Aufbruch. Ich weiß nicht, ob ich die Stadt je so ruhig erlebt habe. Das letzte Mal ist zumindest zu lange her, um mich zu erinnern. Ein großes, ein sehr, sehr großes Dorf im Schlaf.
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Eis auf Wasser, Frost auf Halmen, Schnee an Flanken. Der Norden weiß noch Winter.
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Uelzen. Fremde. Ich weiß nicht einmal, spricht man es Ulzen oder Ülzen. Die Sonne färbt das Land rot.
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Irgendwo in der Lüneburger Heide komme ich mit meinem Abteilnachbarn – Liege oben – ins Gespräch. Er ist hörbar Allgäuer. Wir sind überall.
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Ein Kran schwenkt über der Stadt, Dämmerblau verschluckt die Möwen und @GerardOtremba erzählt von Sounds & Books.
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Die Flucht der Holzbohlen beginnt eine Nasenlänge entfernt. In Armreichweite der schwungvolle Korpus der Framus-E-Gitarre. In den 60ern war sie auf kleinen Bühnen des Alpenvorlandes zu sehen, heute leuchtet ihr Rot im trüben Morgenlicht der Hansestadt immer noch wie Rock’n’Roll. Geträumt von der Flucht aus dem syrischen Bürgerkrieg und einem bis dahin von mir übersehenen 5000er-Berg im Garten meiner Mutter.
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Ich schaute dem Teufel auf die Hörner, sie aber waren abgestoßen. – Mein Gastgeber hatte mich zu treuen Händen am Landungssteg übergeben. Ich freute mich, sie endlich einmal persönlich kennenzulernen. Auf einem Fährboot schoben wir uns die Elbe hinab, vorbei an Batterien von Containerkränen unter grauem, feuchtem Himmel, spazierten dann an den Kapitänshäuschen weiter stromabwärts, tauschten uns über konkrete Projekte und bekloppte Ideen aus, schwatzten weiter bei einem Kaffee auf einem schaukelnden Anlegerboot hinter der Teufelsbrück. Ob ich es aushalten würde?, fragte sie besorgt. Ich wusste es nicht und horchte in mich. Der Magen hielt dem Schwanken stand, nichts stand dem Stück Kuchen und der Unterhaltung im Wege. Ich genoss das Gespräch. Ihre offene, anregende, humorvolle und zuspitzende Art gefiel mir; gleichzeitig spürte ich, ich war in einer anderen Kultur. Norddeutsch, ja das war es wohl: sehr norddeutsch und ich – ich süddeutscher Binnenländer, der es nach Genua weniger weit hat als zur Nordsee – spürte eine Verunsicherung in mir. Und verlas mich in meiner kulturellen Dekodierung gründlich. Am besten gebe ich ihr, dachte ich, als wir zurück waren und meine S-Bahn einfuhr, die mich zu einem Jugendfreund bringen würde, am besten gebe ich ihr wohl höflich die Hand. Die Umarmung kam dann von ihr.
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Wein kann Himmel wie Hölle sein. Mein Himmel ist tief und dunkel und fruchtig, eine lichtschluckende, opale See aus verdichtetem Geschmack, gezogen aus der Erde Kataloniens oder Lusitaniens: Les Sorts Jove, Cume tinto, Monte das Promessas.
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Eine gewisse Munterkeit ist schwer erträglich. Ein Trupp großer, schlichter Männer fährt im ICE von der Hansestadt auf Schicht in Kassel. „Een“, „ooch“, „ich nich, Junge“, „oder wat“ am laufenden Band. Mein Ohr, viel zu sehr an andere Muster gewohnt, ist unvorbereitet auf diese Wirklichkeit. Könnte ich doch nur Tempo und Ausdruck drosseln! Ich fühle mich ertrinken in dieser Flut.
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Die Metropole habe ich erst jetzt verlassen, als ich im Fränkischen in einen Regionalexpress wechsle. Nach Süden hin nur noch Provinz.
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Ich mag die Lichter auf den Hügeln, die Gliederung der Landschaft. Ich mag die sauberen Straßen. Ich liebe die hellen Sandsteinfassaden aus der Gründerzeit. Und sogar das kühle Wasser aus dem Hahn sagt willkommen zurück. Andere Städte sind schön. Diese hier ist auch nicht schlecht.
(Wer mag, kann den Blogbeitrag auch auf Storify anschauen: https://storify.com/Zeilentiger/nordlandfahrt. Dort habe ich ihn – als Spielerei, um mich mit der Plattform auch einmal vertraut gemacht zu haben – zuerst veröffentlicht.)