Ein Weihnachtszyklus – (nicht ganz) frei von Religion (7)

27. Abschied – Leben und Sterben heute

Die Feiertage sind vorüber. Ade, Weihnachten, es heißt Abschied nehmen, bis zum nächsten Jahr.

Und schon, kaum ist der fromme Gruß ausgesprochen, die Feierzeit entlassen, laufen die Katastrophenmeldungen ein. Der Großvater, Vater der Mutter dieses Mal, ist niedergestürzt und nun im Krankenhaus. Als hätte er sich eben noch durchs Weihnachtsfest schleppen wollen, geschafft und jetzt – gleichfalls Abschied nehmen. Wird es für ihn ein nächstes Jahr geben? Wasser in der Lunge, Schwäche, allgemeine Kraftlosigkeit werden erst einmal diagnostiziert. Doch halt, da wird noch ein Milzriss entdeckt, Unmengen von Blut in der Bauchhöhle, Notoperation, man hätte den Befund keine Stunde später stellen dürfen. Gerettet? Keinesweg; aus der Narkose wird ein Koma.

War es das?

Und haben wir da nicht noch einen Abschied? Die liebe Verwandte hat sich vor den Feiertagen von ihrem Freund getrennt und er taumelt nun im Trennungsschmerz durch die Tage und Nächte. So ist das für manche: Da offenbart man sich als Einzelgänger einem Menschen, vertraut ihm – und nur ihm – alles an, macht diesen Menschen zum besten Freund und zur Geliebten zugleich und dann so was. Die Nabelschnur gekappt, der Astronaut treibt plötzlich allein durch ein leeres, kaltes, dunkles Universum. Wieso den Abschied nicht gleich perfekt machen und sich in den Tod stürzen? Zwei Tage und Nächte also stützen ihn seine Verflossene und ihr Bruder, Betreuung rund um die Uhr, bis es ihnen langt: Genug ist genug, wenn du nicht leben willst, wird’s zu einem klinischen Fall. Und da haben wir also schon wieder das Krankenhaus und die Drohung von Tod.

Abschied, Abschied, Abschied.Die Erde dreht sich weiter. Und wir schweben immer noch in unseren Anzügen durch das All.

Ein Weihnachtszyklus – (nicht ganz) frei von Religion (6)

26. Großvater und Enkel – ein Gespräch

Verwandtschaftstreffen sind ja so eine Sache: Sie bieten je nach Familienverhältnisse alles zwischen Himmel und Hölle. Stellen wir uns nun einfach einen Fall vor, in dem man sich in Solidarität mit einem Verwandtschaftszweig übt, weil es die Tradition erfordert, nicht, weil das Herz ruft. Steckt man einmal mitten drin, spürt man doch, dass ein wenig Zuneigung da ist und sei es nur aus der Gewohnheit früherer Tage. Am interessantesten – so spinnen wir unser Gedankenspiel einfach mal weiter – ist der Großvater, Vater des Vaters. Bedauerlicherweise ist er zugleich der Zurückhaltendste: Er hat es schon seit langem gelernt, sich in sich zurückzuziehen, in seine eigene, wissensreiche Innenwelt. Ein Kriegsinvalide, nur kurzfristig arbeitstätig, einäugig und seit dem Alter nicht mehr allzuweit vom Blindsein entfernt. Und weiter: Eine Ehefrau, bestimmend, überstimmend, zu oft klagend – „aber man kann ja nichts machen.“

Stellen wir uns weiter drei Enkel, Söhne eines Vaters, vor, die um diesen Mann herum sitzen und ihn irgendwann zu seinen Kriegserfahrungen befragen. Es ist ein unweigerliches Thema, mehr von der Seite der Enkelgeneration aus, aber sie greift nur etwas auf, was unausgesprochen im Raum steht. Es ist soviel Schreckensfaszination an dem Erlebnis „Krieg“, dass es auch jetzt nach über einem halben Jahrhundert für den Betroffenen noch immer ein Thema ist. Erfahrungen, die das ganze Leben prägen und immer wieder nagen, immer wieder die Bearbeitung suchen, Seelenarbeit verlangen. Und für die Spätgeborenen: Eine Möglichkeit, etwas Fremdem und so ungeheuer Gewaltigem wenigstens in den Erzählungen eines Zeitzeugen nachzuspüren. Dabei drängt der Großvater dieses Thema nicht auf; wie gesagt, oft suchen die Enkel es. Bösartige Zungen könnten sagen, der Krieg wird nur ins Spiel gebracht, um Gesprächsstoff zu finden; ein Thema, zu dem es immer etwas zu sagen gibt und man bequem eine gemeinsame Kommunikationsebene findet. Doch das wäre verfehlt, es ist mehr: ein Bedürfnis auf beiden Seiten.

Es fängt harmlos an. Dänemark als Annäherung an das Thema, Stationierung vor dem ernsthaften Kriegseinsatz. Es ist so etwas wie die heile Zeit des Großvaters in dem Mahlstrom des Krieges. Seine Erinnerungen an diese kurze Zeit sind nur gut und es gehört zu den wenigen wirklichen Wünschen, die er noch für sein Leben hat, nach Dänemark zu reisen, als Tourist, als braver Reisender, Jahrzehnte nach der deutschen Besetzung. Und unvorstellbar eigentlich, dass dieser Wunsch nicht erfüllt wird. Allein zu reisen ist nicht mehr möglich und die Großmutter sperrt sich, schiebt scheinbar vernünftige Bedenken vor. Zu alt, zu weit, zu schwierig, ach könnte man noch, aber wir sind dann doch besser vernünftig und bleiben zu Haus. Bis es eben wirklich zu spät wurde für solch eine Reise.

Nach Dänemark kommt dann Frankreich. Manchmal zumindest. Frankreich – das ist offener Krieg. Selbst hier ist noch Raum, ‚Lebensraum‘ gewissermaßen, für eine Anekdote, wie den französischen Wein, der den Großvater den Abzug verschlafen und der Truppe katerköpfig hinterhereilen ließ. Doch Frankreich ist auch mehr: die Front, der Kampfeinsatz, die Verwundung. Eigentlich alles, nur nicht Ostfront. Davor blieb der Großvater verschont. Wer aus dieser Verwandtschaft an die Ostfront gekommen war, kehrte nicht zurück.

Enkel #2: Du Opa, wie war das eigentlich mit deiner Verwundung?

Großvater: In den Vogesen war das gewesen, im Herbst, als ich das erste Mal wirklich an der Front war.

Enkel #1: Wie ist das eigentlich mit der Angst dort an der Front? Verliert die sich bald, weil so sie alltäglich geworden ist?

Großvater: Ja, die Angst … (Zögern) Die fängt an, wenn man das erste Mal die Artillerie hört. Das ist ein sehr unangenehmes Gefühl, das sag ich euch.

Enkel #3: Wie hört sich das denn an?

Großvater: Zuerst ist es nicht mehr als ferner Donner. Da fängt es an, im Bauch mulmig zu werden. Und dann hört man irgendwann das Pfeifen, das immer lauter wird, bis es über dir ist.

Enkel #3: Dann ist es wohl am gefährlichsten …

Großvater: Nein, nein! Solange du die Geschosse noch hörst, ist alles in Ordnung. Dann fliegen sie nämlich über dich drüber. Wenn es dich dagegen erwischt, hörst du kein Pfeifen und nichts – dann ist es einfach da und aus.

Enkel #2: Und so eine Granate hat auch dich erwischt?

Großvater: Ja, aber ich hab‘ ja noch Glück gehabt.

Enkel #1: Wann war denn deine Verwundung?

Großvater: 17.11.44, am Morgen. (Ein Glasauge starrt ins Leere, die Hände zittern.)

Enkel #1: Was war euer Auftrag gewesen?

Großvater: Ein Stellungswechsel.

Enkel #2: Und wie lief das ab? Seid ihr da in der Gruppe losmarschiert? In Formation?

Großvater: Nein, man ist eben los. Wir sind zu zweit gegangen mit dem Funkgerät und dann war es halt plötzlich passiert. Der andere ist heil davon gekommen, aber ich lag am Boden. Und dann erinnere ich mich nur noch an das Gesicht meines Kameraden, wie er entsetzt auf mich herabschaut und dann davonläuft. Soldaten aus einem anderen Zug haben mich dann aufgesammelt und ins Krankenlager gebracht.

Enkel #3: Hast du Morphium bekommen oder so?

Großvater: Ach von wegen, nichts!

Enkel #2: Aber man sieht doch immer, wie die Verwundeten gleich eine Morphiumspritze bekommen, in den amerikanischen Filmen sieht man das.

Großvater: Ja, die Amerikaner vielleicht … Wäre ich von den Amerikanern gefangen genommen worden, wäre ich medizinisch wahrscheinlich besser versorgt worden.

Enkel #2: Ja, haben die Gefangene denn so gründlich versorgt?

Großvater: Ja sicher! Bei uns war da nicht mehr viel zu machen, nicht mehr zu dieser Zeit. Ins Sterbezelt hatte man mich gelegt, das war alles. Und dann bin ich halt doch noch wieder aufgewacht. Die einzigen, die es etwas besser hatten, waren die von der SS. Die bekam immer das Beste. Wenn ich euch so ansehe – ihr wärt, wären die Zustände immer noch so, bei der SS. Alle drei. (Gerunzelte Stirn, ein seltsames Gefühl im Bauch, im Brustkorb. Kurze Blicke, verwirrt, zeigen, dass alle Enkel das gleiche denken: Wie war das denn bitte gemeint?) Ich war damals zu klein geraten dafür. Gott sei Dank.

Ein Weihnachtszyklus – (nicht ganz) frei von Religion (5)

25. Solsfest

Weihnachten ist ein heidnisches Fest. Unser christliches Fest ist eingehüllt in ein Bett nichtchristlicher Religionen und wenn man dieses Schicht um Schicht ablöst, bleibt am Ende  fast nichts.

Die Weihnachtsgeschichte der Evangelien, das wundert nur noch wenige, ist dem Neuen Testament spät hinzugefügt. Die drei Weisen aus dem Morgenland sind natürlich nichts anderes als persische Magier. Aber wie kommen diese in die christliche  Weihnachtsgeschichte? Folgen wir den Spuren der persischen Priester zurück in ihre Heimat und wir werden den Ursprung dieser evangelischen Tradition dort finden. Die iranischen Religionen, namentlich der Zoroastrismus und der Mithrakult, haben das Christentum  maßgeblich beeinflusst. Wo haben wir zuerst die Apokalypse, das Weltengericht am Jüngsten Tag mit der Wiederauferstehung der Toten und der Scheidung der Seelen in  Sünder und Rechtschaffene, in Höllensturz und Eingang ins Paradies? Aus der iranischen Geisteswelt kommt es und Eingang fand es in die Bibel über das babylonische Exil der Juden und ihre Freilassung und Förderung durch die neuen Eroberer Babylons und des ganzen Nahen Ostens: den Persern.

Dabei bleibt es nicht. Die Magier, also die Mitglieder einer iranischen Priesterkaste, trafen sich jährlich auf einem Berggipfel, um Ausschau zu halten nach dem Stern, der die Geburt des Erlösers, des Weltenheilands ankündigt. Ja, hier haben wir ihn, den Stern von Bethlehem und die Inkarnation des Messias.

Als sich das noch recht junge Christentum daran machte, Fuß zu fassen in den Provinzen des Römischen Reiches, war es nicht frei von Konkurrenz. Mit ihm waren andere Erlösungsreligionen aus dem Osten über die Mittelmeerwelt gekommen. Strahlende Gottheiten, die ihren Anhängern ein besseres Leben nach dem Tode versprachen, eine Existenz im Lichtglanz statt seufzendes Verblassen in den schattigen Regionen der antiken Unterwelt. Einer der schärfsten, weil erfolgversprechendsten Konkurrenten des Christentums war der sonnenschimmernde Mithras, ein Abkömmling des iranischen Heilands Mithra. Ein anderer war ein syrischer Sonnengott, der als SolInvictus, der unbesiegte Sonnengott, zum Übergott über alle Kulte und Gottheiten des Römischen Reiches erhoben werden sollte, aber wegen seiner Radikalität und Fremdartigkeit an der römischen Widerspenstigkeit scheiterte. Doch er war nicht tot. Man holte den unbesiegten Sonnengott wieder an den Himmel empor, verband ihn mit anderen Sonnenkulten, identifzierte ihn mit Mithras, gab ihm mit der Neuplatonischen Schule philosophische Tiefe, machte ihn zum allumfassenden Hochgott, der alle anderen Gottheiten in sich barg und doch nicht den letzten Schritt zur ungnädigen Intoleranz des allein und einzigen Christengottes machte und stützte Reich und Herrschaft des Imperium Romanum auf diesen Sol Invictus. Der Sonnengott lag gut im Rennen; letztlich setzte sich dann doch das Christentum durch. Wie stark die Konkurrenz aber war, zeigt, dass das christliche Weihnachtsfest flugs verlagert wurde auf den 25. Dezember – den reichsweit populären Feiertag des Sol Invictus –, und christliche Denker in ihren Streitschriften verkündeten: „Christus verus sol“ – Christus ist der wahre Sonnengott.

Ja, wir feiern ein Sonnenfest an den Weihnachtstagen.

Ein Weihnachtszyklus – (nicht ganz) frei von Religion (4)

24. Der Tag der Soledad

Einen Sack Reis gibt es unter anderem, ganze 25 Kilogramm Reis. Was für eine Pracht! Was als Witz über glückliche einstige Inkarnationen als Aufseher von Getreidespeichern begonnen hatte, endete in diesem leibhaftigen Sack Reiskörner. Vollgefressen, gemästet ergötze ich mich an dem Anblick, kann mich immer noch an dem Bild von Essen erfreuen, obwohl ich mich jetzt schon selbst schlachtreif fühle. Irgendwann wird das Essen zum Selbstläufer, zum sinnentleerten Automatismus, der einen durch die Feiertage steuert und jegliche Anflüge von Selbstzweifel oder Unruhe unterdrückt. Ja, das Fressen, das ist wie Computerspielen oder Wichsen aus Langeweile. Wie aber soll man sich in der Weihnachtszeit diesem Strom an Leckereien auch erwehren? Jede Verteidigungsstrategie scheitert gegen dieses Große Fressen. Da bleibt, wie ein Schulfreund an diesem Tag noch sagen wird, nur noch der Weg in die Bulimie.

Der Abend findet mich in einer Kneipe wieder. Viele Gesichter, die man vielleicht schon ein Jahr lang nicht mehr gesehen hat. Es ist berauschend. Jeder freut sich selbst über bloße Bekannte aus früheren Zeiten. Ein vergessen geglaubtes Gefühl kommt auf und wir schwingen alle in Glückseligkeit. Was ist es, was uns in schiere Euphorie versetzt? Sind es wirklich all diese Menschen? Der gemeinsame Background, das ist es, was uns zusammenschmiedet und glücklich macht, erklärt mir ein Freund, Mensch Nummer 500, mit dem ich an dem heutigen Abend Worte wechsel. Wir sitzen an der Theke und dann beginnt er vom „Fest der Liebe“ zu sprechen. Da sitzen wir also, ohne Frauen, und es soll das Fest der Liebe sein. Sie blickt mich an – könnte es doch heißen, aber nein: Es ist der Tag der Soledad. Eine Parabel wird nachgeliefert. „Ich erzähle euch eine Geschichte“, beginnt mein Freund neben mir an der Theke. „Stellt euch eine hohe Mauer vor, einen Hof dahinter und darin die Frauen, auf die wir unser Leben lang gewartet haben, von Aliens dorthin entführt. Und ich sage euch, Brasilien ist auf dieser Welt der Ort, der diesem Platz am nächsten kommt.“ Ja, Brasilien, schön und gut, denke ich, aber wir sitzen hier in Deutschland.

Irgendwann wird es schließlich zu viel: zu viele Sinnesreize, zu viele Menschen, zu viele Freunde sogar, man ist gesättigt. Ein Schiffbrüchiger in einem Meer aus Leibern, Wellen aus Lärm schlagen über dem Kopf zusammen, man ertrinkt fast, Atemnot stellt sich ein in den Nebelschwaden aus Rauch, die über diesen Wassern hängen und die Sicht verhüllen; ein gespenstischer, hoffnungsloser Ozean. Auf einmal ist man einsam. Einsam in der Menge und es bleibt nur die Flucht hinaus in die Nacht, in die kühle, leere Nacht. Der neblige Burgberg ragt empor und die Füße nehmen die niedrigen Stufen hoch, weg von den Menschen, hinauf, hinaus aus dem Meer der Geselligkeit. Der Blick fällt zwischen feuchten Buchen hinab auf den Friedhof. Rote Kerzen brennen auf den Gräbern und ich erinnere mich, dass ich in all den Jahren seit seinem Selbstmord immer noch nicht an P.s Grab dort unten gewesen bin.

Ein Weihnachtszyklus – (nicht ganz) frei von Religion (3)

23. Mulholland Drive, das erste Mal

„Und, was meinst du?“

„Ein guter Film, ohne Frage. Ich bin mir nur nicht sicher, ob er wirklich einen Sinn hat. Eine Logik.“

„Hat er, da bin ich mir sicher!“

„Man wird den Film wohl mehrmals sehen müssen. Wahrscheinlich wird dann manches klarer.“

„Auf jeden Fall! Da gibt es ganz bestimmt einiges noch zu entdecken. Ist dir etwa aufgefallen, dass ein paar Personen mehrmals vorkommen, ich meine, in unterschiedlichen Rollen, immer etwas anders aussehend, aber doch dieselben? Das naive Mädchen etwa, Diane, das dann heruntergekommen mit dem Killer herumläuft?“

„Ach ja, natürlich! Ja, das wird mir jetzt erst klar, wo du es sagst.“

„Und an Symbolismen mangelt es ja auch nicht. Rita etwa, immer in Schwarz und Rot, dazu ihr bleiches Gesicht. Als würde sie den Tod symbolisieren oder anders gesagt, der Tod in ihr zum Vorschein kommen. Manchmal hat sie auch etwas Dämonisches. Denke an die Kameraeinstellung, ihren Blick.“

„Vieles ist mir aber einfach schleierhaft. Was etwa soll die kleine Episode mit dem Mann in dem Imbiss und dem Schwarzen Mann? Wo ist das der Zusammenhang?“

„Der Schwarze Mann … Er erschrickt den armen Burschen zu Tode. Er sieht auch erschreckend aus. Aber ist er böse?“

„Er bringt auch die blaue Schachtel ins Spiel, die …“

„Pandoras Büchse, oder?“

„Nun, es scheint, als würde sie das Böse fassen. Aber eigentlich ist es doch eher die Wahrheit, die freigelassen wird, als der Deckel gehoben wird. Der Traum zerbricht, das Gewissen meldet sich …“

„Passt, ja. So gesehen kann man den Schwarzen Mann einfach als Wächterfigur sehen, erschreckend für die Menschen, aber keineswegs böse. In den Mythen gibt es doch immer wieder solche Wächterfiguren.“

„Nochmals zum Traum zurück. Auf eine bittere Weise lustig fand ich, wie das Mädchen anfangs sagte: ‚Jetzt bin ich in dieser Traumstadt.‘ Positiv hat sie es gemeint: in dieser großartigen Stadt. Zugleich die Stadt der Träume, der Filmträume, des großen amerikanischen Traums. Es ist derTraum, der hier zerplatzt. Oder eigentlich erst geträumt wird und dann zerplatzt. Ich finde es aber gar nicht so einfach zu sagen, was davon sich nun in einen Albtraum verwandelt, der Traum oder die Realität.“

„Ja, sie gleitet ab. Erinnerst du dich, das blaue Leuchten? Als die beiden Frauen nachts noch unterwegs sind? Da kippt das Ganze. Weißt du, die Szene, wo die Kamera auf die beiden zurast. Wie ein angreifender Stier.“

„’Silencio‘, haha.“

„Auf jeden Fall wurde es da dann schwierig, noch dran zu bleiben an dem Film. Bis dahin war die Geschichte ja noch irgendwie nachvollziehbar, aber dann zerbricht alles. Und die Bilder und Symbole nehmen noch weiter zu. Würde sagen: Dominieren jetzt vor der Geschichte, während sie vorher nur ein Teil der Geschichte waren.“

„Aber ergibt wirklich alles einen Sinn: jede Einzelheit, jedes Detail? Könnte man alles deuten und in Beziehung setzen zu den anderen Elementen? Wie weit geht die Logik?“

„Gute Frage. Ich vermute, ja – es hat alles einen Sinn. Aber vielleicht ist alles auch nur ein Witz des Regisseurs.“

„Wie hieß es noch einmal? ‚Alles nur eine Illusion‘, sagte sie doch. Alles nur eine Illusion.“

Nun gut, das wird wohl der schwächste Teil dieses nicht gerade taufrischen Weihnachtszyklus gewesen sein. Vielleicht hätte ich ihn doch besser ausgetauscht durch einen kleinen Text, der in den Anfangszeiten des Blogs online gegangen war, über diese besonderen Tage vor Weihnachten, manchmal verlogen, manchmal ganz kostbar.

Ein Weihnachtszyklus – (nicht ganz) frei von Religion (2)

22. Der gewaltigste aller Filme

Die Begrüßung hatte eine gewisse Befangenheit. Wir hatten uns lange nicht gesehen und ich war das erste Mal in seiner neuen Wohnung. Sie war größer als die vorherige; noch mehr Raum, der mit Computern, CDs, Zeitschriften, Postern, Büchern und ein paar Überbleibseln aus seiner Kindheit, gleich bizarren Inseln in diesem Meer, gefüllt war.

Er freute sich und ich freute mich auch und wir lächelten ein geheimnisvolles Lächeln und sahen doch in den Augen des anderen ein wenig Verlegenheit. Wie so oft lief Filmmusik. Schwere Musik, schwer und groß wie der Mann vor mir: ein langsamer Hüne, und diese Schwere fand sich in allem – in seinen Gebärden, in diesem Zimmer, in den Farben.

Er war vom Filmgeschäft enttäuscht. Hoffnungen waren geplatzt, Verträge waren zurückgezogen, Versprechen gebrochen, Ideen für eigene Projekte abgewiesen worden. Zu originell, lautete die Begründung. Niemand wolle so etwas sehen, und folglich wollte niemand so etwas produzieren. Bloß keine Experimente auf dem deutschen Filmmarkt!

Das war vielleicht das Schlimmste: der Tod der Kreativität. Was blieb, war die Möglichkeit, die eigene Haut zu Markte zu tragen. Sich zu verkaufen, das widerstrebte ihm aber; etwas zu schaffen, an das er nicht glaubte, tat ihm weh.

Und nun sah er seine neue Hoffnung im Glauben, der zu seiner wichtigsten Stütze geworden war. Er überlegte, nochmals zu studieren, vielleicht einen internationalen Studiengang Theologie, berufsbegleitend. Und danach – womöglich Pastor?

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll und höre nur zu, ich registriere, lächle vage, aber nicke nicht.

CD-Wechsel: Der Herr der Ringe 2.

„Der gewaltigste Film aller Zeiten“, sagt er. Die Musik ist dunkel und heroisch und das Ende
schwer und gewaltig, gigantisch, düster, wie schwarze Klippen der Nacht, die majestätisch
emporragen. Einsam.

Das war es: Sie drückte aus, was ich sah, was ich fühlte, als ich ihm zum Abschied die Hand reichte. Ein einsamer, großer, schwerer Mann, der da dunkel im Zimmer stand.

Ein Weihnachtszyklus – (nicht ganz) frei von Religion (1)

21. „Lauter Idioten“ – Monolog eines Buchhändlers

„Jetzt kommen sie alle angerannt, zu Weihnachten, und wollen ihre Bücher. Kommen in den Laden gestürmt und haben von nichts eine Ahnung, aber glauben, sie müssten nun ein Buch kaufen und verschenken. Menschen, die sonst nie im Jahr eines in die Hand nehmen. Diese Idioten! Ja sicher, was glauben Sie denn! Nein, ein Philanthrop bin ich wirklich nicht. Als Schreiberling darf man aber auch gar kein positives Bild vom Menschen haben. Man braucht ja schließlich etwas, um sich daran zu reiben. Was will man denn sonst schreiben? Nein, nein, so ein heiterer, gelassener Mensch bin ich nicht. Sonst wäre ich etwas anderes geworden. Aber gut, solche Menschen braucht es wohl auch, da sage ich ja gar nichts. So einer mit einem unerschütterlichem Gemüt und einer Eselsgeduld, wissen Sie, so einer, der durch nichts aus der Ruhe zu bringen ist und glaubt, dass der Mensch ein edles Wesen sei. Es gibt ja Menschen, die das ausstrahlen, so eine vollkommene Ruhe; die arbeiten dann bei der Diakonie oder so. Die glauben auch an den guten Menschen. Ja, doch! Es gibt doch tatsächlich so Wahnsinnige, die den Menschen für eine gelungene Schöpfung Gottes halten.“

Anmerkung: Der Weihnachtszyklus in sechs Tagen stammt aus dem Anfang des Jahrtausends. In den Jahren seither wurde er ein oder zweimal Freunden vorgelesen, sonst passierte aus guten Gründen nichts damit. Angeregt von einigen kreativen Blogadventskalendern hole ich ihn nun doch aus der Schublade. Morgen, zum zweiten offenen (Vor-)Weihnachtsabend bei Zeilentiger, wird er gelesen – zusammen mit einer Geschichte von Ray Bradbury. Gestern gab es dort Charles Dickens mit dem ersten Teil seines wunderbaren „Christmas Carol“ sowie etwas zu Weihnachten in Damaskus.

Es ist mehr als nur Dunkelheit

Es ist mehr als nur Dunkelheit in dieser Nacht, trittst du einmal hinaus in die Wüste, in die karge Hochebene, wo sich Tau als Manna niederschlägt. Du kostest das Feucht von den Blättern, nur einen Hauch auf der Zunge, und staunst, was auf einmal ausgebreitet vor dir liegt. Du schmeckst Versprechen, und die späte Stunde der Nacht ist nicht mehr Finsternis und Kälte, sondern schön, eben wie sie ist, und du denkst dir: Bitte, Leben, bitte höre jetzt nicht auf, nicht gerade jetzt. Dreh dich weiter und schenke mir den Morgen, der da zu ahnen ist hinter den Klippen am Rande des Llano.

Bloggeburtstag

Heute wird „Zeilentiger liest Kesselleben“ ein Jahr alt! Es war ein spannendes Jahr: viel gelernt und viel erfahren, neue Entdeckungen und neue Menschen, immer Freude am Blog. Ich sage danke. Ohne Euch, liebe Leserinnen und Leser, wäre der Blog nichts wert.

Statt einer Geburtstagstorte gibt es eine kleine Geschichte, einen Text, wie er an diesen Ort sonst nicht gehört. Und den Kaffee dazu, den trinken wir vielleicht einmal bei passender Gelegenheit.

Geschichten vom Radscha und dem Tiger – Der Aufbruch

„Tiger“, seufzte der Radscha, „ich bin unglücklich.“

Der Angesprochene hob den Kopf von seinen Tatzen und zog eine Augenbraue nach oben. „Unglücklich? Wo du doch Radscha bist? Was fehlt dir denn?“

„Das ist es ja: Ich weiß es selbst nicht. Alles ist so schal und fad. Weißt du – an jedem Tag dasselbe: Ich sollte mich über den neuen Tag freuen, wenn ich morgens aufwache, und auf den Balkon treten, um die Sonne zu begrüßen, aber was mache ich stattdessen? Ich wälze mich im Bett von einer Seite auf die andere, bis ich endlich doch mal aufstehe. Und wenn ich dann in den Spiegel sehe, blickt mir ein Griesgram mit verquollenem, blassem Gesicht entgegen. Und das ist nur der Anfang. Das geht den ganzen Tag und die ganze Woche und den ganzen Monat so weiter. Wie Langeweile, nur schlimmer.“

Selbstmitleidig stützte der Radscha das Kinn in seine Hand.

Tiger richtete sich auf. „Das ist nicht gut, das sollte nicht sein.“

„Und was rätst du mir, Tiger?“

Der blickte ernst aus dem Fenster hinaus, wo die Vögel über den schlanken Baumwipfeln schwirrten und die Luft unter dem blauen Himmel vor Hitze flimmerte. „Vielleicht brauchst du eine Änderung, o mein Prinz. Siehst du die Vögel dort draußen fliegen? Ich glaube, du solltest dich unter sie mischen.“

Der Radscha blickte mit neu erwachtem Interesse nach draußen, doch schnell fand sein Gesicht wieder zu dem Ausdruck von Missmut zurück. „Und wer soll sich um mein Reich kümmern, wenn ich dort draußen bin?“

„Radscha, Radscha“, tadelte ihn der Tiger mit einem sachten Lächeln. „Ein guter Herrscher sitzt nicht nur in seinem Palast wie die Spinne im Netz und harrt der Dinge, die da kommen mögen – oder es vielleicht auch nicht tun. Es ist sicherlich eine gute Idee, einmal hinauszugehen und nachzusehen, wie dein Reich denn tatsächlich beschaffen ist. Oder hast du es etwa schon durchforscht, vom einen Winkel bis zum andern, und kennst alle Wege und Strecken?“

„Nein“, bekannte der Radscha. „Das habe ich nicht. Da hast du Recht.“

Doch noch immer zögerte er. Bangen und Hoffen mischten sich in seinen Zügen, während seine Finger unruhig mit den Fransen eines Kissens spielten.

„Und wie soll ich die Reise machen, Tiger, mein Ratgeber? Wen nehmen wir in unser Gefolge? Wie gestalte ich den Hofstaat? Nehmen wir Elefanten und Standarten oder lieber stolze Reiter in Weiß und Silber oder Tänzerinnen und Trommler, die uns den Weg bereiten?“

Tiger musterte die Vögel vor dem Balkon. „Wenn du ein Tiger bist und dich unter Tauben mischen willst, wie verhältst du dich dann?“

„Ich werde zu einer Taube.“

Tiger nickte. „So ist es, junger Radscha.“