt ein Kormoran. Sein Gefieder glänzt schwarz in der Wintersonne, der Schnabel dreht sich alle paar Augenblicke hin und her. Man ahnt die dunklen, aufmerksamen, fast einschüchternden Augen, die alles im Blick behalten von seinem rostigen Thron herab. Wie viel agiler er wirkt als ein Reiher – ein aktiver Jagdtaucher eben, kein abwartender Schreitvogel. Kein Wunder, dass er den Reiher mehr und mehr von unseren Flüssen drängt. Drüben jagt eine weitere Kolonne unter Blaulicht die Uferstraße hinab.

*

Nach dem, was man eine Weihnachtsfeier nennen mag, lasse ich die Stadtbahn vorerst liegen und gehe zu Fuß über die Brücke. Vom Zirkuszelt am linken Ufer dringt ein gehaltener orchestraler Ton. Das beleuchtete Zelt wirft Lichter auf den Fluss: Streifen säuberlich wechselnd in Weiß und Orange. Weiter stromaufwärts zittern nur noch Linien aus Weiß auf dem dunklen Wasser, im Himmel aber funkelt das Rot von Türmen und Kränen; rechts, wieder zur Brücke hin, gesellt sich eine neue Farbe hinzu, eine Fläche von Blau neben Weiß, und aus den glänzenden Rohren des Mineralbades quillt chlorgetränkter Dampf. Die Brücke erbebt unter den Fahrzeugen, ein kalter Wind kommt mit der Flussströmung herab und lässt mich frösteln. Eine ungeheure Müdigkeit hat sich meiner bemächtigt, sie hat nichts mit ein paar Stunden Schlaf zu tun. Sie sitzt – wie man so sagt – in den Knochen, eher noch tief im Mark. Unter mir teilt eine Insel den Fluss: Gras, ein Busch, umfasst von Beton. Ich suche die Oberfläche mit den Augen ab und entdecke nichts: kein Reiher, kein Kormoran. Die Vögel träumen woanders.

Hirsch röhrt, Strauß stirbt

Die Hänge gleichen einer Wüste. Was einst Wälder waren, ähnelt einem Schlachtfeld aus geknickten, zersplitterten, zerstreuten Stämmen. Erst hatte der saure Regen Vorarbeit geleistet, dann kamen zwei Orkane mit vernichtender Wucht, was danach noch stand, hatte der Borkenkäfer zerstört. Heute noch stehen und liegen kahle, entrindete Bäume am Berg, von der Sonne gebleicht wie die Knochen einer zugrunde gegangenen Karawane.

Als der Wecker klingelt, steht der Vollmond noch am Himmel. Ich sehe ihn direkt von meinem Bett aus durch das Fenster des Baumhauses. Der runde Mond färbt, da die Sonne noch nicht aufgegangen ist, die Welt in einen fahlen gelblichen Ton. Es ist eine unwirkliche Farbe, wie sie nur in Zwischenzeiten möglich ist. Später, als ich von der Schnellstraße nach Osten abbiege, fahre ich geradewegs ins Morgenlicht. Die tiefstehende Sonne erreicht dank der Schutzblende nicht direkt meine Augen, trotzdem lässt mich diese Flut an Licht fast erblinden, kaum erkenne ich die Straße vor mir. Und dann ist schlagartig alles anders. Im Lichtschatten des Berges vor mir wandelt sich das Tal übergangslos zu einem kühlen, dämmerigen Landstrich, einem Reich Saurons. Nein, in solchen Schatten wollte ich nicht leben. Als ich am Parkplatz aussteige, friere ich, an einem Sonntagmorgen Ende August.

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Wege

Beim Aufstieg wundere ich mich über den jungen Wald, den zahlreichen Ahorn, auf dem Rückweg dann erfahre ich den Grund. Eine Schautafel zeigt in drei Bildern die Veränderungen der Forstlandschaft. Bis 1990 war auch an diesen Hängen wie vielerorts im Allgäu (eine seiner reizloseren Seiten) Fichten-Monokultur vorherrschend: schnell wachsende Flachwurzler. Das zweite Foto zeigt die verheerenden Zerstörungen durch Orkane im Jahr 1990, bei dem ganze Hänge leergefegt wurden. Das dritte ist ein rechteckiger Ausschnitt in der Tafel: Es öffnet den Blick auf den echten Wald dahinter. Einen Mischwald, der in vieler Hinsicht eine Bereicherung und Gesundung darstellt, zugleich sicher weniger Rendite abwirft (das steht nicht auf der Tafel) und nicht zuletzt auch stärker bejagt werden muss (was sehr wohl erläutert wird). Erst Schaden macht klug. Und ich denke zurück an jenes Jahrzehnt, als das Schreckgespenst des sauren Regens in der Bundesrepublik umherging, das Waldsterben die Westdeutschen um ihren Schlaf brachte und wir Kinder Karl dem Käfer für die Hitparade die Daumen drückten …

Interessant wird der Aufstieg erst im Häbelesgund. Hier öffnet sich ein Kessel, der Wald weicht Latschenkiefernbewuchs, mächtig erhebt sich die Rückwand in die Höhe. Unterhalb des schräg geschichteten Gesteins ziehen sich erstarrte Ströme aus Geröll herab auf den Kesselboden, sie verbreitern sich zum Grunde hin, und dort wo sie sich treffen, bilden dicke Felsbrocken die Speerspitze. Der Weg weicht dieser drohenden Klinge aus, er gabelt sich. Links windet er sich auf den bewachsenen Breitenberg, rechts ziehen sich Serpentinen über steile Schotterflächen auf die Rotspitze. Dort steige ich hinauf, während sich die Sonne über die rückseitige Kesselwand erhebt und den Weg erstrahlen lässt. Mit jeder Wende komme ich dem ergrauten, aber bergerprobten Paar über mir näher, und kaum könnte ich zum Überholen ansetzen, verliert sich der Weg auf einer kiefernüberwucherten Kante. Stoisch und ohne Tempowechsel setzt der Graubart vor mir einen Stock vor den anderen, ich hingegen gerate fast auf alle Viere, wie ich mich an Wurzeln und Gestein klammere, den Abgrund zur Rechten spüre und doch nicht sehen will. Als ich den Grat hinter mir lasse und der Weg sich wieder zurückwindet, ist das Paar davongezogen. Schattseitig geht es weiter, der Fels ist hier noch kalt, wie meine Hände staunend ertasten, der nackte Ellbogen streift das Gestein. Das Paar hole ich wieder ein, aber ich überhole es bis zum Gipfel nicht, denn immer wieder falle ich dort zurück, wo ich zögerlicher werde, denn die beiden vor mir kennen den Sog der Tiefe nicht. Endlich auf dem Gipfel wundere ich mich über Wanderer, die sich die Mühe machen, eine Bierflasche mit in die Höhe zu tragen, ich stütze die Arme auf den Beinen auf, während ich den Rundumblick in meinem Notizbuch festhalte, und als ich die Ellbogen wieder löse, sehe ich Bluttupfer auf der Hose. Nicht stark war der Schlag gegen den Felsen, aber Stein ist eben härter als Fleisch.

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Ausgebleicht

An einem herrlichen Herbsttag Ende der 80er-Jahre waren zwei Familien – vier Erwachsene, fünf Kinder und alle auf irgendeine Weise im BUND (Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland) aktiv – auf einer Wanderung irgendwo in den Tannheimer Bergen. Es war ein perfekter Tag für eine Bergwanderung, ein goldener Herbsttag: golden das schwere Licht, golden das Gras, das Laub der Wälder, der Ruf der Hirsche. Als wir am Parkplatz zurück waren, hörten wir im Radio, dass Franz Josef Strauß, bayerischer Ministerpräsident und Übervater der CSU, gestorben war. Betroffenheit war, um ehrlich zu sein, nicht die vorrangige Reaktion in unserem Kreis. Auch die beiden Familienväter, sensible Männer mit den für die 80er-Jahre typischen Schnurrbärten und gelegentlicher Schwermut in den sanften Augen, Polizist der eine, Lehrer der andere, waren vom Hinscheiden ihres Landes- und obersten Dienstherrn nicht erschüttert. Es war vielmehr, als wäre eine Last von uns abgefallen. Ich will das hier nicht beurteilen, aber ich meine, es sagt etwas aus über das Lebensgefühl im Bayern der 1980er Jahre.

„Es gibt zwei markante Stellen“, beschreibt mir der Mann in seinem charakteristisch schwerfälligen Dialekt die Hohen Gänge. Ich höre auf seinen Rat und steige lieber über die Südseite ab. An der Weggabelung fühle ich mich bestätigt. „Alpine Erfahrung, Trittsicherheit und absolute Schwindelfreiheit erforderlich“, warnt ein Schild vor dem Weg nach Osten. Durch die ersten beiden hätte ich mich noch durchgemogelt, das dritte ist mir ernste Mahnung. Über Grashänge steige ich also ab, suche über vereinzelte felsige Platten meinen Weg, ausgespülte Rinnen zwingen zu tiefen Schritten und lenken die Aufmerksamkeit dorthin, wohin man den Fuß setzt. Das Tier sehe ich erst, als ich zwei Schritte von ihm entfernt bin. Ein Schlangenkopf zuckt empor. Es ist die erste Kreuzotter, der ich in meinem Leben begegne, braun mit dem dunklen Rückenmuster und nicht sehr lang, vielleicht 30 cm nur, aber ganz eindeutig Viper und nicht Natter. Der gedrungene Leib, der charakteristische Kopf mit dem deutlichen Halseinschnitt, das Verhalten des Tieres bezeugen es. Denn nach dem ersten Schreck verharrt es aufmerksam an Ort und Stelle, wartet, ob mich ihr Ruf als giftiges Getier zum Rückzug bewegt. Erst als es merkt, dass ich nicht das Weite suche (sondern nach der Kamera in der Tasche taste), setzt sich die Schlange in Bewegung und kriecht unter ein Grasbüschel, auch dabei nicht gar zu eilig verglichen mit einer hurtigen Ringelnatter (wenn auch immer noch zu schnell für meine Kamera, leider). Die Schlange zischt auf ihrer Flucht. Ist die Schlange so klein, für einen Erwachsenen nicht tödlich giftig und vor allem auf der Flucht vor einem selbst, ist solch ein erstmals vernommenes, drohendes Zischen eine reizende Erfahrung.

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Durst

Am 7. Oktober 1988 geleitete ein Trauerzug Strauß‘ Leichnam durch die bayerische Hauptstadt. Über 100 000 Menschen verfolgten das Ereignis vor Ort – es war der größte Trauermarsch in der Geschichte Münchens. Und zugleich empfand ein Teil der Bevölkerung eine neue Freiheit. Luft zum Atmen.

Kurz vor dem Talausgang komme ich am Café Horn vorbei, von dem mir W. vorgeschwärmt hat, weil der Ort das verklärte Ausflugsziel seiner Kindheit war, dort, wo Kuchen und Torten ausgebreitet waren, um bestaunt zu werden und um aus ihnen auszuwählen. Das war etwas Außerordentliches für W., denn er ist in einer Bäckersfamilie aufgewachsen, da ging man nicht einfach Kuchen anderer Leute kaufen. Volksmusik aus der Dose dringt mir entgegen, ich mache an der Schwelle kehrt und verzichte gerne auf meinen Kuchen. Unten an der Ostrach, fast schon am Ziel, mache ich dann doch noch Halt und setze mich auf die Terrasse eines kleinen Landgasthofes. Die Bedienung ist eng in ein Dirndl geschnürt, aber das ist nur Kulisse, Staffage. Die osteuropäischen Augen verraten die junge Frau noch vor ihrem Akzent. Ihre zur Schau gestellte Langeweile und die Tatsache, dass sie mich mehrmals ostentativ übersieht, ärgert mich, aber zugleich meine ich sie zu verstehen. Da zwängt sie sich für einen saisonalen Job in die Tracht einer Regionalkultur eines anderen Landes und bedient in einem Gasthaus irgendwo zwischen zwei Bergen, wo sie die Hälfte der Besucher ihres Dialekts wegen vermutlich nicht versteht. Das alkoholfreie Weizen bringt mir ihr Kollege an den Tisch. Binnen Sekunden ist das Glas geleert und sofort glänzen meine Unterarme feucht. Der Kellner schaut verdutzt. „Soll ich Ihnen nochmals die Luft aus dem Glas lassen?“ Danke, nein. Frisch getankt geht es nach Hause.

Die CSU regiert noch immer.

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Ein Blick zurück

Die Meditation der Echsen – Pfälzer Intermezzo

Rot – rot die Erde, der Stein, die Mauerquadern, rot noch die schuppigen Kiefernstämme, das Grün des Blätterdachs, wo die Föhren dichter stehen. Dazu Efeu an den Maronenstämmen, deren Ahnen von den Römern über die Alpen gebracht wurden, um hier Wein zu kultivieren, und schwarzölig die Mistkäfer auf Schritt und Tritt. Alles ist Wärme an diesem Land, ist warm und üppig. Es ist ein Sommerland, das sich freigebig verschenkt. Hier wird man nicht auf sich selbst zurückgeworfen, hier verströmt sich der Mensch wie die Landschaft um ihn herum.

Hinter dem Biogut am Ende eines kilometerlangen Tals wird der Waldweg zum Pfad und schließlich zu einem Hang aus Laub und Krumen. Eine aufgelassene Forststraße quert die Pirsch. Gras umrankt die Knöchel, zwischen den Sträuchern liegt die nachmittägliche Junihitze, das Licht so weich. Nach einer weiten Wende erstirbt der Weg an einem Abhang, nur ein Fährte geht steil empor, hinauf zum roten Fels, der in diesen Wäldern immer wieder das Laub durchbricht und sich zur archaischen Wacht in das Blau hinein türmt. Der Geruch des Kiefernharzes trägt Frucht und Feuer, der Felsen ist warm, gierig aufgesogen die frühe Sommersonne. Eidechsen harren auf dem Gestein, ihre Hälser pumpen in der Hitze, die ihr Blut rege macht und ihr Leben lebenswert. Drei Eichhörnchen toben fauchend durch die Wipfel, über dem Tal lässt ein Bussard seinen Schrei. Ich setze mich auf den Fels und möchte für immer bleiben.

Später dann eine Wildschweinbratwurst.

„Welches Gefühl hat Dein Fernweh?“, fragt Christina von der Reisemeisterei. Auf ihrem Blog, auf dem sie auf entspannte Weise zeigt, wie Reisen auch mit kleinen Kindern möglich sein kann, geht sie auch immer wieder mit allen Sinnen dem Fernweh und dem Reiseglück nach. Welche Gerüche wecken Reiselust? Wie hört sich Fernweh an? „Die Meditation der Echsen“ ist (m)eine Antwort auf Christinas Frage zu einer Blogparade.

Pausenfüller mit Gauck und Katze

Von wegen 6 km. Ich komme mit der letzten Bahn aus der Stadt von der Rede des Bundespräsidenten und guten Gesprächen auf dem Empfang und schlage die zweite Weghälfte zu Fuß ein, weil dorthin um diese Zeit kein Zug mehr fährt. Nach 2 km trunkenen Marsches rufe ich mit dem allerletzten Restchen Akkuladung ein Taxi − und dann sind es, wie sich herausstellt, immer noch 8 km. Kluge Entscheidung. Wann, grübele ich trotzdem, hatte mein Arbeitgeber eigentlich das letzte Mal von mir eine Taxirechnung erhalten? Ich erinnere mich nicht daran. Endlich bin ich im Dorf, jetzt heißt es nur noch im Finstern die Stufen zur Burg empor. Unter den Bäumen sehe ich nichts, ohne Handlauf wäre es eine furchtbar blutige Sache geworden, aber auch so dauert es eine halbe Ewigkeit. Als ich oben die romanische Kirche passiere, schlägt es unter weitem Sternenhimmel halb 1 Uhr und an den Stufen zur Hoteltür empfängt mich eine nachtwachende Katze. Sie reckt sich, sie streckt sich unter meiner Hand und schnurrt begierig. Es ist irgendwie wie nach Hause kommen. Das Leben ist wunderbar. Heute zumindest − über morgen Früh können wir dann noch reden.

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Blick in den kostenlosen Bücherfundus – geöffnet nur sonntags nach dem Gottesdienst

 

Am Katzenbach liegt der Hund begraben – Von Tierfriedhöfen und anderen Todesfällen

„Mein Wotan“

Spaziert man von Heumaden nach Hedelfingen hinunter (zwei Vororte im südöstlichen Stuttgart), stößt man in einem idyllischen, waldigen Tal recht unerwartet auf einen kleinen Friedhof. Hinter einer Hecke zeigen sich die üblichen Verdächtigen: eine Rasenfläche, Grabsteine, rote Sitzbänke, die spitze Thuja. Doch dann irritiert etwas: Die Grabstellen sind merkwürdig klein und auf den Steinen steht oft nicht mehr als ein einzelner Name: „Michel“, „Bissy“ oder gerade noch „Mein Wotan“. Hier am Katzenbach liegt tatsächlich der Hund begraben – es ist Stuttgarts ältester Tierfriedhof. Auf ihm können Mitglieder des bmt e.V. Tierschutzzentrums Pfullingen seit über 40 Jahren ihr verstorbenes Haustier (Hunde und Katzen) bestatten belassen. Die Grablaufzeit beträgt 5 bis 7 Jahre und kann verlängert werden. Manche der Gräber werden schon weit länger liebevoll gepflegt.

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Am Katzenbach

Die Kadaverkiste

„D‘Katz isch vermäht“, das ist so ein Satz, den ich mit meiner Kindheit und Jugend verbinde, wenn das im hohen Gras mausende Tier – ein Katzentier, das nur zur Mäusejagd ins Haus gelassen wurde – vom Mähwerk eines Bauern erwischt worden war. Das war traurig, aber nicht mehr. Tränen wurden da nicht vergossen und eine solch enge emotionale Beziehung zu einem Tier, wie sie sich im Heumadener Tierfriedhof ausdrückt, ist mir fremd.

Was geschah damals mit unseren toten Tieren? Todkranke oder schwerverletzte Katzen verkrochen sich oft zum Sterben irgendwohin, ins Gebüsch, unter eine Scheune, und waren fortan nicht mehr gesehen. Einmal hatte sich ein Huhn am Gartenzaun erhängt (ein unglücklicher Unfall), es wurde dem Fuchs an den Waldrand gelegt – solche Gaben waren sofort weg. (Man darf vermuten, dass Fleischkonsum in unserer Familie keine große Tradition hatte.) Was sonst an Kleintieren anfiel – eine getötete Katze, Kanarienvögel oder die Hasen –, wurde irgendwo in der Wiese verbuddelt, unter einer Schicht von Kalk, damit die Hunde sie nicht wieder ausgruben.

Starb ein größeres Tier – ein Kalb oder eine Kuh beim Nachbarn, ein Pferd, ein Hund oder eine Ziege bei uns – war alles anders. Man klemmte sich ans Telefon, drehte (damals noch) die Wählscheibe und rief bei der Tierkörperbeseitungsanlage an. Die schickten dann einen Lastwagen vorbei mit einem Kran. Dieses hässliche Drachenmaul mit seinen drei oder vier Zähnen (ich erinnere mich nicht genau) hub den Kadaver über die hohe Außenwand des Aufbaus und überließ es der Fantasie des Zuschauers, wie es dort auf der Ladefläche aussehen mochte.

War es kein zu großes Tier, konnte man es alternativ auch erst einmal in einer großen, metallenen Kiste am Straßenrand zwischenlagern. Diese Kisten gibt es wohl schon lange nicht mehr. Als Jugendlicher aber, wenn ich wochenends mit dem letzten Zug (oder noch später in der Nacht per Anhalter) aus der Stadt kam und dann die letzten vier Kilometer nach Hause durch die Pampa wandern musste, kam ich – ausgerechnet am dunkelsten und steilsten Teil des Weges – an solch einer Kadaverkiste vorbei. Es war mir nie geheuer. Obwohl es bergauf ging, beschleunigte ich jedesmal meinen Schritt und bemühte mich gleichzeitig, meinen Atem flach und meine Schritte leise zu halten. Und jedes Mal, wenn ich das mattmetallene Rechteck passierte, stellte ich mir die Frage: Verwest da drinnen gerade etwas, das tote Auge glotzend aufgerissen und womöglich auf mich, den nächtlichen Wanderer gerichtet?

Das TierKBG und ein neuer Trend

Das Tierkörperbeseitigungsgesetz regelt, dass Haustiere auf dem eigenen Grund begraben werden dürfen, wenn die Stelle weder an einem Weg noch in einem Wasserschutzgebiet liegt und der Leichnam von einer mindestens 50 Zentimeter tiefen Erdschicht bedeckt wird. In städtischen Ballungsräumen für viele Menschen allerdings keine Möglichkeit. Hier landen die meisten Haustierkadaver (zusammen mit Schlachtabfällen) in Tierkörperbeseitigungsanlagen, wo sie geschreddert und zu Dünger, Seife oder Schmiermittel verarbeitet werden.

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Anubis-Tierbestattungen in Fellbach

Wer das nicht will, hat die Möglichkeit, sein Haustier auf einem Tierfriedhof zu bestatten. Neben dem exklusiven Friedhof in Heumaden gibt es seit einigen Jahren einen größeren Tierfriedhof im Ortsteil Fasanenhof. Auch Nachbargemeinden (Kornwestheim, Fellbach) bieten Tierbestattungen an. Dabei treten allerlei Fragen auf. Darf ein Tier nach – beispielsweise – christlichem Ritus bestattet werden? Die Stadt Stuttgart jedenfalls verbietet sakrale Zeichen und Zeremonien auf Tierfriedhöfen.

Fasanenhof – Eine Ortsbesichtigung

Fasanenhof, das klingt nach Idylle. An Lustschloss und Fasanerie erinnert an dem Stuttgarter Außenbezirk allerdings nichts mehr. Am Europaplatz nahe der Stadtbahnhaltestelle (erst seit 2011 besteht Anschluss an die Straßenbahn) verkündet ein gewaltiges Schild ein Bund-Länder-Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“. Das hat der Stadtteil im Süden der Schwabenmetropole dringend nötig.

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Stadtentwicklung im Fasanenhof

In den 1960er-Jahren war auf den Feldern eine Wohnsiedlung für 10 000 Menschen hochgezogen worden. Wohnraum war die Maxime, und diese Seelenlosigkeit atmet die Siedlung: die militärisch angelegten Reihensiedlungen, die wuchtigen Wohnblöcke, die Hochhäuser, die Betonkirche am Europaplatz. Da versöhnt auch das viele Grün nicht. Und das Relief mit antiken Motiven aus den Trümmern der (1943 im Bombenhagel zerstörten) Landesbibliothek, das der Verschönerungsverein Stuttgart am Europaplatz aufgestellt hat, wirkt so verzweifelt wie die Schülerkunst („Amok“) entlang des Boulevards bezeichnend. Immerhin, die Verkehrsanbindung ist gut: an die Autobahn (ein Dauerrauschen), an den Flughafen Echterdingen (immer wieder das Dröhnen tieffliegender Maschinen), mit der Stadtbahn ist man in 20 Minuten im Zentrum Stuttgarts. Und die Autos vor den Wohnanlagen zeugen von Geld.

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Im Fasanenhof

Ich lasse die Gärtnerei hinter mir, passiere den Sportplatz und schlage den Feldweg ein, der schnurstracks an die Autobahn führt. Hier liegt der Tierfriedhof Fasanenhof. Sein Charakter ist ein ganz anderer als der in Heumaden: eine großzügige und frei begehbare Rasenfläche, geschichtes Holz, einladende Sitzbänke, Werkzeug am Gebäude. Und zwischen dem Grün Reihen niedriger Grabstätten, die oft erst auf den zweiten Blick als solche zu erkennen sind, verziert mit Natursteinen, Keramikfiguren, Glasschmetterlingen, Fotos und allerlei mehr – eine bunte, frei und ungezwungen gestaltete Welt der Erinnerung.

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Der weite Rasen des Tierfriedhofs

Kaum zu glauben, dass hier vor einigen Jahren nichts als ein wildes Gelände voller Steine war. „Aber es ist noch viel zu tun“, erklärt mir Betreiber und Totengräber Ralf Bohler, der vor drei Jahren den Tierfriedhof von seinem Vorgänger übernommen hat. Bohler ist stolz – und spürbar glücklich. „Man spürt die Dankbarkeit“, lächelt er. Die Menschen haben freie Hand bei der Gestaltung der Gräber. Manchmal kommen sie im Sommer, um ein Picknick auf dem Gelände zu machen, und Bohler setzt sich nach der Arbeit oft selbst auf eine Holzbank und genießt die Idylle.

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Fröhlich-buntes Gedenken

Idylle? Zuerst klingt es merkwürdig: Die Autobahn ist kaum mehr als einen Steinwurf entfernt und da ist immer noch etwas von meinem eigenen Befremden angesichts von Tierfriedhöfen. Als ich dann nochmals eine Runde über das Gelände mache, mir die geschmückten Grabstätten ansehe und mich auf einer Bank niederlasse, verstehe ich Ralf Bohler und seine Besucher. Es ist ein einladender Ort.

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Auf dem Friedhof

Das Kaninchen aus dem Zauberhut

„Weißt du das schon? Kürzlich hat der Hund ein totes Kaninchen im Maul nach Hause gebracht. Wir haben es sofort erkannt, es war von den Nachbarn. Ich sage dir, sind wir erschrocken: Jetzt hat unser Hund das Tier totgebissen! So ein Mist. Und dann? Haben wir dem Hund das Karnickel weggenommen, das Fell gesäubert und das tote Tier heimlich dem Nachbarn wieder in den Kaninchenstall gelegt. Damit es wenigstens nicht unser Hund war. Und jetzt pass auf: Am nächsten Tag kommt der Nachbar und erzählt uns: ‚Schon komisch, gestern ist unser Kaninchen gestorben, wir haben es im Garten beerdigt und jetzt liegt es wieder im Stall …’“

Der Schrecken unterm Salbeibusch

Der Tod von Tieren war auf dem Land allgegenwärtig. Gleichzeitig aber war er mir in seiner Konkretheit auch entrückt: Wir schlachteten zuhause nicht. Ich kümmerte mich nicht darum, wenn eines unserer Tiere starb. Es war einfach nicht meine Angelegenheit. Meine Scheu vor dem Leichnam war immer schon präsent. (Unvergessen allerdings sommers die verendeten Rinder auf dem Feld des Nachbarn, auf dem Rücken liegend, die Beine obszön in die Luft gestreckt, der Leib vollkommen aufgedunsen und schließlich geplatzt, ein bestialischer Geruch entströmte dem in Verwesung begriffenen Pansen.)

Nur einmal war ich, so weit ich mich erinnere, ganz unmittelbar in eine Kadaverbeseitigung einbezogen. Mein Bruder und ich saßen vor unserem Elternhaus, wir waren längst keine Kinder mehr. Ein penetranter Geruch hing in der Luft – ein stechender Geruch nach Verwesung, der sich unmöglich ausblenden ließ. Rund um die Terrasse aus gehobelten Brettern erstreckte sich ein Kräutergarten. Irgendwo dorther musste der Geruch kommen, genauer (wir folgten der Spur) aus einem weiten Salbei, einem niedrigen Gestrüpp – eine unverwüstliche Pflanze. Eine Tat war gefragt. Mein Bruder und ich beschlossen, die Gabel aus dem Stall zu holen. Doch dann zögerte ich und ich drückte die Gabel feige meinem jüngeren Bruder in die Hand. Die Vorstellung, aufs Blinde dort nach der Quelle des Verwesungsgestanks zu stochern, war unerträglich für mich.

Also machte sich mein Bruder ans Werk, drehte mit den Zinken die Salbeizweige. Bis er fündig wurde: eine tote Katze, der Körper verzogen, wohl ein verletzter Kater, der sich zum Sterben hier unter die Kräuter geschleppt hatte. Der Kadaver war in die Pflanzen verstrickt, er ließ sich nicht einfach so herausheben, es war, als zerrten die Pflanzen an dem in Auflösung begriffenen Katzenleib. Da wich mein Bruder zurück und wandte sich vor Ekel um, er schob den Griff der Mistgabel von sich.

Ich übernahm. Es war wie ein Rollentausch. Jetzt, wo die grauenvolle Andeutung des Todes beseitigt war und die Ursache konkret vor meinen Augen lag, war es nicht mehr schlimm für mich. Ich zerrte mit der Gabel an dem Kadaver und befreite ihn aus der Umklammerung des Salbeis, trat auf die Straße – ein paar Maden fielen herunter, aber nicht gar zu viele, der Kadaver war bereits halbwegs ausgetrocknet –, schritt mit meiner leichten Last über die Wiese zum nächsten Waldrand. Ich warf das verwesende Tier hinter einen Baum und schulterte die Gabel. Der Geruch des Todes war bald von der Terrasse verflogen.

Wer mehr über die Stuttgarter Tierfriedhöfe erfahren möchte:

Tierfriedhof Stuttgart (Fasanenhof)

Tierfriedhof Heumaden

Snippets from London. Ein Dezemberspaziergang (Teil 3)

47.

Wie schamlos junge Männer sein können. Laut sind die deutschen Jungs, als sie spät nachts in den Schlafsaal kommen, laut sind sie morgens, laut und ungehemmt. Und dann erzählen sie noch, dass sie nachts ins Waschbecken des Zimmers gepinkelt haben, um nicht die zehn Schritt über den Flur aufs Klo zu müssen. Mir tun die zwei englischsprachigen, flüsternden Mädchen leid, die noch mit im Zimmer sind und all das ertragen müssen. Ich frage die beiden schließlich, ob sie es aushalten unter all den lauten Deutschen. Es beeindruckt mich, als das kleingewachsene Mädchen zu einer Beschwerde anhebt. Die anderen werden sich später über es lustig machen. Ich schäme mich.

48.

Der Himmel hängt tief. Nur ein paar Schritte von meiner Unterkunft entfernt betrete ich fürs Frühstück das „Moreish Café Deli“ an der Ecke Marchmont Street. Spanisch-englische Speisen und Feinkostwaren, andalusische Kachelwände, ansprechende Holztische, ein wunderbar robuster, thekenartiger Tisch entlang der Fensterwand. Das rissige, verfärbte Holz erinnert mich an den großen Küchentisch meiner Kindheit, der Ausblick durch die Glasfront aufs Straßenleben gefällt. Eine hübsche Spanierin erklärt mir die ganze Auswahl an Frühstücksmöglichkeiten. Was da nicht alles lockt: verschiedene Tortillas, Membrillo aus Quittenmus, Serranoschinken … Ich entscheide mich dann doch für einen englischen Pudding mit Creme anglaise zum Café con leche. Es scheint mir, es ist mein erster süßer englischer Pudding: ein köstlicher, saftiger Auflauf mit Trockenfrüchten. Während ich Gabel für Gabel dieser kulinarischen Sünde absteche und den Kaffee genieße, bedaure ich, dass sich das Frühstück nicht beliebig in die Länge ziehen lässt. Und dann bin ich auf einmal genervt und froh, das Café zu verlassen, als ich zum dritten Mal den Satz der Spanierin gegenüber Kunden höre: „Then you pay first, please.“

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Und weiter geht es

49.

Ein Schwarzer, das Smartphone am Ohr, eine Mütze kühn auf dem Kopf, schwarze Jogginghose und einen Bundeswehrparka mit der deutschen Nationalflagge. Ich hatte genau einen solchen Parka einmal in einem Kanadaurlaub getragen, ausgeliehen von einem Kroaten. Die Flagge am Ärmel war mir, typisch deutsch, peinlich gewesen.

50.

Ein gestählter Grauhaariger in schlichten Alltagsklamotten − dunkle Hose, blaues T-Shirt, Beutel am Gürtel − quert die Straße. Die muskulösen, tätowierten Unterarme sind nackt. Man ahnt das Spiel der Muskelstränge im Rhythmus, in dem sein Daumen über das Display tanzt.

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BT Tower

51.

Neonweste, Neonjacke, Neonrucksack, Neonhelm − allgegenwärtige Utensilien der Radfahrer in einem Land des Dämmerlichts.

52.

Eine ruhige Straße mit identisch aussehenden Häusern auf beiden Seiten: die kurzen Treppenaufgänge alle mit schwarzem Geländer, oben Holztüren, alles weiß und schwarz, keine Farbe, die das Muster durchbricht. Auf den ersten Blick wirkt das Sträßchen schmuck, auf den zweiten schäbig. Manchen Häusern mangelt es an Pflege und Instandhaltung, einige stehen leer und zum Verkauf, an allen anderen stehen und hängen Plastiktüten voller Müll. Ein paar der Tüten sind aufgeplatzt oder womöglich auch mutwillig ausgeschüttet. Abfall fließt dann über die Treppenaufgänge hinab. Nur ein einziges Haus hat kleine Mülltonnen am Gitter der Treppe hängen − eine beinahe spießig wirkende, jedenfalls hoffnungslose Insel in dem Straßenzug. Der Weg entpuppt sich als Sackgasse. Ich mache kehrt. Trostlosigkeit schleicht sich hinter mir auf die Straße, um das winzige Vakuum zu füllen, das ich hinterlassen habe.

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Marylebone, die Kirche im Rücken

53.

Ein kalter, feuchter Vormittag eine Woche vor Weihnachten. Ich zittere unter meiner Regenjacke. In einem Park machen zwei junge Frauen in billigen Kunstfaserklamotten Gymnastik. Sie versuchen sich an Gleichgewichtsübungen, sie hüpfen auf einem Bein herum. Eine Weile schaue ich zu, dann drehe ich plötzlich den Kopf, als wäre mir bewusst geworden, dass ich sie bei etwas Unanständigem beobachten würde.

54.

London ist fabelhaft mit Orientierungshilfen gepflastert. An jeder Bushaltestelle hängen Karten von ganz vorbildlicher Natur: der eigene Standort ist zentriert, zwei Kreise zeigen einen Umkreis von fünf bzw. 15 Gehminuten an. Nur eines ist verwirrend: Die Karten sind nicht genordet, ihre Ausrichtung wechselt von Haltestelle zu Haltestelle, von einer Karte zur nächsten. Manchmal möchte man sich auf den Kopf stellen, um seine Richtung wiederzufinden.

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Die Kuppeln der London Business School

55.

Hinter den Bäumen des Regent‘s Park schimmern fast rosa verzierte Kuppeln. Ein indischer Moghulnpalast? Es fehlen nur noch die Tiger im Unterholz des Parkes. Aber die gibt es am anderen Ende des Parks im Zoo of London. Hier, an den Wasserläufen der Südseite, kreischen, krächzen, jaulen, schnalzen, grunzen, gurren nur die Vögel. Unterbrochen von dem harten, konzentrierten Schlagen Aberdutzender Flügel, wenn eine ruckartige Bewegung am Ufer das Federvieh aufschreckt.

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Nur einer aus der Vögel Schar

56.

An einem kleinen, blattlosen Baum, er besteht fast nur aus einem Gewirr allerkleinster Ästchen, knarzig, hart, verdreht und abweisend, einem einsamen Guerillakämpfer in rauen Landen, leuchten rote Beeren. Die einzige satte, kräftige Farbe hier im Park. Die frohe Botschaft des krummbeinigen Rebellen.

57.

Und hinter der nächsten Wende Palmen in London. Eine Amsel pickt an den mickrigen Fruchtständen. Subtropisches Weihnachtsmahl.

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Queen Mary’s Garden im Rgent’s Park

58.

„Hello Sir, what do you have spotted?“ Der Mann mit der Kappe, der mit einem Begleiter mit Rasenstecher die Pflanzungen inspiziert, wechselt die Straße, um den still dastehenden Herrn mit Brille, Schnurrbart und Fernglas auf der Brust anzusprechen. „Oh, well …“, braucht der Angesprochene erst einige Momente, sich in der Menschenwelt zu orientieren. Dann entspinnt sich ein kleiner Schwatz über den Wiesenzaun hinweg, wie zwischen zwei Nachbarn.

59.

Immer wieder Frauen mit drei oder vier Hunden an der Leine. Der Radrennfahrer zieht derweil mit verzerrtem Gesicht seine Bahnen auf dem asphaltierten Inner Circle rund um Queen Mary‘s Garden − seine beinahe private Rennbahn, immerzu im Kreis herum. 85 Sekunden benötigt er für eine Umdrehung. Wie viele Runden er wohl macht?

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60.

Jenseits der weiten Grünfläche, die sich endlich auftut, ragen, irgendwo beim Zoo, große, massive, verwinkelte Bauten in verwaschenen Sandfarben empor. Die Monströsität der Bauten erinnern an eine Festung, ein bisschen an die Flaktürme in Wien. Ihr Zweck, so rätselhaft er auf die Ferne ist, dürfte allerdings viel friedlicher sein diese Überreste aus dem Zweiten Weltkrieg, Kletterareale etwa für Bergziegen im Zoo. Beim Näherkommen geht es mir dann wie Jim Knopf mit dem Riesen: immer kleiner wirken die Berge, immer weniger monströs, je näher ich komme.

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61.

Mit wiegenden Schritten stolziert die Giraffe vorüber, graziles Gleichgewicht von vier Schritt Höhe.

62.

21 britische Pfund Sterling trennen mich vom „Tiger Territory“. Ich entscheide mich gegen einen spontanen Besuch im Zoo. Ein solcher Eintrittspreis löst selbst den Bann der Giraffenschritte.

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Alles Tiger Territory?

63.

Das helle Blau fesselt meinen Blick zuerst: ein dreistöckiges Gebäude, Ziergiebel über den geviertelten Fenstern, leichte Formen, passend dazu die Farbe. Und es ist nicht allein. Ein Haus an das andere reiht sich in schmucken, sauberen Pastellfarben. Jedes Gebäude hat seinen eigenen Farbton. Nirgendwo habe ich bisher London so leicht und heiter erlebt, ohne dabei in Übermut zu verfallen, wie hier, wo die Albert Terrace in die Regent‘s Park Road einmündet.

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64.

66,7 m über dem Meeresspiegel genügen. Auf dem Aussichtspunkt von Primrose Hill habe ich zum ersten Mal einen Blick über die Stadt, über die Bezirke, die ich bereits abgelaufen bin. In die steinerne Ummauerung des Aussichtspunktes ist ein Vers von William Blake eingemeißelt.

I have conversed with the spiritual sun.
I saw him in Primrose Hill.

Der Dichter also hatte etwas ganz anderes vor Augen als wir heute hier oben. Der Mann, der breitbeinig, die Arme konzentriert in zwei verschiedenen Winkeln vom Körper ausgestreckt, am Hang steht, ist vielleicht eher ein Erbe Blakes. Vielleicht sind es Chi-Übungen für den richtigen Fluss unsichtbarer Energien, bevor er seinen Fußmarsch fortsetzt, wieder hinein in die Stadt.

Dezember 2013. Fortsetzung folgt.

Kleinkönigreiche

„Er stand auf seines Daches Zinnen / Er schaute mit vergnügten Sinnen / Auf das beherrschte Samos hin“, zitiert der Fastachtzigjährige von meinem schmalen Balkon herab. Dann lacht er auf. „Das da ist Samos“, sagt er und deutet auf den abgewrackten Reisebus meiner Nachbarin unter dem Balkon. Der grüne Lack weist handtellergroße Lücken auf, die Kuppel vor dem Oberlicht ist von einer Unterführung halb herabgerissen, die dunklen Flecken wirken beinahe moosig.

Was sie dazu sagen würde, die scheidende Intendantin in der Ruhestandskrise? „Der Bus ist meine Freiheit, meine Heimat, mein alles“, würde sie sagen zu ihrem Königreich. Der innere Friede Samos’ aber ist in steter Gefahr, die gute Policey von Mäusen bedroht. Sie nisten sich ein in dem Bus und treiben die Herrscherin zur Verzweiflung. „Wie wäre es mit einer Katze?“, schlug ich einmal vor. Die Nachbarin war begeistert, doch eine Gestreifte ernannte sie trotzdem nicht zur Statthalterin ihres Reiches. Schade eigentlich. Gerne hätte ich diese von meinem Balkon herab gelockt − „whwhwhwh, tststststs“ − und wenn sie sich gezeigt hätte, wäre ich von meinem eigenen Kleinkönigreich hinabgestiegen zu einem Staatsbesuch. Und Friede würde blühen, bis der Scharfmacher des westlichen Reiches (ein paar Olivenhaine kleiner als meines), Nachbars Pudel also, zum Angriff bliese oder ein Keifen von ganz oben die Eintracht störte und all die Taifas wieder in Aufruhr brächte.

„Gestehe, dass ich glücklich bin“, hebt der Fastachtzigjährige noch einmal an. Er kippt den letzten Schluck aus dem Whiskeyglas hinab − die Flasche auf dem Regal ist inzwischen seine −, verstaut zwei weitere Romane von Graham Greene, die er in ein paar Wochen (inschallah) zurückbringen wird, und macht sich auf zu seinem Fahrrad, Samos im Rücken.

Die Launen der Götter

„Jetzt ist ja bald Fußball-WM. Und ich dachte mir, dieses Mal bin ich nicht für Deutschland. Ich drücke stattdessen den Argentiniern den Daumen. Denn in Argentinien gibt es Guanakos, das sind so lamaähnliche Tiere. Die finde ich gut. Eigentlich wollte ich für Bolivien sein. Dort ist die Dichte an Guanakos nämlich noch größer als in Argentinien. Aber Bolivien spielt bei der WM ja gar nicht mit.“

Ismaels friedliebende Enkel – Philip Hoare, „LEVIATHAN oder Der Wal“

Hoare_LeviathanSeit 15 Jahren ist der mareverlag nicht nur Synonym für Bücher über das Meer (im konkreten wie im übertragenen Sinne), sondern auch für schöne, auch in der Ausstattung hochwertige und ansprechende Printtitel – und erfüllt alle Kriterien, um das Faszinosum (gedrucktes) Buch am Leben zu erhalten in einer Zeit, in der viele Verlage immer mehr Eingeständnisse am Printbuch machen. Frei nach Goethe darf man über den mareverlag also sagen: Hier bin ich Buch, hier darf ich‘s sein.

Seine über 500 Seiten starke Studie über Wale – eine „Suche nach dem mythischen Tier der Tiefe“ (2009 ausgezeichnet mit dem Samuel Johnson Prize for Non-Fiction) – eröffnet der englische Journalist Philip Hoare mit einem sehr persönlichen Eingeständnis: seinen ungeheuer plastisch beschriebenen Urängsten vor dem Meer und seiner undurchschaubaren Tiefe – ein mutiger und gelungener Einstieg.

„Erst nachdem wir die Erde von Raumschiffen im Weltall aus betrachtet hatten, wurde der erste frei schwimmende Wal unter Wasser fotografiert.“

Gerade weil die wissenschaftliche Erforschung des Wals noch so jung ist, zieht Hoare seine Geschichte der Cetaceen auf als Geschichten der Begegnung zwischen Wal und Mensch. Ein blutiges Erdenkapitel, da über Jahrhunderte fast ausschließlich über die menschliche Jagd nach Fleisch und Tran definiert.
Akribisch spürt Hoare den literarischen Niederschlägen dieser Begegnungen nach. Im Mittelpunkt steht selbstverständlich Melvilles „Moby Dick“ als Ariadnes Faden bei der Suche nach dem Leviathan, einer „Art Bibel, ein Buch, von dem man nur zwei Seiten am Stück las, ein transzendentaler Text. Wenn ich es lese, ist es immer wie zum ersten Mal. Beim U-Bahn-Fahren studiere ich meine Taschenbuchausgabe so konzentriert wie die verschleierte Frau neben mir ihren Koran“ (S. 51).

Hoare folgt Ismaels Spuren in New Bedford, er klappert alle wesentlichen Walfahrerhäfen Neuenglands ab, schlendert über den Strand von Cape Cod, an dem Henry David Thoreau strandenden Walen beim Sterben zugesehen hatte, er studiert die alten Stiche niederländischer Künstler, stapft durch Yorkshire auf der Suche nach einem Walgerippe, besucht selbst noch das kleinste Walfangmuseum und interviewt ehemalige Walfänger auf den Azoreninseln – eine ungeheure Materialfülle über die oft schmerzhafte Begegnung von Wal und Mensch, seinem Jäger.

Statt diese Vielfalt in der Besprechung nachzeichnen zu wollen, stellvertretend nur drei winzige Schlaglichter auf Details, die mich besonders beeindruckt haben:

– Vor der weitgehenden Ächtung des Walfangs wurden im 20. Jahrhundert Rinder mit Walfleisch gefüttert, ganz nach der kalten industriellen Logik, die noch kranke Schafe zu Futtermehl für Pflanzenfresser verarbeitete.

– In „ozeanisch“ ausgerichteten Ländern wie Großbritannien waren Walprodukte allgegenwärtig – kaum ein Bereich der Konsumwelt, der bis in die frühen 1970er nicht auf Walprodukte zurückgriff, von Bremsflüssigkeiten und Seifen über Fotofilme und Schreibmaschinenbänder bis zu den Mittagessen der Schulküchen und anderes mehr.

Ray Bradbury hatte den Roman „Moby Dick“ für die Erstellung des Drehbuchs neunmal gelesen, ein Skript von 1500 Seiten aufgesetzt, das er natürlich wieder einzudampfen hatte, und wäre über diese Arbeit (nachvollziehbarerweise) beinahe depressiv geworden.

Hoares Lust an der Materie ist zugleich seine Achillessehne, denn sie wird irgendwann des Lesers Last. Die Studie wird gar zu detailreich, zu weitschweifend, zu unsystematisch. Erleichtert – und dann bereits wieder gerührt – ist man, wenn Hoare am Ende vor den Azoren im tiefsten Atlantik frei mit den Pottwalen schwimmt: ein Zwerg unter Riesen in einem Meer weit wie das Weltall, die „zusammen schwammen, Auge an Auge, Flosse an Flosse. […] Ich hatte keine Angst mehr.“

Philip Hoare, LEVIATHAN oder Der Wal. Auf der Suche nach dem mythischen Tier der Tiefe. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring. (Originaltitel: Leviathan, or, The Whale, 2008.) 522 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen.  2013 mareverlag, Hamburg.