In den Betonauen

Reiher sind, hatte ich immer gedacht, die scheuesten Vögel, die ich kenne. Man kann auf einem Spaziergang entlang eines Baches noch hundert Schritt von dem Tier entfernt sein, und schon erhebt es sich panisch in die Luft. Der silberhaarige Angler unter der Straße hat sie fast gezähmt. Hier in den Betonauen warten zwei Graureiher, den Hals dicht an den Körper gezogen, links und rechts der Bank, auf der sich der Mann niedergelassen hat. Sie kümmern sich nicht um die Passanten, die die Stufen zur Uferpromenade herabsteigen. Sie haben den Angler im Blick und ihre Konzentriertheit spricht von Hunger, ohne dass sie einen Laut von sich geben oder in eine schnelle Bewegung verfallen müssten. Der Mann packt seine Brotzeit aus und wirft nach ein paar Bissen den Tieren etwas hin. Sie staken noch etwas näher und keine zwei Armlängen von dem Angler entfernt schlingen sie ihre Mahlzeit hinunter und verharren dann wieder. Der Mann wartet mit ihnen.

*

Der Sand zwischen den Kieferngewächsen ist aufgewühlt von Menschen- und Hundefüßen. Was im Sommer der „Stadtstrand“ mit seiner Bar und seinen Liegestühlen überm Neckarufer ist, legt nun eher den Verdacht eines Hundeklos nahe. Ein Paar Einweghandschuhe liegt im Sand. In die Dauerbaustelle auf der anderen Seite des Flusses schieben sich Blaulichter. Nicht ein oder zwei, sondern immer mehr Polizeifahrzeuge steuern flussabwärts. Ihr Sirenenklang wird von der Wand hinter der Baustelle zurückgeworfen und vervielfacht die Kakophonie aus Motoren und Bremsen der Autokolonnen, dem Kreischen und Rumpeln der Bahnen auf der Brücke, dem Baustellenlärm, den bauchigen Hupen der Lastwagen. Die Stadt als permanenter Ausnahmezustand. Ob die Baustelle im Frühjahr die Besucher vom Stadtstrand abhalten wird? Jetzt machen nur verstreut ein paar einsame Männer hier Halt, mit Zigarette und Bierflasche zum Mittagsmahl, oder Zigarette und Handy am verkniffenen Gesicht. Auf einer Bogenlampe sitzt ein Kormoran. Sein Gefieder glänzt schwarz in der Wintersonne, der Schnabel dreht sich alle paar Augenblicke hin und her. Man ahnt die dunklen, aufmerksamen, fast einschüchternden Augen, die alles im Blick behalten von seinem rostigen Thron herab. Wie viel agiler er wirkt als ein Reiher – ein aktiver Jagdtaucher eben, kein abwartender Schreitvogel. Kein Wunder, dass er den Reiher mehr und mehr von unseren Flüssen drängt. Drüben jagt eine weitere Kolonne unter Blaulicht die Uferstraße hinab.

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Nach dem, was man eine Weihnachtsfeier nennen mag, lasse ich die Stadtbahn vorerst liegen und gehe zu Fuß über die Brücke. Vom Zirkuszelt am linken Ufer dringt ein gehaltener orchestraler Ton. Das beleuchtete Zelt wirft Lichter auf den Fluss: Streifen säuberlich wechselnd in Weiß und Orange. Weiter stromaufwärts zittern nur noch Linien aus Weiß auf dem dunklen Wasser, im Himmel aber funkelt das Rot von Türmen und Kränen; rechts, wieder zur Brücke hin, gesellt sich eine neue Farbe hinzu, eine Fläche von Blau neben Weiß, und aus den glänzenden Rohren des Mineralbades quillt chlorgetränkter Dampf. Die Brücke erbebt unter den Fahrzeugen, ein kalter Wind kommt mit der Flussströmung herab und lässt mich frösteln. Eine ungeheure Müdigkeit hat sich meiner bemächtigt, sie hat nichts mit ein paar Stunden Schlaf zu tun. Sie sitzt – wie man so sagt – in den Knochen, eher noch tief im Mark. Unter mir teilt eine Insel den Fluss: Gras, ein Busch, umfasst von Beton. Ich suche die Oberfläche mit den Augen ab und entdecke nichts: kein Reiher, kein Kormoran. Die Vögel träumen woanders.

Grüß Gott in Haifa

Ein Zeppelin fliegt vor tiefhängenden Wolkenbänken über eine pittoreske Stadtkulisse. An Bord sind Graf Zeppelin und der damalige württembergische Staatsminister, bei der Stadt unter ihrem Luftschiff handelt es sich um Jerusalem. Diese Schwarzweißfotografie aus dem Jahre 1929 begrüßte die Besucher bei der Ausstellungseröffnung „Deutsche im Heiligen Land“ in der Stuttgarter Leonhardskirche.

Eine Panne des Aufzugs im Landeskirchlichen Archiv hätte die Eröffnung beinahe verhindert, aber dann wurde doch noch alles rechtzeitig fertig. Zahlreiche Schautafeln und rund 500 historische Ausstellungsstücke dokumentieren im Vorraum der Kirche den „deutschen christlichen Beitrag zum kulturellen Wandel in Palästina“.

„Ich würde gerne mit einer Statistik beginnen“, eröffnete der Historiker Jakob Eisler seine historische Einführung ins Thema. 1799, als Napoleon im Zuge seines (politisch gescheiterten, kulturell höchst folgenreichen) Ägyptenfeldzugs auch Palästina eroberte, hielten sich den Quellen zufolge gerade mal ein Dutzend Europäer im ‚Heiligen Land‘ auf. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren es 5000. Davon waren 3000 Deutsche und von diesen kamen wiederum 2500 aus dem ‚Ländle‘. Du meine Güte: Jeder zweite in Palästina lebende Europäer ein – württembergischer und protestantischer – Schwabe.

Wobei die pietistischen Auswanderer nicht nur aus Württemberg kamen. Ein Foto zeigt eine sehr humorbefreit dreinblickende Personengruppe aus dem Bergischen Land. Im Revolutionsjahr 1848 waren Gustav Thiel und seine Familie aus dem Westfälischen nach Palästina ausgewandert, um die Wiederkunft des Messias zu erwarten. Thiels Ehefrau war die Schwester des Großvaters von – John Steinbeck. (Was nicht erzählt wurde: Auch Steinbecks Großvater selbst war Teil dieser Auswanderergruppe. Die Geschichte nahm ein tragisches Ende. In einem nächtlichen Überfall wurde die Siedlung ausgelöscht, Familienmitglieder wurden ermordet oder vergewaltigt, alles Hab und Gut geplündert.)

Haifa an der Küste war ein Siedlungsschwerpunkt der deutschen Einwanderer, andere zogen gleich nach Jerusalem, wo sie als Handwerker oder Händler arbeiteten (und das erste Kaufhaus des Nahes Ostens gründeten), als Pädagogen oder Missionare wirkten. Das erste Kinderhospital im „Orient“ (wie Eisler diesen Raum auch immer definiert wissen will) wurde etwa vom mecklenburgischen Landesherrn gegründet. Der Lehrer Ludwig Johann Schneller richtete das sogenannte Syrische Waisenhaus in Jerusalem ein. Es wuchs zu einer wichtigen Institution der Stadt und nahm um 1900 mehr Fläche als die Altstadt ein.

Ein anderer prägender Charakter war Conrad Schick aus Bitz im Zollernalbkreis. Er ging als Mechaniker ins Heilige Land und blieb 50 Jahre dort bis zu seinem Lebensende 1901. Die ersten Zeichnungen, die der junge Mann an seinen Studienort Basel schickte, zeigten bei aller Offenheit gegenüber der neuen Heimat noch eine gewisse Unbeholfenheit. „Die Tiere vor dem Haus sind keine Hunde“, muss er in seinem Brief erklären, „sondern Kamele“. Solche hatte er auf der Schwäbischen Alb natürlich nie gesehen. Schick hinterließ als Architekt ein reiches Erbe: Ganze Quartiere hatte er in Jerusalem erbaut. Nicht umsonst gehört zu den schönsten Ausstellungsstücken ein Miniaturmodell der Altstadt. Aus dem Fundament eines schickschen Stadtmodells ließen sich Schubladen herausziehen, die den Blick freigaben auf die Kanalisation, die Schick geplant hatte.

Erst ein Lacher für das Stuttgarter Publikum deutete in der Ausstellungseröffnung, die problematisierende Fragen dezent ausklammerte, eine kulturimperialistische Fragestellung an. Als sich das deutsche Kaiserpaar 1898 auf Pilgerreise im Heiligen Land befand, war die Kaiserin Auguste Victoria nicht gerade angetan von dem entsetzlichen „Lärm“ der türkischen Militärkapelle. Was für ein Glück, notierte sie, dass der Kaiser eine Blaskapelle aus Cannstatt im Gefolge hatte!

Den Bogen schlug gewissermaßen die musikalische Umrahmung durch die Brasserie Cannstatt, ein Buffet rundete die Eröffnung ab. 180 Anmeldungen waren eingegangen, die Kirche gut gefüllt – umso erstaunlicher, dass ich (eine halbe Stunde vorher noch von nichts gewusst) unversehens in die erste Reihe eingeschleust wurde. Spontaneität kann sich auszahlen.

Jerusalem_Waisenhaus_Ausstellung

Bastelbogen des Syrischen Waisenhauses in Jerusalem

Wer den Ausstellungsbesuch lieber plant: Vom 14. März bis zum 25. Mai 2015 ist die Ausstellung des Landeskirchlichen Archivs Stuttgart und des Vereins für württembergische Kirchengeschichte in der Leonhardskirche Stuttgart zu sehen. Vorträge flankieren die Ausstellung, so am 18. März um 18.30 Uhr mit dem provokativen Titel „Es gibt ‚zwei gelobte Länder in der Welt‘. Württemberg und Palästina (1850-1920)“ von Prof. Dr. Sabine Holtz, Historisches Institut, Abt. Landesgeschichte der Universität Stuttgart.

Protokoll einer fünften Jahreszeit

Donnerstag – Wir stecken auf Twitter den Rahmen ab

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Blick vom Rathaus auf den Stuttgarter Marktplatz

 

 

 

 

 

 

@zeilentiger: Wird das nicht ein herrlicher Tag? Blick auf den Marktplatz von #Stuttgart.
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@cafehaussitzer: @zeilentiger Kein Karneval, äh, keine Fasnet in Stuttgart?

@zeilentiger: @cafehaussitzer Karneval, Fasnet, Fasching – was war das nochmals? #Stuttgart

Freitag – Ein Exempel auf die Theorie

Auf einer ganz gewöhnlichen Straße an einem ganz gewöhnlichen Werktag laufe ich Darth Vader über den Weg. Ich glaube, er hat eben eine Schlacht gegen die Rebellen verloren, von imperialen Sturmtruppen nämlich keine Spur, seine eigene Rüstung besteht nur noch aus lebenserhaltender Helmmaske und rotem Laserschwert, und er stolpert mit seinen 1,20 m etwas orientierungslos neben seinem Vater her.

Ich wünsche ihm Siege, dem Kleinen.

Samstag – Definitionsleistung

„Prinzessin, nicht Fee“, korrigiert das kleine Mädchen einen älteren Herrn an der Stadtbahnhaltestelle. Fast entschuldigend mischt sich die nicht mehr so junge Mutter der Kleinen ein: „Die können heute auch schon fliegen, die Prinzessinnen.“

Kinder in Faschingsverkleidung fallen auf in der Stuttgarter Bahn. Selbst auf dem Weg in den Stadtteil Bad Cannstatt, wo die kleine Fee, pardon Prinzessin auf dem Weg zum Kinderfasching ist und auch sonst die Fasnachtsuhren wenigstens ein bisschen anders zu ticken scheinen, wie Cannstatt ja in so manchem „nicht Stuttgart“ ist. (Viele Einwohner nehmen der Landeshauptstadt immer noch den ‚Anschluss‘ von 1905 übel. Als Bewohner einer römischen Neckarsiedlung kann man über die flusslose, mittelalterliche Kesselstadt Stuttgart ja wirklich nur lachen, das ähm versteht auch ein Neigschmeckter wie ich natürlich ganz intuitiv.)

Die Bahn fährt ein, ich steige hinter Klein-Marielena und ihrer Mutter ein und schaue nochmals genauer hin: Glitzerröckchen, Schmetterlingsflügel, Feenstab, goldene Krone. Prinzessin, eindeutig … Die beiden jungen Frauen in der Bahn sehen das glasklar. „Ach, die ist auch süß, diese Fee. Prinzessin.“ Stirnrunzeln. „Engel.“

Sonntag – Noch mehr Definitionsleistung

In der spätnächtlichen S-Bahn in den Kessel hinein sitzt ein Häuflein Faschingsfreunde: grüne Insektenfühler auf dem Kopf, weiß-schwarz umschinkte Augen, die ganze Palette der Karnevalsmöglichkeiten eben. Ein Gleichaltriger setzt sich zu ihnen, ein alkoholgeschwängertes Gespräch entspinnt sich.

„Ey, nach Köln oder Bonn müsst ihr, hier im Süden geht doch nichts mit Fasching.“

„Hast du eine Ahnung. Warst du zur Fasnacht schon mal in Oberschwaben?“

„Ja klar, ich komme da her.“

„Und da soll nichts los sein? Wo aus Oberschwaben kommst du denn her, Mann?“

„Aus Vaihingen, da ist gar nichts los.“

Stuttgart-Vaihingen – das klärt natürlich einiges. München-Perlach liegt ja schließlich auch in den Alpen.

Montag, Dienstag – Versuch eines Ausblicks

Wie, und das war es schon? Diese schwachen Geschichtchen zur Fasnet? Ja. Tut mir leid. Während Teile der Republik im Rausch der fünften Jahreszeit brennen, bietet die Kesselstadt zum Thema halt nicht sehr viel mehr. Da werden auch Rosenmontag und Fastnachtsdienstag aller Stuttgarter Umzüge zum Trotz nichts ändern. Das höchste der Gefühle wird vielleicht am Dienstag der Anruf eines vor Jahren emeritierten Professors aus der Karnevalshochburg Trier sein. „Ach, Sie arbeiten heute auch?“, wird der gebürtige Berliner Preuße süffisant und weltzufrieden durchs Telefon quetschen. Ja, ich arbeite auch. Die Zeiten, als ich mir an Fasching eine Kochmütze überzog und mit einem Rührlöffel in der Hand bei den Nachbarn klingelte, um für ein paar Bonbons das Gedicht vom Mops aufzusagen, sind wirklich vorbei.

„Hey Mark“

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Wenn sich die Definitionskraft eines Namens umdreht.

Zu finden in Stuttgart-Steinhaldenfeld, einem jener „Was, das hier gehört noch zu Stuttgart?“-Stadtteile, in die man sich als Nichtanlieger eher selten verirrt. Es kann – um noch einmal die Tücken der Namensprägung aufzugreifen – nichts als eine schäbige Koinzidenz sein, dass einer der Betreibernamen der Website http://www.steinhaldenfeld.de ausgerechnet Morlock heißt. Nein, wir denken nicht an H.G. Wells „Zeitmaschine“.

Prominentere Zuckerberge als hier gibt es in Trier und in Braunschweig. In welchen Städten noch?

Mittagspause in Südtirol − Das Meran in Bad Cannstatt

Griaß di Gott. Hat‘s also ein paar Monate verspätet doch noch geklappt mit einem Geburtstagsessen mit den Kolleginnen.

„Darf es schon was zu trinken sein?“, fragt schwungvoll die Kellnerin des Meran am Marktplatz von Bad Cannstatt. Wir sind alle zum ersten Mal hier, die Sonne scheint aufs Kopfsteinpflaster.

Ich hätte jetzt gerne nach der Karte gefragt, aber die Kolleginnen sind schneller.

„Johannisbeerschorle!“

„Mangosaft!“

Mir war gar nicht klar gewesen, dass das Getränke sind, die man in jedem Restaurant als selbstverständlich voraussetzen darf.

„Haben Sie denn etwas Besonderes zu trinken?“, wage ich einen Vorstoß.

„Einen Hugo vielleicht oder einen Aperol Spritz?“ Der heißt, wie ich später erfahre, auf der Karte Veneziano, aber er ist trotzdem nicht das, was ich unter „besonders“ erwarte. Gibt‘s ja mindestens so häufig wie Mangosaft.

„Nein, danke.“ Bleibt nur, auf bewährtes Gutes zurückzugreifen. „Ich frage einfach mal: Haben Sie das Spicy Ginger von Thomas Henry?“

„Nein.“ Wäre auch eine tolle Überraschung gewesen.

„Crodino?“

„Nein.“

„San Bitter?“ Das ist eigentlich schon nicht mehr ganz Kategorie „bewährt und gut“, aber egal.

„Einen kleinen Moment …“ Sie eilt tatsächlich nach innen. „Nein, führen wir leider noch nicht.“

„Dann nehme ich einfach ein Wasser, danke.“ Habe ich mich schon unbeliebt gemacht?

Als die Kellnerin weg ist, greifen wir uns doch noch die Karte. Und siehe da: VIP Lady Pils vom Fass im Champagnerglas aus der Brauerei Forst in Meran! Wenn das nicht …

„Warum haben Sie das nicht gleich gesagt!?“ Nein, das habe ich die Kellnerin nicht gefragt. Stattdessen: „Was ist denn ein Sportwasser?“

Es folgt eine längere Erklärung, die irgendetwas wie Mineralwasser vermuten lässt oder treffender noch, wie man hier im Schwäbischen sagt, saurer Sprudel.

Und sonst? Das alkoholfreie Hefeweizen ist von Erdinger, ein ganz großes Plus, denn das ist eines der ganz wenigen alkoholfreien Weißbiere, das schmeckt, und das ganz besonders gut. Affogato, eine mit heißem Espresso übergossene Eiskugel. Vinschgauer Marillenbrand. Der erhält auch spontan das Gütesiegel „besonders“.

Aber da kommt schon das Essen. Die Mehrheit wählt den Mittagstisch für 8 Euro (merke: Verlagsmitarbeiter zählen nicht zur Kernzielgruppe des Merans), heute ein köstlich angebratener Seelachs, ein paar eher anonym daherkommende Butterkartoffeln, ein Türmchen Spinatgemüse mit einem Karottenstift als, nein, nicht phallischer Dekoration, sagen wir eher als schmückender Antenne. Das Geburtstagskind erfreut sich augenscheinlich sehr an seinem Knödeltris aus − der Name sagt es − drei verschiedenen Knödeln. Schwieriger wird es für Vegetarier, da locken immerhin die Schlutzkrapfen: von der Stilnote eher Ravioli als Maultaschen und ohne wenn und aber lecker. Das kann das Meran.

Ein paar Tage später kehre ich zurück, denn ich habe noch eine Rechnung offen: Apfelstrudel und Marillenbrand und ein Blick ins Innere des Meran. Quadratische, etwas gar zu ordentlich aufgereihte Tische (intim ist kein Wort, das der Stimmung gerecht würde), rechts Regale mit Wein und Marmeladen zum Verkauf, links der mächtige Kopf eines Steinbocks an der Wand. Keine Gäste, die sitzen draußen an den Tischen mit den schwarzen Kunststoffplatten als Gesteinsimitat, es ist − typisch April, nicht wahr − schon wieder eitel Sonnenschein. Da eine Besprechung mit einem Londoner Besucher, dort ein österreichischer Zungenschlag. Für Geschäftsessen scheint das Meran keine unwillkommene Anlaufstelle zu sein.

Die Bedienung, eine andere als das letzte Mal, stellt mir den Apfelstrudel mit Kaffee und einen Marillenbrand aus dem Weingut Köfelgut hin. „Bitte sehr, das Schnäpsle.“ Hat sie da gerade wirklich verschwörerisch gelächelt zu diesen Worten? Geht ja gar nicht. Ich schieße ihr entrüstete Blicke hinterher.

Und der Rest ist leider Enttäuschung. Aber das mag auch an mir liegen, an Erwartungshaltungen und Kurzschlusshandeln: Marillenknödel, Marillenlikör … Ich brauche nur das Wort Marille hören und schon ist alles beschlossen. Dass ich bis auf den einen oder anderen Obstlikör destillierten Getränken grundsätzlich nichts abgewinnen kann, ist da schon abgeklinkt. Vernunft adé. Also kann ich zu dem edlen Brand nicht mehr sagen als: riecht gut, brennt weniger gut. So viel zum Kurzschlusshandeln.

IMAG0886Der Apfelstrudel fällt unter die Rubrik „unerfüllte Erwartungen“. Das fängt bei der Dekoration an (unnötig zu Apfelstrudel). Geht über den Glasteller (nicht passend, spießig). Hin zur Schokoladensoße (will ich definitiv nicht an Apfelstrudel sehen). Gipfelt im mürben, matschigen Teig (bei Strudel denke ich an Strudelteig, weshalb sonst sollte er so heißen, aber gut, wer will, kann Pizza auch mit Quarkölteig machen, warum also Apfelstrudel nicht mit, Verzeihung, Südtirol … Matscheteig). Endet in der apfelfaden, nussschwachen, rosinenfreien, matschigen Füllung.

Der Kaffee? Der Espresso zu mild, es fehlt ihm an Charakter, an Tiefe, meinetwegen auch an Kanten.

Verdrossen sitze ich da. „Alles klar?“, kommt lachend ein Lockenkopf mit leger umfasster Kaffeetasse heraus und setzt sich zu einem Freund an den Nachbartisch. Der Koch? Die Chefin folgt wenig später, Einkaufstaschen in der Hand, sie winkt den beiden am Tisch zu und schreitet übers Kopfsteinpflaster aus. Nur noch die Kellnerin arbeitet, räumt Tische ab. Es ist Freitag Viertel nach 2 Uhr nachmittags. Ruhig liegt der Marktplatz da, fast ein bisschen verschlafen. Um diese Zeit könnte Bad Cannstatt auch ein Dorf sein, zumindest hier. Morgen Vormittag würde der Platz wieder leben. Dann bietet das Meran auch ein dazu passendes üppiges, verlockend klingendes Marktfrühstück. Ich werde trotzdem woanders frühstücken.

Café Meran: Marktstraße 46 − 70372 Stuttgart-Bad Cannstatt

Schwabensturm und Frühlingsmilde

IMAG0811Hemdsärmelig warm scheint die Frühlingssonne über Stuttgart, an dieser Mauer des Unteren Kurparks aber tobt der Schwabensturm. So ganz scheinen sich diese beiden Begriffe ja nicht zusammenzufügen wollen, aber das sieht der Fanclub „Schwabensturm 2002“ augenscheinlich anders. Mitten im Bundesliga-Abstiegskampf des VfB fordern die besorgten Fußballfans auf ihrer Website, Gras zu fressen, und schmettern Kampfparolen wie „Alles für die erste Liga! Alles für Stuttgart!“. Das klingt für ein Leben außerhalb der Fankurve natürlich so eigenartig wie das Doppelwort an der Parkmauer. Die Sonne jedenfalls, unbeirrt, kost zärtlich weiter die Erde wach.

(Kurpark, Stuttgart-Bad Cannstatt)

Fluchgeister, Kurbaddamen

In die Arbeit versunken, könnte man das Krakeelen für Kinderschreie halten. Wer sich doch ablenken lässt, wird beim ersten Mal um Orientierung kämpfen. Zu hart, zu gellend sind die Schreie, um menschlich zu sein, sie ähneln überhaupts nichts, was man üblicherweise in Mitteleuropa zu hören bekommt. Und dann flattern ein paar leuchtend grüne Vögel quer durchs Bild und mit ihnen wandern die spitzen Rufe. Es sind Papageien in Bad Cannstatt – die einzige frei lebende Population an Gelbkopfamazonen außerhalb Amerikas.

Heute Morgen sitzen sie wieder zur Futtersuche versammelt in den kahlen Platanen, sie schreien im Dämmerlicht den Tag herbei, schreien gegen die frostige Kälte an. Wie Fluchgeister hallen ihre Rufe zwischen den Häuserschluchten, über den brummenden Motoren auf Teer, dem prasselnden Rollen von Gummi auf Kopfsteinpflaster. Ihr Grün ist noch kaum zu erahnen um diese Stunde, anders als das Rot und Weiß der Ziegelsteinwände und Jugendstilsimse links und rechts der über ein Jahrhundert alten Stuttgarter Fassaden. Hundert Jahre, so alt können auch diese Papageien werden. Mitte der Achtzigerjahre sind sie zum ersten Mal aufgetaucht in Stuttgart. Diese Krakeeler dort oben in den Ästen lärmen vielleicht noch, wenn ich längst nicht mehr bin.

Einer Krähe gegenüber reicht das Geschrei. Sie setzt einen dreifachen Ruf dagegen, ordinär, rau, gehässig. „Ruhe da drüben!“, wie ein aufgebrachter Nachbar, der sich in Unterhemd aus dem Dachfenster beugt und Worte nach den Grüngefiederten wirft. Die Papageien kümmern sich nicht darum, sie gellen weiter. Nicht mehr Fluchgeister des werdenden Tages scheinen sie mir. Sondern aufgeplusterte, dicke Kurbaddamen mit Sonnenschirm, die ihre bunten Sommerkleider raffen und beim Eintauchen ihrer Zehen in das Wasser spitze Schreie ausstoßen, wortreich, theatralisch, überzeichnet. Die Krähe hingegen ist, was sie ist.

Mehr über die Cannstatter Gelbkopfamazonen gibt es in der Stuttgarter Zeitung zu lesen.

„Fighting Ships“ – Perle im Niemandsland

Im kleinen Nirgendwo zwischen Bad Cannstatt und Fellbach, eine Haltestelle immerhin und gegenüber ein Wiener Wald, da steht eine Hütte, das Danziger Stüble. Die Dielen sind abgewetzt, ein Holzofen wärmt das Innere, hier darf noch geraucht werden (und ich bin trotzdem hier), ein paar trunkene Stammgäste teilen sich das bisschen Platz mit jungen Männern mit Bärten, die wegen der Band hier sind, die auf einem Drittel des Raumes kostenlos ein Konzert gibt. Wohnzimmergefühl und Hobbykellererinnerungen – man rückt gerne näher.

Und dann legt „Fighting Ships“ auf den knarrenden Holzdielen dieser Bier- und Kippenhütte eine wahre Perle bloß, ein energisches, krachendes musikalisches Kleinod (wenn sich diese Wörter denn paaren lassen), irgendwo zwischen dem exakt-hypnotischen Mathrock von „My Disco“ und den Instrumental-Postrockern von „Long Distance Calling“. Für umme vor nicht einmal einem Dutzend interessierten Zuhörern und zu den penetranten Rufen eines betrunkenen Stammgastes „aufhören!“. Nein, hört nicht auf, Jungs. Ihr habt mehr verdient!

https://www.facebook.com/fightingships