Quint, Bullay, Cochem – ginge ich nur nach den Namen der Haltestellen, wüsste ich nicht, noch in Deutschland zu sein. Als ich vom Zug in den Bus wechsle, verstärkt sich der Eindruck: Auf einer abgesteckten Grünfläche erspähe ich ein Schild „te koop“ (zu verkaufen) – und erst darunter die Botschaft auf Deutsch und Englisch.
Die Mosel scheint hier quasi in holländischer Hand. Auf den grünen Uferwiesen reihen sich die Campingplätze und darauf eine Legion an Fahrzeugen mit gelbschwarzen Kennzeichen. Tagsüber sitzen die Urlauber gerne in Liegestühlen vor ihren Wagen und trinken Bier („selbstmitgebrachtes“, beteuert ein Gewährsmann), abends dringt der flackernde blaue Schein der Fernsehapparate aus den Campingbussen und Wohnwagen. So kann man die Abende im idyllischen Moseltal auch verbringen.
Eine Geschäftsreise führt mich hierher an den Geburtsort eines berühmten spätmittelalterlichen Theologen, Philosophen und Gelehrten. Das Städtchen ist bis heute geprägt von dem berühmten Kirchenmann. Noch immer besteht die Stiftung, die aus seinen Weingärten hervorging, man kann ihre Trauben bis heute genießen – eine über 500 Jahre alte Institution.
Noch andere Schätze beherbergt das Doppelstädtchen. Der mittelalterliche Gelehrte verstarb auf einer Reise in päpstlicher Mission in Mittelitalien. Sein Leichnam wurde in Rom bestattet, aber seine Wagenladung voll Bücher (und sein Herz) haben seine treuen Diener bis an die Moselstadt zurückgebracht, wo die Handschriften bis heute ruhen und eine der kostbarsten noch erhaltenen mittelalterlichen Privatbibliotheken der Welt bilden.
Ein paar Stunden vor Beginn der Veranstaltung begegne ich auf der Burg über dem Fluss einigen unserer Herausgebern. Nicht gerade ein Wunder, solch eine Begegnung, erst recht nicht angesichts der Größe der Stadt. Aber es reicht für Witze wie „Herr E., Sie tauchen immer so überraschend auf!“ oder „der omnipräsente Verlag“. Ich denke, das kann dem Ruf nicht schaden.
Nach getaner Arbeit steigt die Gesellschaft abends hinab in die historischen Gemäuer der Mosel Vinothek. Sie gehört dem Deutschen Roten Kreuz, hier gibt es auch den Rebensaft vom weltweit einzigen DRK-Weingut. Das Angebot unterschiedlicher Themenweinproben ist faszinierend. Bei der klassischen Variante erhält man für 15 Euro in den Kellergewölben ausführliche Erläuterungen – und freien Genuss von 10 bis 17 Uhr. Einzige Auflage: Man muss in der Lage sein, auf eigenen Beinen die Treppe wieder emporzusteigen.
Heute bleibt, wir sind sowieso zu spät dran, nur eine Stunde Zeit, die Erläuterungen zu den einzelnen Weinen müssen wir selbst den Tafeln entnehmen. Nummern verweisen auf die Flaschen in den Kühlboxen. Selbst wenn man sich auf, sagen wir, den lieblichen Riesling beschränkt (dank der warmen Schieferhänge auch bei Zungen, die sonst gerne beim trockenen Wein bleiben, beliebt), kann man nur einen winzigen Ausschnitt kosten, bevor es weitergeht über die Moselbrücke in ein, versteht sich, Weinlokal.
Es ist fünf nach zehn Uhr abends in der Saison und die Küche weigert sich, für die Gruppe aus 30 Leuten noch etwas, und sei es noch so Kleines und Einfaches, aufzutischen. Dem maghrebinischen Kellner tut es sichtlich leid, hilflos lächelnd zieht er bei den Forderungen, dann doch wenigstens eine Pizza liefern zu lassen, die Schultern nach oben. Beim Abrechnen kann er wieder scherzen: Er hakt die Getränke von der Rechnung ab – und ergänzt: „und die Pizza natürlich“.
Ein Politikum war am Tischrund schnell gefunden: Auch das Moseltal hat sein Skandalbauwerk, den geplanten Hochmoselübergang, der die Bundesautobahnen A 60 und A 1 verbinden soll und seine Wurzeln noch in einem Vertrag aus dem Kalten Krieg hat. Damals sollte sichergestellt werden, dass über eine direkte Achse Brüssel – Frankfurt am Main NATO-Panzer zügig nach Osten verschoben werden konnten. Inzwischen zielt der Hochmoselübergang natürlich in eine andere Richtung, etwa auf eine Rettung des fragwürdigen Flughafens Frankfurt-Hahn. Man spürt sofort, hier zeigt sich ein regionales Reizthema: Kostenexplosion und Verschleuderung von Steuergeldern (von 600 Millionen Euro Kosten ist die Rede), untragbare Verschandelung des Landschaftsbilds, nicht kalkulierbare tektonische Risiken (Hangrutsche, Wasserhaushalt), Größenwahn der Politik bei letztlich unnötiger verkehrstechnischer Funktion – manches davon klingt bekannt von anderen aktuellen Bauprojekten der Republik.
Ein auswärtiger Besucher scherzt vom Widerstand gegen das Bauvorhaben, von Sabotage der Einheimischen und aufrechten Moselsoldaten – „das reale Prinzip bricht aus dem Ungrund hervor“, um es mit einem Philosophen des Deutschen Idealismus zu sagen. Meine Fantasie spinnt die Fäden weiter und ich male mir in Gedanken ehrwürdige Professoren aus mit Dynamit in den Sakkotaschen und hehrer Stirn. Was wäre das für eine Schlagzeile in der FAZ: „Vizepräsident einer internationalen philosophisch-wissenschaftlichen Gesellschaft plant Sprengung der umstrittenen Moselhochbrücke“! Das Fach wäre sich einer ganz neuen Aufmerksamkeit sicher.
Übrigens kreuzt die Verkehrsachse des Hochmoselübergangs eine ganz andere Magistrale, die Schienen der einstigen „Kanonenbahn“. Nach dem militärischen Sieg über Frankreich und der anschließenden deutschen Reichsgründung 1871 war es Vorgabe der Politik, rasch eine Direktverbindung zwischen dem annektierten Metz in Lothringen und der Reichshauptstadt Berlin einzurichten. 1880 war es soweit: Wer um 5 Uhr morgens in Metz den Zug bestieg, konnte am späten Abend in Berlin dem Kaiser die Hand küssen. Große Bedeutung hatte die Gesamtstrecke allerdings nie, die einzelnen Etappen entwickelten sich daher recht unterschiedlich weiter; man mag in diesem Punkt gern Vergleiche ziehen zur geplanten Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnachse Paris – Bratislava …
Bis heute, so hat man den Eindruck, ist die Bahn im Moseltal jedenfalls nicht viel schneller geworden. Dafür ist sie brechend voll am Samstagvormittag: Drei Gruppen angetrunkener junger Männer mit Plastikbechern wetteifern um den Lärmpegel, ein untergeklemmtes Bierfass drückt mich an die Gangwand, vor den Toiletten reihen sich die Bierblasen. („Krempeln Sie besser Ihre Hose hoch“, rümpft eine Dame beim Geruch aus dem Klo die Nase.) Eine johlende Gruppe steigt aus und wird sofort von der nächsten ersetzt. „Hangover Frankfurt“ steht auf ihren T-Shirts – der Kompass ist eingestellt.