Kürzlich, als die Sommernächte noch warm waren, reiste ein Onkel aus Berlin an, um bei einer Roda de Choro in Stuttgart mitzuspielen. Er war fast so lange mit der Mitfahrgelegenheit unterwegs, wie er dann Stunden in der Stadt verbrachte. Bereut hat er seine Reise nicht.
Gelockt hatte ihn der Choro, ein brasilianischer Musikstil, bei dem verschiedene Saiteninstrumente, Bläser, Percussion und bisweilen Gesang zum Einsatz kommen. Seine Wurzeln gehen ins 19. Jahrhundert zurück, Mitte des letzten Jahrhunderts war er fast verschwunden, doch inzwischen findet er wieder mehr und mehr Liebhaber – nicht nur in Brasilien, sondern auch in den USA und in Europa. Manche nennen die Melodien des Choro melancholisch, mir kommen sie eher heiter vor – leicht wie die lauen Sommernächte in Woody Allens altersmilden Filmen.
Eine Roda de Choro, um die Begriffserklärung abzurunden, ist eine Art Jam Session. „Roda bedeutet eigentlich Kreis und bezeichnet die übliche Anordnung der Musiker: Runder Tisch, auf dem sich Noten und Getränke stapeln und drum herum die Musiker, die sich so besser sehen können.“ So erklärt es Hartmut Preyer, ein in der Szene bekannter Choro-Musiker aus Berlin, auf seiner Website.
Eine Roda de Choro in Berlin, Kreuzberg
Bevor die Roda in einem Restaurant im Leonhardsviertel zwischen einschlägigen Etablissements des Stuttgarter Rotlichtmilieus loslegt, bleibt noch etwas Zeit – Gelegenheit für einen Besuch auf einem traditionsreichen Straßenfest: dem Bohnenviertelfest.
Vor den „großen“, zu Schulzeiten noch so magischen Sommerferien jagt in Stuttgart ein Straßenfest das andere. Wochenlang kann man so von Viertel zu Viertel springen und sich die Wochenenden auf Plätzen und Straßenpflaster um die Ohren schlagen: das Straßenfest im hippen Heusteigviertel, das Marienplatzfest mit seinen Sitztürmen aus Holzpaletten, das bunte Afrika-Festival am Erwin-Schoettle-Platz, das gemütliche Bohnenviertelfest, das Henkersfest auf dem Wilhelmsplatz … – um nur als ein Beispiel von Partyhopping die zwei Kilometer zwischen Schreiberstraße und Charlottenstraße zu nennen.
Hinterhof im Bohnenviertel mit altem Torbogen
Das Bohnenviertel gilt als einziger erhaltener Teil der historischen Altstadt Stuttgarts und besticht – nur wenige Gehminuten von der hektischen Innenstadt entfernt – mit seinem Flair aus Kunsthandwerk und kulinarischem Genuss. Auf seinem sommerlichen Straßenfest bringt es nicht nur Anwohner und Gewerbe aus dem Quartier zusammen, sondern lockt auch viele ‚auswärtige’ Besucher. Sogar ein erprobter Berliner lässt sich da begeistern. „Klasse! Hier sind wir richtig! Wie lange geht das? Ist das einmal im Jahr oder jedes Wochenende?“
Ein Gläschen in Ehren
Nach einer ersten Bestandsaufnahme versuchen wir es mit württembergischem Weißwein aus Henkelgläsern. Ein paar ältere Herren spielen nebenan Dixieland, herrlich entspannt, heiter, zehn Schritte weiter baut die nächste Band bereits ihre Instrumente auf. Eine junge Frau tritt an den Weinstand, der Schankwirt und sie scheinen sich zu kennen. „Hallo, servus, willst du was?“ „Ja. Sag, was schmeckt mir denn?“
Atempause
Der Dixie hat sich ausgespielt, das Glas ist geleert, bei Gesprächen über Manfred Krug als Musiker („Jazz vom Feinsten“) und Vierröhrenverstärker, kopfschmerzverdächtige Weinmischungen und Spanferkelsemmeln, Malen nach Zahlen und Sprachunterricht ziehen wir weiter. Jede Gasse, jeder Hinterhof lockt, selbst in den engen Höfen der Handwerksbetriebe ist noch Leben – man weiß dann kaum mehr, ist man noch auf dem Bohnenviertelfest oder schon auf einer Betriebsfeier.
Wohnen im Bohnenviertel
In einer Seitenstraße häufen sich Menschen in schwarzen T-Shirts mit dem Aufdruck „echt zwinz“. Ein Junge baut mit seinem Vater an einem Turm, es ist eines jener Spiele, bei dem man aus einer Lage von Hölzern so viele wie möglich herauszieht und oben aufbaut, ohne das Ganze zum Einsturz zu bringen. Der Turm ist bereits höher als der Junge. Die Türen zur Schreinerei Zwinz für Design und Funktion („Gegen Vergessen hilft nur Merkwürdig sein“) stehen den Besuchern offen. Es ist fast ein Zauberreich, das man hier betritt mit seinen Hölzern, seinen Formen, seinen Farben auf zwei Stockwerken. Im Obergeschoss werden Kaffee und Kuchen serviert, eine Dachterrasse lädt zum Sitzen ein, so überzeugend, dass sie einfach gestellt werden muss, die Frage: „Bieten Sie hier regelmäßig Kaffee und Kuchen an?“ Leider nein, aber die Frage hatten die freundlichen Damen an diesem Tag wirklich nicht zum ersten Mal gehört.
Wer will nicht hier sitzen? Dachterrasse der Schreinerei Zwinz
Als wir wieder hinaustreten auf die Gasse, schlägt einer der Schreiner auf der Schwelle sitzend eine Gitarre an. „Schau, aus Ahorn, das ist der Hammer“, erklärt mir mein Onkel. „Ahorn gibt einen besonderen Klang, hell, nach vorne gerichtet, einen guten attack.“ Echt Zwinz bis ins Gitarrenspiel.
In einer Gasse
Zurück auf den Hauptgassen reiht sich Band an Band. Der Sound fließt ineinander, man entkommt hier der Musik nicht. Ein kleiner Junge krabbelt fröhlich auf dem Kopfsteinpflaster – „Oh, hier kommt uns ein kleiner Bürger entgegen!“ –, wir weichen aus, als mich unerwartete Klänge sofort umdrehen lassen. Tatsächlich, „The Dambusters March/Medley“ von Jethro Tull aus ihrem Live-Album „Bursting Out“. (Gäbe es eine Zeitmaschine, wäre ein Konzertbesuch auf dieser Tournee eines meiner vorrangigen Ziele.) Die Musik kommt aus einer Erdgeschosswohnung, die Fenster sind weit zur Straße hin geöffnet, auf einer Fensterbank sitzt im Schneidersitz ein Mann im schwarzen T-Shirt, eine Zigarette in der Hand, und schaut sich gelassen das Treiben an. „Echt überall Bands“, erklärt er lachend. „Gleich da drüben lärmen sie, also muss ich doch dagegenhalten, oder? Gestern hatte ich The Who, heute Jethro Tull.“ Er macht sich sein eigenes Bohnenviertelfest. Und bereichert es.
Schon im Leonhardsviertel? Nein, ein Schnapsausschank
Dann ist es so weit: Die Roda de Choro e Samba ruft, wir lassen das bunte Treiben hinter uns, ziehen vorbei am hässlichen Parkhaus, das Bohnenviertel und Leonhardsviertel trennt (viele, die es nicht so genau nehmen, schlagen die Rotlichtmeile dem Bohnenviertel zu), vorbei am Maxim, wo später, wenn die Freier schwirren, Türsteher postiert sein werden, um die man gerne einen großen Bogen schlägt, wir passieren das Irma la Douce gleich daneben, dieses (leider auch preislich) fantastische französische Restaurant, und tiefer die Katharinenstraße hinab.
Noch sind nicht viele Choro-Musiker vor Ort, aber nach und nach wächst die Runde an, manche sind wie mein Onkel nur für diesen Abend aus einer anderen Stadt angereist und ein langer musikalischer Abend beginnt. Das Restaurant ist nicht gut besucht, doch das ist ganz egal. Die Roda spielt wie für sich, voller Lebenslust und Freude, und ist sich ihr eigenes Publikum.
Gegen Mitternacht lege ich meinem Onkel die Zweitschlüssel für die Wohnung hin und spaziere durch die Sommernacht nach Hause, die Schuhe in der Hand und barfuß über das Kopfsteinpflaster, über den warmen Asphalt. Mein Onkel hat da noch ein paar Stunden Roda de Choro vor sich. Als er sich in einer Pause die Beine vertritt und auf der Hoffnung nach einem Spanferkel hinüberschlendert ins Bohnenviertel, ist das Fest dort bereits zu Ende. Macht nichts. Mein Onkel freut sich trotzdem schon auf seinen nächsten Besuch.
Das Stuttgarter Bohnenviertel lässt sich im Netz erkunden auf der Website des Handels- und Gewerbevereins Bohnenviertel mit netten kleinen Hintergrundinformationen („Häddet Se’s gwusst?“). Einen vor allem historischen Streifzug durch die Gassen des Quartiers bietet http://www.stuttgarter-bohnenviertel.de/. Für einen schnellen Überblick über das heutige Viertel ist auch http://www.bohnenviertel-stuttgart.de/ hilfreich.