„Morgen ist doch deutscher Nationalfeiertag? Was sagt man sich da?“, fragt der syrische Besucher. Die Frage lässt mich einen langen Augenblick schweigen, bis ich beinahe verschämt sage: „Nichts.“ Wir haben keinen Glückwunsch zu unserem Nationalfeiertag. (Etwa „Hurra, die Mauer ist weg“?) Für die meisten von uns ist es einfach nur ein freier Tag.
Es war eine dieser Fragen an diesem Abend, die uns Deutschen am Tisch nachdenklich stimmten, weil sie unserer Selbstverständlichkeit unerwartet alles Selbstverständliche nahmen. Sie beschäftigt mich jetzt noch und ich weiß, ich werde nicht schlafen können, ehe ich nicht die Gunst der Stunde ergriffen und diese Entselbstverständlichung punktgenau zum Tag der deutschen Einheit auf den Blog gestellt haben werde. Zugleich aber wird mir jeder Satz Schlaf kosten, denn um 4.30 Uhr wird der Wecker klingeln und ich werde mich aufmachen in die Berge, um mittags dort zu stehen, wo es nur noch Licht und Stein um mich gibt. Eine Analyse, das kann ich also vergessen, auch die Suche nach einer literarischen Form spare ich mir, denn gleich ist es Mitternacht.
Es war interessant zu sehen, wo sich an einer Tischrunde – nachdem die Teller mit den pandschabischen Gerichten geleert waren – Brücken bildeten, die niemand hatte vorhersehen können. Wie erst der Junge, der als einziges Kind unter den Erwachsenen trotzdem Freude hatte, das Eis brach, einfach nur, indem er da war und war, was er ist: ein Kind, und ein Lächeln auf die Gesichter der beiden aus Syrien geflüchteten Medizinstudenten zauberte. Wie sich dann etwa die Tierärztin und die beiden Syrer über allgemeine Fachfragen an skurrile Geschichten aus dem Medizineralltag herantasteten und dann vor Begeisterung gar nicht mehr zu bremsen in ihrem Wortwechsel über die Serie „Grey‘s Anatomy“. Der Soziologe und ich schauten uns hilflos an. Wir verstanden nichts. Aber das war es wert.
Die Geschichten wurden immer bizarrer und mir wurde wieder einmal bewusst, in welchem Elfenbeinturm mein Broterwerb sich abspielt. Der Anruf, ob auch Hunde eigentlich eine Morgenlatte haben, gehörte noch zu den harmloseren Anekdoten des Abends.
Die Reste sind im Kühlschrank verstaut, der Rucksack ist noch zu packen. Mitternacht. Ich bin dankbar für jeden einzelnen Menschen, der an diesem Abend zu Gast war, und vor mir, durch ein paar Stunden Schwärze hindurch, höre ich den Berg rufen.