Avtar Singh, „Nekropolis“

Avtar Singh_Nekropolis_3293004954„Um auf Ihre Frage zu antworten, Kommissar: Ich weiß es nicht. Offensichtlich hat der junge Mann einen ungesunden Hang zu den Wesen der Nacht. Und zweifellos hält er mich auch für ein solches.“

Angulimala, der Fingerdieb, raubt seinen Opfern einen ihrer zehn Finger „in jenem endlosen Sommer“, und die nächtlichen Straßen Delhis werden zum Schauplatz von selbst ernannten Vampiren und Werwölfen, die sich über Chatrooms und Messengers zu ihren Bandenkämpfen verabreden – und die Polizei, ausgestattet mit alten Urdu-Versen und modernen Profilingprogrammen, hat in der indischen Hauptstadt alle Hände voll zu tun. Geschichte und Moderne, Mythologie und Cyberpunk treffen zusammen in Avtar Singhs „Nekropolis“, jener geschichtsgesättigten, brodelnden Megastadt voller Gerüche und Gerüchte, in der alle nach dem Außergewöhnlichen gieren und niemand sich um die Schreie der Hilfebedürftigen schert.

„Diese Stadt ist eine riesige Nekropole“, fasst Kommissar Dayal sein Revier zusammen. Der Polizist ist „ein Mann der alten Stadt“, ein philosophischer Hüter Delhis, elegant, schwermütig, kultiviert, der sich dem Wohl der Stadt verschrieben hat gemeinsam mit seinem Assistenten Kapoor (ein Gegenstück zu seinem Vorgesetzten: schwerleibig, bodenständig, vernetzt bis in die tiefsten Niederungen der Stadt) und der jungen, aufstrebenden Polizistin Smita, Repräsentantin einer neuen Generation in einer frauenfeindlichen Gesellschaft (ein Urteil, an dem auch nichts daran ändert, dass die beiden großen Strippenzieherinnen von Avtar Singhs Delhi weiblich sind: die Ministerin und die rätselhafte Razia).

Quer durch alle Schichten führen die Ermittlungen das Team – gegen Gewaltverbrechen und Vergewaltigung, Menschenschmuggel und Drogenhandel, finstere Geheimnisse und eine alles verschlingende Korruption. Die episodenartigen Kriminalfälle als solche sind nicht sehr raffiniert; darum geht es Avtar Singh in seinem zweiten Roman nicht. Seine Fälle sind Sittengemälde einer Gesellschaft, sie sind ein gleichermaßen liebevolles wie schonungsloses Porträt einer Stadt. Bedächtig ist Singhs Erzählstimme, fast einfach, und gleichzeitig stimmungsvoll. Wie er moralische Dilemmas mit poetisch-schlichter Eindringlichkeit und einer alles durchziehenden noblen Schwermut verbindet, erinnert – der Brückenschlag in ein anderes Genre sei erlaubt – vage an die „Hexer“-Erzählungen von Andrzej Sapkowski („Der letzte Wunsch“).

Ein literarischer Kriminalroman vom Feinsten. Und am Ende möchte man mit den Polizisten zusammen schweigen, wenn sie, eine Zigarette oder eine Tasse Tee in der Hand, vom Balkon herab auf ihre gierige, undankbare, so kostbare Stadt hinabschauen.

Avtar Singh, Nekropolis. Kriminalroman. Aus dem Englischen von Lutz Kliche. Zürich: Unionsverlag 2015.

Werkstatt

„Eine Bäuerin erzählte mir vom Schneesturm und ich schwieg dazu.“
(Werner Herzog, Vom Gehen im Eis)

Als ich im letzten Sommer über die Schwäbische Alb wanderte, fiel mir in der Auslage einer Buchhandlung (ja, an ein paar Orten gibt es auch auf der Alb Buchhandlungen) ein Bändchen auf. Eine neu erschienene Reisereportage, auf dem Titelbild schreitet einer über einen Feldweg aus, drüber steht „Allein über die Alb“. Welch kühne Tat. Was für ein lächerlicher Titel.

Nun habe ich mir das Buch trotzdem ausgeliehen, um zu schauen, wie andere das so machen. Worüber schreiben sie, wie schreiben sie. In einem Punkt überraschte mich das Buch, denn anders als das Umschlagbild suggeriert, ist Wandern darin nicht angesagt. Bertram Schwarz, Radioreporter vom SWR 4, besucht mit dem Linienbus, als Anhalter, auf dem Rad oder zur Not halt auch mal zu Fuß Orte über die ganze Länge der Schwäbischen Alb hin, um die Menschen zu porträtieren. Das Ergebnis ist manchmal ganz nett, bisweilen peinlich, jedenfalls bieder und gar nicht literarisch. Lernen konnte ich trotzdem was davon, wie man es meistens im Leben kann, wenn man nur will: Schwätzen musst du mit den Leuten! Nicht nur lauschen – „immer horsche, immer gugge“, wie der gute Herr Ärmel sagen würde, oder in meinem Idiom: allat losa, allat luaga –, sondern reden! (Der Herr Ärmel kann das übrigens.)

Parallel lese ich in einem anderen Reisebuch, das zwar auch sehr dünn und ebenfalls süddeutsch geprägt ist (ja sogar eine Albüberquerung im Schneetreiben beschreibt), aber ansonsten ziemlich eine Antipode zu Schwarzens Schrift darstellt. Als 1974 die Filmhistorikerin Lotte Eisner in Paris im Sterben lag, wanderte der Regisseur Werner Herzog von München aus zu ihr, um durch seinen Gang, sein Gehen, sie am Leben zu erhalten. Was – je nach Standpunkt – von einem tiefen magischen oder kindlichen Denken zeugt. „Vom Gehen im Eis“ ist zweifellos literarisch. Es ist sprachgewaltig mit einem starken bayerischen Dreh, von scharfer Beobachtungsgabe dem Außen wie dem Innen gegenüber, und zwingt mit seinem Rhythmus und seinem Gedankenfluss zu aufmerksamer Begleitung.

Auch bieder ist es nicht, im Gegenteil, der Herzog, etwas merkwürdig und selbstherrlich, wie er halt so ist, irgendwie ein Aufschneider letzten Endes und Narzisst, berichtet vier Jahre nach seinem „Gehen im Eis“ öffentlich, wie er wiederholt in Hütten und Ferienhäuser einbricht zum Übernachten und nachts in einen Gummistiefel bieselt, warum auch immer. Na ja, weil er hat zu faul war, bei der Kälte durch den Türrahmen hinauszupinkeln, der Dreckskerl.

Sympathisch ist der Herzog nicht, sein Buch aber eine Lust.

Bertram Schwarz, Allein über die Alb. Eine Reisereportage. Tübingen: Silberburg 2015.

Werner Herzog, Vom Gehen im Eis. München – Paris. München: Hanser 1978. Neuauflage 2012.

Auch er ein Sohn Englands

„Er sagte sich: Es muß doch eine Zeit gegeben haben, als es mir leichtfiel, mit anderen Menschen zusammenzusein, und versuchte, sich zu erinnern, konnte sich aber nur an das Wasser erinnern, das von den Rudern tropfte, an seinen Vater, der schweigend verharrte, an das Licht früh am Morgen, die müde Heimkehr.“

„… stark deklamatorischer Sprechgesang“, sagt die Stimme im Radio, als ich mir kochendes Wasser über die Finger gieße. Genauer gesagt, hatte es vor vielleicht 30 Sekunden gekocht und rinnt nun, ohne Schaden zu verursachen, an den Fingern herab. Vielleicht reicht diese knappe Zeitspanne bereits, Wasser so weit abzukühlen, dass es keine Verbrennung hinterlässt. Den Abend habe ich mir freigehalten für ein paar dringliche Arbeiten am Schreibtisch, die ich am Wochenende nicht erledigt hatte oder die Woche davor nicht oder die an diesem Montag ganz neu hinzugekommen waren. Nichts davon mache ich, sitze stattdessen an einem Blogartikel, den zu schreiben ich niemals geplant hatte. Muss so etwas, eine solche Verschiebung des Verschobenen, nicht irgendwann in die sichere Katastrophe münden? Aber vielleicht ist es ja genau andersherum, nicht das drohende Gericht am Ende, sondern im Gegenteil das pure, reine, schlicht: allernormalste Leben, Normalzustand also einer Gegenwart, solange wir über Gegenwart verfügen.

Graham Greene habe ich zu Ende gelesen, weil es nur noch ein paar Seiten waren, nachdem ich aus der Stadtbahn ausgestiegen war. Auffällig war in der Bahn übrigens nichts gewesen, weder am Morgen noch abends, so wenig, wie die Straßen leerer waren nach dem heute in Stuttgart ausgerufenen Feinstaubalarm. Den Mahnungen auf allen Kanälen, vom Individualverkehr per PKW möglichst abzusehen, haben offenbar nicht viele Aufmerksamkeit geschenkt. 2017, so las ich gestern, 2018, so zeigte mir die Zeitung heute an, könnten Fahrverbote in der Kesselstadt drohen, sollte sich das Problem nicht durch freiwilligen Verzicht lösen lassen. Ich spare mir das (wahlweise bittere oder höhnische) Lachen.

„Ein Sohn Englands“ (England Made Me, 1935) ist ein Frühwerk des britischen Romanciers Graham Greene und erwartungsgemäß ein wenig quälend, wie Greene es oft – keineswegs immer – ist. Schuld daran ist nicht zuletzt sein Katholizismus (Greene konvertierte als junger Mann zur Überraschung seiner anglikanischen Umgebung). Den hätte er besser aus seinen Büchern heraushalten sollen, denke ich mir, was interessiert mich schließlich der literarische Renouveau catholique, und ein Freund hatte einst sehr treffend formuliert, besser als ich es aus der Erinnerung kann, was plage sich Graham Greene mit katholischen Problemstellungen, die doch längst keine mehr seien. So sagte er treffend in einem kleinen Café einer kleinen Universitätsstadt, in dem … Aber das tut nichts zur Sache. Andererseits, einfach durchfallen lassen, das geht auch nicht, schließlich tauchen da im Dunstkreis der literarischen „Katholischen Erneuerung“ ja einige wirklich große Autoren auf, gerade auch im eigentlich gar nicht katholischen Großbritannien, T.S. Eliot zum Beispiel oder Evelyn Waugh oder eben Graham Greene.

„Ein Sohn Englands“ also, quälend mit seinem schäbigen Milieu, seinen schäbigen, abgewetzten, allesamt in irgendeiner Weise armseligen Protagonisten: Anthony Farrant, ein heimatloser, weicher, kleinbürgerlicher Aufschneider, der alle und sich selbst im Besonderen belügt, ein empfindsamer Verlierer, ach Tony, wenn da nur nicht dein Charme wäre; seine Zwillingsschwester Kate, die es mit Fleiß und Selbstverleugnung bis ins Vorzimmer und Bett eines Multimillionärs gebracht hat (und ihrem so geliebten Bruder eine Stellung verschafft, die er – so viel darf ich verraten – doch auch nur wieder eine Woche lang innehaben wird); Krogh, der schwedische Schwerindustrielle aus kleinbäuerlichen Verhältnissen, der spröde Krogh, hart in seiner Macht, bemitleidenswert in seiner Steifheit; Minty, dieser jämmerliche, heimwehkranke Schmierblattjournalist, zu magenkrank, um seinen Kaffee heiß zu trinken – das „Meßbuch im Schrank, die Madonna, die Spinne unter ihrem Glas verschrumpelte, ein Zuhause in der Fremde“ … Quälend die Lügen und Hoffnungen und die hoffnungslose Liebe, die Suche nach Erlösung und die Ahnung, dass es sie nicht geben wird. Und gelegentlich quälend sogar die Vergleiche: „Er war wie eine niedrige, bittere, braune Rauchsäule. Feindseligkeit stieg aus den Kappen seiner Wildlederschuhe hoch, lag wie Schuppen auf seinem Mantel.“

Aber quälend, das heißt ja nicht unbedingt schlecht (übersehen wir die letzte, bissige Bemerkung), und ich will nicht von diesem Buch oder gar dem Autor abraten, im Gegenteil, Greene mag quälend sein, aber er ist ein meisterlicher Romancier (kein genialer Künstler, sondern jemand, der ein Handwerk auf die höchste Ebene hebt), und auch quälend ist er nicht immer, denn er kann ja auch britischen Humor, wie er später bewiesen hat, und er kann das Beste von allen literarischen Möglichkeiten überhaupt: nämlich Lieblingsromane. „Die Stunde der Komödianten“ (The Comedians, 1966), die auf Haiti unter der Terrorherrschaft von Papa Doc und seinen Tonton Macoute schlägt (mit den Stars Richard Burton, Elizabeth Taylor, Peter Ustinov und Alec Guinness – sagen wir einmal: gefällig, aber unter keinen Umständen gleichwertig mit dem Roman – verfilmt), wird auf jeder Liste meiner meist geschätzten Romane landen.

Ich werde daher weiterhin Graham Greene lesen und freue mich schon auf den nächsten Roman von ihm. Und sei er aus dem Frühwerk oder sei er noch so katholisch.

„Sie schob die Hand unter seinen Arm, und die Vase rutschte und fiel hin und lag in blauen, häßlichen Scherben zu ihren Füßen wie eine zerbrochene Flasche am Ende einer durchzechten Nacht.
Macht nichts‘, sagte er zärtlich und zog sie fester an sich, ‚wir haben ja noch den Tiger.‘“

Friede den Hütten

Still ist es auf dem Berg. Unten im Tal läuten die Glocken zum Hochfest der Geburt des Herrn. Danach schlägt ein Hund an, irgendwo, dann legt sich wieder Stille über den Gipfel. Die Sonne scheint an diesem 25. Dezember, als würde sie den ganzen Winter über nichts anderes tun. Schneeschuhe haben wir nicht gebraucht für den Aufstieg.

Unter uns liegt Wertach, die höchstgelegene Marktgemeinde Deutschlands, aber warum fange ich jetzt damit an, da muss ich nur erklären, was das ist, eine Marktgemeinde, denn das hatte schon für Verwirrung gesorgt, als ich fürs Studium in ein anderes Bundesland gezogen war, Verwirrung auf beiden Seiten, weil die Dame auf dem Bürgeramt nicht wusste, was es mit diesem „Markt“ auf sich hat, und ich wiederum nicht wusste, dass es sich dabei in Deutschland um eine bayerische Eigenart handelt.

In Wertach also, und darum geht es mir, ist der Schriftsteller W. G. Sebald geboren und aufgewachsen. Dass ich seine „Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt“ jetzt erst lese, erscheint mir im Nachhinein unglaublich, und je unglaublicher, je weiter ich in dem Buch komme und mich in immer größeren Maße begeistern lasse. Drei Menschen haben mich im letzten Jahr auf dieses Buch gebracht, das ich längst gekannt und geliebt haben sollte, zwei davon sind Blogger, und allen drei danke ich. Es ist ja, und das kann ich mit umso mehr Überzeugung von mir geben, als ich es heute im Zug zu Ende gelesen habe, nicht nur ein unerhörter Gewinn, sondern zugleich Verlust. Würden sich die Ringe des Saturn doch nur in die Unendlichkeit des Raums erstrecken, um ihnen ein Leben lang zu folgen!

Es bleibt nur ein Trost, nämlich das andere große Buch meines Jahres wieder aufzugreifen, in das sich der Sebald dazwischengeschoben hatte, nämlich Christoph Ransmayrs „Atlas eines ängstlichen Mannes“, ebenfalls ein Reisebuch und ebenso viel mehr als nur das. Zwei kluge und aufmerksame und sehr menschliche Beobachter, das eine Buch ein fast traumartiger Gesang des Verfalls, das andere ein immer wieder aufgreifendes Staunen der Menschlichkeit in unserer so flüchtigen Existenz. Beide Autoren sind mir zu literarischen Helden geworden, zu meinem Glück – und (hoffentlich) zum Stachel, der mich anspornt.

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Wurzelwerk, Lebenswege

Brotzeit wird auf der Bank unterm Gipfelkreuz ausgebreitet. Earl Grey und heißer Ingwer, belegte Brote, liebevoll kleingeschnittenes Obst und Gemüse, ein Schälchen mit einem bunten Nuss-Beeren-Gemisch, ein gerecht in Stücke gebrochener Bioschokoladenriegel. Das ist die zivilisatorische Handschrift der Frauen, könnte man vermuten, denn ich hätte mich, wäre ich allein aufgestiegen, mit einer Flasche Wasser, einer Packung Cashews vielleicht und einer Banane begnügt. Aber so einfach ist es nicht, die Grenzen verlaufen anders. Das Essen jedenfalls ist ein von allen begrüßtes Fest und der Earl Grey schmeckt besser, als er es je an einem Schreibtisch tun könnte.

Hebe ich den Blick, liegt das Illertal ausgebreitet unter mir bis dorthin, wo sich im Unterland die Eiszeitmoränen im Dunst verlieren. Links ziehen sich Höhen ins westliche Allgäu hinüber, rechts reicht der Blick ins flacher werdende Ostallgäu, inmitten des Panoramas liegt die Stadt Kempten. Von all diesen Höfen, aus diesen Weilern und Dörfern, die ich da vor mir sehe, denke ich mir, waren 1525 Bauern und Handwerker zusammengeströmt, um gegen die Unterdrückung und Ausbeutung durch die weltlich-geistlichen Herrschaften zu protestieren. Immer wieder hingehalten von den Mächtigen, setzten die Wortführer des Allgäuer Haufens gemeinsam mit denen der beiden anderen großen schwäbischen Bauernaufgebote in der Reichsstadt Memmingen – dort am Rande meiner Sicht – zwölf Artikel auf. Manche sehen in dieser Versammlung die erste verfassungsgebende Versammlung in Deutschland, und die „Zwölf Artikel“ sind so etwas wie die erste Aufzeichnung von Menschenrechten in Europa.

Zu(o)m dritten ist der brauch byßher gewesen, das man vns für jr aigen leüt gehalten haben, wo(e)lchs zu(o) erbarmen ist, angesehen, das vns Christus all mitt seynem kostparlichen plu(e)tvergu(e)ssen erlo(e)ßt vnnd erkaufft hat, Den || hyrtten gleych alls wol alls den ho(e)chsten, kain außgenommen. Darumb erfindt sich mit der geschryfft, das wir frey seyen vnd wo(e)llen sein.

Die Antwort der Mächtigen erfolgte mit dem Schwert.

Alpen_Allgäu_Winter

Die andere Seite

Die Eisplatten knacken unter den Schritten; wo die Sonne den gefrorenen Schnee erweicht, knirscht er wie fein geklopftes Crushed Ice in einem Glas. Schattseitig trägt die Schneeschicht (ein Einsinken bis zu den Knien bleibt die Ausnahme), die Sonnenhänge sind schneefrei: kurz das gelbbraune Wintergras, die Pfade von Silberdisteln gesäumt. Es sind die schönsten Wegstrecken. Nur am Aufstieg zum benachbarten Gipfel darf gelegentlich die Hand zuhilfe genommen werden. Der Geist ist ruhig, das Herz weit offen. Es ist die letzte Bergwanderung in diesem Jahr.

Die Weihnachtstage liegen zurück, der Jahreswechsel rückt näher. Vorher noch werde ich einer Einladung in den Nahen Osten folgen. Ich wünsche allen ein erfülltes, glückreiches neues Jahr! Und freue mich, uns in einigen Tagen wieder zu lesen, inschallah.

Krokodile auf der Sandbank, Sonnenschein, kurz vor Weihnachten

Der Wolf Andreas ist schuld. Aber dazu später.

Eigentlich hatte ich eine Winterreise geplant, aber wenn ein Satz schon mit eigentlich beginnt. Eine winterliche Heimreise – entschleunigter als Heines Kutschfahrt (weniger politisch vermutlich, gewiss nicht in Reimform) und hoffentlich nicht so düster wie Schuberts Liederzyklus –, eine Wanderung nämlich, um im Morgengrauen aus der eigenen Haustür zu treten und ein paar Tage später in der Dämmerung des Heiligen Abends anzuklopfen bei meinen Vorfahren auf dem Hügel. Die Idee gefällt mir seit Jahren, heuer habe ich zum ersten Mal ernsthaft darüber nachgedacht, aber dann in der Detailplanung – auf den letzten Drücker natürlich – gemerkt, dass mir die fünf Tage nicht reichen für den Weg von Stuttgart ins Allgäu.

Stattdessen bleibt mir nun Zeit für ein paar andere Dinge, Grübeln über gesundheitliche Unpässlichkeiten etwa, die sich in letzter Zeit bemerkbar gemacht haben. (Sind sie ein Symptom des Älterwerdens? Ein Aufruf zur Umkehr, wohin auch immer?) Weihnachtspost ist eingetrudelt, die zwei schönsten – und überraschendsten – lustigerweise aus derselben Stadt von zwei Bloggerinnen, die einander, wenn ich mich nicht irre, nicht persönlich kennen. Herzlichen Dank, Lakritze und das A&O, für diese Freude! Gleichzeitig habe ich ein bisschen ein schlechtes Gewissen; das Gefühl für ein Gebot der Reziprozität ist ja auch in unserer postmodernen Gesellschaft nicht gänzlich ausgestorben. (Am wenigsten übrigens in älteren schwäbischen Haushalten, wo für ein geborgtes Pfund Mehl aber auch wirklich die korrekte Menge zurückgebracht wird, als könne man nicht leben in dem Wissen, jemandem ein Gramm schuldig zu bleiben.) Ich nämlich habe dieses Jahr niemandem Weihnachtspost geschickt, wirklich niemandem außer ein paar Professoren beruflicherweise, was etwas ganz anderes ist. Tatsächlich ist es das erste Jahr, dass ich selbst den Vorsatz, Weihnachtsmails zu schreiben an Menschen, bei denen ich mich lange nicht gemeldet habe, erst gar nicht aufgegriffen habe. Eine Kapitulation?

Vielleicht keine Kapitulation, aber jedenfalls eine Unterlassung ist die zweite Neuerung, eine Übereinkunft mit den Brüdern: Wir Erwachsene werden uns dieses Jahr nichts schenken. Aber den Nichten und Neffen natürlich, das lässt sich ein Onkel nicht gern nehmen. Am liebsten kaufe ich Weihnachtsgeschenke in einer Buchhandlung, immer schon. Und da die Aststifte in dem Kinderladen nicht mehr zu bekommen sind, rutscht ein Posten mehr auf die Buch- und Hörspielliste. Hängengeblieben bin ich dann bei Ausgaben von Latte Igel. Kein Vergleich zu dem Taschenbüchlein von Ravensburger oder so, das ich aus meiner Kindheit kenne, sondern großzügig bebilderte, hübsche Halbleinenbände. Da müssen Latte Igel und seine Freunde zum Beispiel den Wasserstein suchen gegen die anhaltende Trockenheit in ihrem Wald – doch der Stein wird vom grimmen Bärenkönig und seinen Kriegern, kühn gezeichneten Luchsen, besser lässt sich eine wilde Waldkriegerschar gar nicht darstellen, bewacht. Nach allerhand Abenteuern finden sie den Wasserstein schließlich im Hort des Diebes Fjodor. Fast hätte ich mir das Buch selbst gekauft.

Dann wurde es doch ein anderes (für mich) und jetzt kommt der Wolf Andreas ins Spiel. Denn er hatte im Frühjahr auf seinem Blog von seinen Leseeindrücken von Karl Bruckmaiers „The Story of Pop“ berichtet (1, 2 und 3). Ich hatte mir das Buch notiert und natürlich wieder vergessen und dann gehe ich in der Buchhandlung aus einem Impuls zurück in die Musikabteilung, weil ich mir gerade vorstellen könnte, über Musik zu lesen, ich da, wenn man so will, plötzlich einen gewissen musikalischen Bildungshunger verspüre, und da sehe ich den Bruckmaier liegen und erinnere mich. Und weiß wieder, das will ich, schon alleine deswegen, weil Bruckmaier seine Geschichte des Pops mit dem frühmittelalterlichen al-Andalus beginnt. Es gibt in der Auslage eine Broschurausgabe (Heyne) und eine schwarze Leinenausgabe (Murmann) und ich greife zu Letzterer, da kann ich gar nicht anders, auch wenn ein empfindungsloser Finanzberater mir vielleicht auf die Finger klopfen würde: „Brauchen Sie‘s?“ Also, ich finde, schon.

Ich freue mich darauf, es gleich aufzuschlagen und hineinzulesen, suche mir am Marienplatz ein sonniges Plätzchen. Die Weihnachtsgrüße im Ratzer ums Eck lasse ich lieber, sonst höre ich dort doch noch in die neue Platte von Hellmut Hattler hinein und finde am Ende noch Gefallen daran und dann klopft mir der Bankberater nochmals auf die Finger. Ich schlage also den Bruckmaier auf, schon das Leinen zu berühren ist schön, und habe, als ich auf der ersten Seite des Vorworts bin, bereits eine fünffache Gänsehaut von dem Buch bekommen.

„Gibt es einen Schöpfer, der an uns Interesse hat?“, bauen zwei vertrocknete Frauen einen Stand mit Broschüren auf. Nein und nein, meine Damen. Den Geist des Weihnachten schätze ich trotzdem. Nicht den des Kommerzes, der Blinklichter, der Schmalzbeschallungen, dieser gefräßigen Maschinerie, die mir in diesem Jahr mächtiger denn je erscheint. Sondern den eines Charles Dickens, den, der uns innehalten, uns für Feineres aufmerken, uns zusammenfinden lässt, durchaus auch den von Kerzen hinter Fenstern und gemeinsamem Geschichtenlesen und Lebkuchengewürzen. Aber ich verstehe, dass Weihnachten für manche eine Qual, für andere die Hölle ist: Einsamkeit, Armut, Verlogenheit und Missbrauch.

Die Göttin hat mir Tee gekocht
Und Rum hineingegossen;
Sie selber aber hat den Rum
Ganz ohne Tee genossen.

(Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen)

Jetzt muss ich nur noch überlegen, was ich mit dem Vorschlag von Danares und dem Kaffeehaussitzer mache. Ich glaube, denen war es ernst.

Ich wünsche allen das Beste, das Bestmögliche! Vielleicht ja sogar selige, liebevolle Feiertage.

Buchmessesorgen III

Meinen Zug habe ich verpasst, aber K. war so nett, die Stunde mit mir zu warten und mir nochmals ein Getränk auszugeben. Dabei hatte er, den die Buchmesse am Arsch vorbeigeht, mich vollgequatscht über Verlage und Verleger, Autoren und Illustratoren und Gestalter und ihre Leistungen und Mauscheleien, ihre Schätze und Gaunereien. Und ich verstand, in der Bar bei den Gleisen, nur Bahnhof, kannte und begriff von dieser deutschen Verlagsgeschichte nur einen Bruchteil und war sowieso müde und nun auch hungrig von dem langen Tag, und im Blickfeld links blinkte der übergroße Bildschirm und im Blickfeld rechts blinkte die scharfe Braut, die sich andauernd, immer und immer wieder, mit den Fingern durch die Haare fuhr, und ich fragte mich, ob sie von nebenan aus dem Rotlichtviertel kam und hier einen irgendwie verlorenen Messebesucher abgreifen wollte, und ich begann zu schielen und konzentrierte mich auf K.s lange Nase und er redet und redet einfach immer weiter und ich bin gar nicht mehr hier. Den nächsten Zug verpasse ich nicht und meine Sorge, ob ich mit meinem zuggebundenen Ticket durchkomme (ich habe mit K. eine Wette darüber abgeschlossen oder eher er mit mir) löst sich gerade eben einfach auf, als die Stempelzange des Zugbegleiters ihr KLICK

„Erzählte Stadt“ – Irene Ferchl versammelt Stuttgarts literarische Orte

Erzählte Stadt_Irene Ferchl_Silberburg-VerlagHeute rauscht der Verkehr ununterbrochen auf der Kirchheimer Straße vom Kesselrand nach Ostfildern. Als die Publizistin, Politikerin und Frauenrechtlerin Clara Zetkin hier noch wohnte, waren sie und ihr damaliger Mann, der Maler Friedrich Zundel, die Ersten, die in dem Stuttgarter Vorort ein Auto besaßen. (Was nebenbei wohl auch belegt, dass sich sozialistische Gesinnung und materielle Privilegien nicht ausschließen.) Prominenter Besuch ging hier ein und aus. Rosa Luxemburg verbrachte hier gerne ihre Ferien, und von Lenin ist gar eine Wegskizze nach Sillenbuch erhalten.

Einen vielleicht nicht politischen, aber zumindest künstlerischen Bezug hat sich die Villa Zundel bewahrt. „Porzellanmalereien“ steht unter dem Klingelschild. Das Bauwerk hinter der hohen Hecke will nicht so recht in seine heutige Nachbarschaft passen. Mit der dunklen Holzfassade, den grünen Fensterläden und dem fast schon schwarz gestrichenen Holz des seitlich gelegenen Hausaufgangs zeigt das Gebäude den stillen Charme eines Forsthauses (ungeachtet seines Fundaments aus dem zeittypischen Stuttgarter Sandstein). Ich verlasse meinen Beobachterposten bald wieder, denn die wenigsten freuen sich über einen Menschen vor ihrem Haus, der sich zwischen prüfenden Blicken Notizen macht.

Zundel_Zetkin_Sillenbuch_Stuttgart

Die Kirchheimer Straße in Stuttgart-Sillenbuch. Die „Villa Zundel“ zur Rechten wollte ich, ungeachtet der Panoramafreiheit, dann doch nicht einstellen.

Clara Zetkin ist eines von 75 literarischen Porträts, die die Stuttgarter Kulturjournalistin Irene Ferchl in ihrem Band „Erzählte Stadt“ in kurzen Kapiteln zeichnet und in der städtischen Landschaft verortet (mehrere Karten sind beigegeben). Es sind Berühmtheiten darunter wie Schiller, der unter einer Eiche am Stadtrand Freunden aus seinen „Räubern“ vorlas, oder Casanova, wie er sich mit einem Sprung aus einem Gasthaus elegant seinen Schulden entzog, und weniger Bekannte. Es sind Frauen und Männer, die das literarische Leben Stuttgarts über viele Jahre maßgeblich geprägt haben (durch ihre Schriften, Redaktionen oder Salons: Mörike, Therese Huber, Familie Reinbeck …) ebenso wie Autorinnen und Autoren, die Stuttgart eher streiften, für eine kurze Zeit hier lebten, vielleicht nur durchreisten (Stendhal auf seiner Mission in Napoleons Auftrag etwa oder W. G. Sebald auf Lesereise kurz vor seinem tödlichen Unfall). Man kann Wolfgang Köppen bei seiner Arbeit im fensterlosen Bunkerhotel ebenso über die Schulter schauen, wie mit Samuel Beckett nach getaner Arbeit im Süddeutschen Rundfunk durch den Park spazieren oder amüsiert vergleichen, welche höchst unterschiedliche Reaktionen die Stadt Stuttgart durch die Jahrhunderte bei zugereisten Literaten hervorgerufen haben.

Enstanden waren diese Streifzüge in Vorbereitung und begleitend zum Projekt „Erzählte Stadt“, das während des 35. Deutschen Evangelischen Kirchentags 2015 in Stuttgart stattfand. Bei dieser Gelegenheit hatten namhafte Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger auf literarischen Führungen von ‚ihren‘ Dichtern und deren Häusern erzählt. Was so die Literaturstadt Stuttgart sehr lebendig macht, funktioniert als Buch allerdings doch nur bedingt. Zu unterschiedlich sind die vielen knappen Porträts, um einen wirklich runden Wurf abzugeben. Was ins Positive gewendet vielseitig oder bunt zu nennen wäre, wirkt in dieser kleinen Literaturgeschichte (auf der Lesung lehnt Ferchl diese Charakterisierung allerdings ab) disparat. Dass sowohl vereinzelte Kapitel wie auch die Präsentation des Buches am 20. Mai 2015 in der Stadtbibliothek Stuttgart eine gewisse Betulichkeit nicht leugnen können, mag dann vielleicht doch an der Stadt selbst liegen.

Erzählte Stadt. Stuttgarts literarische Orte. Vorgestellt von Irene Ferchl. 128 Seiten mit 80 meist farbigen Abbildungen. Gebunden.  2015, Silberburg-Verlag, Tübingen.

(Hinweis in eigener Sache: Etwaige Kommentare werde ich erst ab dem 21.9. beantworten können.)

Joburger Ufergänge – Ivan Vladislavić, „Johannesburg. Insel aus Zufall“

„Wir Joburger bevölkern eine Insel. Mir geht es ganz gut so am Rande der Stadt, wo ich die langen Strände meiner Insel abwandere, während das Wetter durch das Veld dünt. Der englische Anteil in meinem Blut treibt mich im Uhrzeigersinn um die Stadt, der Rest drängt mich in die entgegengesetzte Richtung.“ (S. 55)

Vadislavic_Johannesburg_A1 VerlagAls urbaner Jäger und Sammler zieht der südafrikanische Schriftsteller Ivan Vladislavić (Jahrgang 1957) durch sein geliebtes Johannesburg. Aus den Beobachtungen, Begegnungen und Funden zahlloser Spaziergänge und Fahrten formt er das Porträt einer Stadt und einer Gesellschaft. Er sammelt Orte, Fassaden, Gartenmauern. Seine Wege kreuzen Nachbarn, Künstler, Straßenverkäufer, Diebe und das in Südafrika allgegenwärtige Wachpersonal. Er geht zu Fuß die Route eines Romanhelden nach oder perfektioniert die Methode des absichtsvollen Verirrens.

Die Meditation über die Hände eines Bettlers gehört ebenso zu dem Strandgut seiner Insel aus Zufall wie die an Absurdität kaum zu überbietende Szene, als er bei der Heimkehr einen Einbrecher überrascht, der sich mit einem Messer auf ihn stürzt, sich dann entwindet, auf halbem Wege nochmals innehält und Vladislavić zuruft „Wie spät ist es?“, um nach der Antwort (die ihm der perplexe Autor tatsächlich gibt) befriedigt zu grunzen und über die Gartenmauer zu verschwinden.

Sicherheit (bzw. Unsicherheit) ist ein immer wiederkehrendes Thema, ein roter Faden in dem Wandel aus der Apartheid in das neue Südafrika bis in die Nullerjahre des 21. Jahrhunderts. Vladislavić wandert durch eine Gesellschaft, in der die Wohlhabenderen (wozu angesichts der allgegenwärtigen Armut unter der schwarzen Bevölkerungsmehrheit bis auf die Stadtstreicher beinahe alle weißen Südafrikaner gehören) darauf aus ist, „einen beliebigen Ort erreichen zu können, ohne ihren Fuß auf die Straße setzen zu müssen“. Immer wieder verlassen (weiße) Freunde oder Nachbarn das Land; eine Party im heimischen Wohnzimmer ist mit so viel logistischem Aufwand für die Gäste verbunden, dass Vladislavić es irgendwann aufgibt, seinen Geburtstag zu feiern; und eine Schlüsselszene (im ganz wortwörtlichen Sinne) ist, als ihn in einem Interview eine schwedische Journalistin fragt, ob sie seinen dicken Schlüsselbund  fotografieren dürfe – so fremd und monströs erscheint ihr, der Fremden aus dem beschaulichen Nordeuropa, diese Ansammlung von Schlüsseln.

„1966 eröffnete Takis Xenopoulos im High Point Centre in Hillbrow Fontana Foods, die erste Bäckerei des Landes mit Schnellimbiss, die 24 Stunden geöffnet hatte. Während der feierlichen Eröffnung demonstrierte der Besitzer öffentlich sein Vertrauen in diese Idee: Er warf den Ladenschlüssel in die Menge. Das war eine der großartigsten Gesten, die ein Joburger je gemacht hat.“ (S. 199)

Es ist natürlich kein Zufall, dass das Buch, das mit einem Satz über Alarmanlagen beginnt, mit einer – eindrücklich ausgearbeiteten – Szenerie um Gewalt und Sicherheit endet und trotzdem eine vorurteilsfreie Liebeserklärung an eine Stadt ist. Auf dem Weg in die Stadtbibliothek, der Vladislavić sich wie „ein normaler Bürger, der Schritte von der Gesellschaft der Menschen in die Gesellschaft der Bücher macht“, nähern will (und nicht wie die schrumpfende Zahl weißer Bibliotheksbenutzer heimlich über eine Hintertreppe aus der Tiefgarage), gerät der Erzähler in einen Streik ausgerechnet des Johannesburger Sicherheitspersonals. Die Neugier des Stadtspaziergängers hält ihn am Ort und plötzlich fliegen Tränengasbehälter und Gummigeschosse und Vladislavić rennt und flüchtet zwischen seinen schwarzen Mitbürgern, er duckt sich hinter Mauern, stolpert über Orangenstände, springt hinter Autos in Deckung. Es gelingt ihm, sich in die Bibliothek zu retten. Die Kultur wird zum Ankerplatz in dieser stürmischen See: „Ich kann doch lesen, bis sich alles beruhigt hat.“ Es mag ein sehr trügerischer Trost sein, aber vielleicht ist es in einem solchen Alltag der Unsicherheit tatsächlich das Vernünftigste, was bleibt, will man weder die Bankrotterklärung der Emigration noch die des völligen Rückzugs in die gated communities unterzeichnen, diesen Festungen einer zumindest partiell gescheiterten Gesellschaft. Vladislavić weiß selbst um das Trügerische seines Trostes und doch ist das, was ihn im letzten Satz des Buches an die Gesellschaft bindet, so sinnlich wie heiter: „Als ich meinen Finger anfeuchte, um umzublättern, schmeckt er nach Apfelsinensaft.“

Wie konsequent Vladislavić den Inhalt in die Form überträgt, gehört mit zum Reizvollsten an seinem Buch. Denn sein Porträt setzt sich aus 138 nummerierten Textbausteinen zusammen, die immer wieder neu angeordnet werden können. Im Anhang bietet der Autor (neben Anmerkungen und Quellen) ein faszinierendes Itinerarium, Vorschläge nämlich, die Streifzüge über die Insel aus Zufall ganz anders zu gehen. Es sind Themenwege unterschiedlicher Länge (sie gehen teilweise zurück auf bereits früher veröffentlichte Zyklen), etwa die Route „Bemalte Wände“ mit den Etappen „10, 21, 22, 40, 43, 66, 106, 120, 128, 132, 136“. Zu den längsten Routen gehören „Sicherheit“, „Gegenstände“, „Geheimnisse des Handelns“ oder „Anschriften Johannesburg“, zu den skurrilsten „Geisterwesen“ oder die Episoden um den Gorilla Max.

Seine Form gefunden hat die „Insel aus Zufall“ übrigens in Stuttgart, als der Autor ein Stipendium der Akademie Schloss Solitüde wahrgenommen hatte, und angeregt auch von den Stuttgarter Stadtspaziergängen des österreichischen Architekten Klaus Metzler, wie das Nachwort informiert.

So mündet jeder Kreis in einen anderen und die Liebe und Offenheit zum Schauen und Horchen verbindet Wanderer auf aller Welt.

Ivan Vladislavić, Johannesburg. Insel aus Zufall. (Originalausgabe 2006 unter dem Titel: Portrait with Keys. Joburg & what-what). Aus dem Englischen von Thomas Brückner. 269 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag.  2008 A1 Verlag, München.

Meta mit Frühling

Beim Abstieg zur U-Bahn flackern die Lichter, sie ersterben, springen dann zitternd wieder an. Sofort sind sie da, die Bilder von der Zombie-Apokalypse.

Nach einer berauschenden Woche, in der alles möglich schien, folgen ein paar Tage der Stasis und der Erschöpfung und nachts träumen sich Glassplitter in den Mund. Erst war alles ganz viel, dann kommt das Wellental. Die Geschichten zu fassen – das Horchen und das Schauen – kam dabei etwas kurz. Daher heute ausnahmsweise nur ein paar knappe Hinweise.

Menschen aus dem Süden – unter dieser Rubrik wurde ich mit meinem Blog am letzten Freitag in der Stuttgarter Zeitung vorgestellt. Danke an Ina Schäfer für das Interview.

Am Abend des gleichen Tages hatte ich gemeinsam mit Stephan Trinkl die angekündigte Lesung in Ratzer Records Schallplattencafé. Es wurde eine gemütliche, unterhaltsame Veranstaltung. Das Mikrofon vermisste ich erst am Folgeabend, als ich an einem ganz anderen Ort auf einer Bühne stand und merkte, wie viel Kraft ein Mikro doch aufsparen kann für andere Aspekte des Ausdrucks. Für die Lesung danke an Brigitte und Karl-Heinz Ratzer, Stephan (mit Verspätung und direkt aus dem Feierabendstau in die Lesung zu starten und trotzdem gelassen zu lächeln ist eine respektable Leistung) und allen, die kamen, um uns zuzuhören! Dem Hund inklusive.

Heute (also Freitag) wird auf der Leipziger Buchmesse um 18 Uhr aus „Tausend Tode schreiben“ gelesen – einem Projekt der Verlegerin Christine Frohmann, von tausend Menschen kurze Texte über den Tod zusammenzutragen. #1000Tode (so der Hashtag des Projekts) bietet ebenso viele Perspektiven auf die große Unvermeidlichkeit unserer Existenz wie Stimmen. Mein Blogbeitrag „Requiem für eine Fremde“ ist (minimal bearbeitet) als Text 307 vertreten. Übrigens sind die 1000 Texte noch nicht vollständig – die Gelegenheit, sich für dieses Projekt noch einzubringen! Die Erlöse aus dem E-Book-Verkauf gehen als Spende an das Kinderhospiz Sonnenhof in Berlin-Pankow.

Und der Frühling tänzelt …

Geht man in der Straße der Sonne entgegen, ist es, als würden die Kastanien bereits knospen. Man reckt die Nase, man streckt den Hals. Unversehens kommt hinter dem Eck dann die Ohrfeige des Windes, dafür, dass man dem Frühling schon zu tief ins Mieder blicken wollte. Man fährt zusammen, senkt den Kopf, verlegen nestelt die Hand am Schal.

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Und was ist das da bitte?

Twitterrausch bei Adrienne Braun. Eine Lesung

Und das ist erst die eine Hälfte.

Freitagabend Literaturverkehr. Ich wollte wieder einmal zur zwischen/miete – der Lesung junger Literatur in Stuttgarter WGs. Jens Eisel war aus Hamburg angereist, um aus seinen Erzählungen „Hafenlichter“ zu lesen. In der „Leuchtenden WG“ in der Böheimstraße. Daher habe ich auch (gleich mehrmals) bedauernd abgelehnt, mit auf die Eröffnung der Sammlung Lucius „Buch – Kunst – Objekt“ im Kunstmuseum Stuttgart zu gehen. Nur um am Ende auf einer Lesung in der Schiller Buchhandlung in Vaihingen zu landen. (Die „Leuchtende WG“ würde ich übrigens trotzdem gerne mal sehen. Wer öffnet Zeilentiger die Türen?)

Schuld war das A&O. Das war gerade auf Besuch in der zeitweiligen Wahlheimat Stuttgart und zum Buchbistro Extra in die Schiller Buchhandlung auf dem Kesselrand angereist, um bei Häppchen und Getränken Adrienne Braun zu hören. Unvergessen zwar deren Urteil über das „IKEA-Buffet“, wurde die Journalistin und Kolumnistin (besonders bekannt für ihre Kolumne in der Stuttgarter Zeitung) trotzdem gerne wieder in der Schiller Buchhandlung willkommen geheißen.

Zu Käsebrötchen, Sekt und Wasser wurde schon gekichert, die Twittermaschine angeworfen, Buchtipps erteilt von der liebenswürdigen Kati Fraentzel (@catchkati) der Schiller Buchhandlung und bibliophile Eigenheiten ausverhandelt. In Bücher malen? Umstritten! Der Trend geht zum Zweitbuch …

Wahr. „@blauschrift: Der @zeilentiger mag auch signierte Bücher nicht. Das ist nur konsequent.“

Als sich das Buffet allmählich leerte, zeigte Adrienne Braun mit ihrem Buch „Mittendrin und außen vor“ Stuttgarts stille Ecken, bekannte und durchaus auch weniger bekannte Orte der Erholung und des Innehaltens im täglichen Kesseltreiben. Ein Seitenhieb auf Gerber und Milaneo durfte dabei, wie es sich für Stuttgarter Kulturbürger gehört, nicht fehlen. Und wir folgten der Autorin zu Proserpinas prallen Brüsten ins Lapidarium, die Trümmer dort „verströmen wohlige Ruhe, weil sie nichts mehr beweisen müssen“. Da erschreckt dann auch die Erkenntnis über dieses Freilichtmuseum zum Betatschen und Angrapschen nicht mehr: „Genau genommen lernt man hier gar nichts.“

Pragmatischer geht es an Adrienne Brauns Lieblingsort Tritschler am Marktplatz zu, der 3. Stock zwischen Eierteiler und Eierstückler ein herrlicher Ort, um stundenlang zu flanieren – das „vielleicht schönste Geschäft der Welt“. „Stuttgarts stille Ecken“ wollen keine topographische Beschreibung sein, sondern spiegeln den Menschen: Wie erlebe ich diese Orte. (Daher gibt es auch keine Routenbeschreibungen im Anhang. Wer einen der etwas versteckteren Orte nicht findet, darf getrost die Autorin fragen.)

Zum Schreiben aber, das verrät Adrienne Braun, reichen Stuttgarts stille Ecken doch nicht aus. Dazu müssen es dann noch ruhigere Orte sein. Zum Bücherschreiben kommt die Autorin nur im Urlaub – in der Berghütte oder in der Klause in der Mecklenburgischen Seenplatte.

Noch heiterer wurde es mit den Texten aus Adrienne Brauns zweitem Buch, aus dem sie an diesem Abend las. „Von den Niederungen des Seins“ (2011 erschienen) verhandeln ganz alltägliche Probleme wie rutschende oder sich drehende Socken. An Absurditäten fehlt es dabei nicht, man denke an den Wettstreit der Faserbürsten, den die Kolumnistin mit den 35 Millionen Fasern ihres Nanohandschuhs gewinnt – die Freundin verstummt geschlagen. Fast unglaublich die Patenschaft über Hundekotbeutelbehälter, bitterkomisch die Verslein zu Adolf Hitlers Besuch im ungeliebten Stuttgart („Lieber Führer sei so nett / Zeig dich doch am Fensterbrett“) … Bedarf bietet das ganz normale Leben jedenfalls genug für Adrienne Brauns Kolumnen: „Wir sind halt alle Mängelwesen“, wie wir seit Arnold Gehlen wissen.

Und irgendwann eskalierte alles. Nicht in der Lesung, nicht in den anschließenden Gesprächen vorne mit der Autorin. Sondern in der letzten Reihe am Stehtischchen.

„Übrigens waren es 36 Leute, falls du nicht gezählt hast.“ Danke, @blauschrift, das hatte ich tatsächlich nicht.

Die Leseparty rockt. Jetzt schnüffeln wir an Büchern.

”…ich hab schon wieder einen Reflex, das zu twittern.” – ”Es hört erst auf, wenn der Akku leer ist.” Hab noch 13% und du, @zeilentiger?

Twittern bis zur Erschöpfung mit dem A&O.

Überhaupt, das A&O. Diese Tigerzeilen sind nur die eine Hälfte. Die andere gibt es auf dem  buchstabenbunten und lebenswortfrohen Satzsitz von A&O als schöne Fotostrecke zum Buchbistro Extra mit Adrienne Braun. Bitte sehr, hier entlang und gerne immer im Kreis herum.

Mehr! Links!

Jens Eisel, „Hafenlichter“

zwischen/miete – Lesung mit Jens Eisel

Buch – Kunst – Objekt. Sammlung Lucius in Text und in Bild und Wort

Website von Adrienne Braun

Adrienne Braun in der Stuttgarter Zeitung

Mittendrin und außen vor. Stuttgarts stille Ecken

Von den Niederungen des Seins

Und last not least die Schiller Buchhandlung in Stuttgart-Vaihingen