For Tigers Everywhere − International Tiger Day

Tyger! Tyger! burning bright
In the forests of the night,
What immortal hand or eye,
Dare frame thy fearful symmetry?

(William Blake, The Tyger)

Viele sind es nicht mehr, weltweit leben noch rund 3000 von ihnen in freier Wildbahn. Daran erinnert der heutige Welttigertag (International Tiger Day, Global Tiger Day). „Entering the Age of Extinction“ untertitelte Richard Ives seine faszinierende Spurensuche nach dem Tiger und daran hat sich in dem Vierteljahrhundert seit den Reisen, die schließlich zu seinem Buch „Of Tiger and Men“ führten, nichts geändert. Immerhin, die pessimistische Schlagzeile auf dem Buchumschlag scheint sich nicht bewahrheitet zu haben: „In twenty-five years, tiger will habe vanished from the earth.“ Grund zur Entspannung gibt es allerdings keinen. Die Zahl der Tiger sinkt weiter.

Soy el tigre.
Te acecho entre las hojas
anchas como lingotes
de mineral mojado.

(Pablo Neruda, El tigre)

Irgendwann um die Jahrtausendwende, als es zwar schon üblich war, sich E-Mails zu schicken, internationale Geldtransaktionen übers Internet aber noch alles andere als gängig waren, schrieb ich kurz vor Weihnachten dem Tiger Trust India eine Nachricht. Ich wollte Tigern aus Gründen, die hier keine Rolle spielen, meine Dankbarkeit erweisen und der Stiftung eine kleine Spende zukommen lassen, ein Weihnachtsgeschenk, und bat um Informationen zur Bankabwicklung. Ein britischer Mitarbeiter der Stiftung meldete sich zurück, sehr freundlich und ein wenig verzweifelt. Seine wenigen Zeilen waren überraschend persönlich: Er war über die Weihnachtsfeiertage ganz allein auf der Station in Indien, alle Kollegen waren bei ihren Familien und er war einsam − überarbeitet und einsam. Aber er half mir weiter. Und so machte ich die erste Auslandsüberweisung meines Lebens über einen lächerlichen Betrag, denn ich war noch Student und Geld immer knapp.

And then I heard it. Although far away, the sound carried clearly in the cool night air: ‚Ba-oooh-ah! Ba-oooh-ah!‘
Involuntarily, instinctively, my hand closed on the stock of my rifle, as the old, frightening thoughts, born of the age-old jungle rumour, once more impinged themselves on my mind. The ghastly partners were on the prowl again. Would that uncanny jackal guide the tiger to us, just as he had done two nights previously?
The answer came, almost like a spoken reply to my unvoiced thoughts: ‚A-oongh! O-o-n-ooh! Aungh-ha! Aungh-ha!‘

(Kenneth Anderson, The Call of the Man-Eater)

Lange Zeit war die Rolle des Tigers in der Literatur festgelegt, wie in dieser (zugegeben, spannenden und gekonnt geschriebenen) Kurzgeschichte des 1910 in Indien geborenen Kenneth Anderson: als König des Dschungels, als Menschenfresser gar, der die Jagdlust des Menschen herausfordert und ihm, der zweibeinigen Krönung der Schöpfung, weichen muss, ein ums andere Mal. Nicht zuletzt diese Haltung führte dazu, dass der Tiger innerhalb eines Jahrhunderts (um 1900 soll es rund 100 000 freilebende Tiere gegeben haben) beinahe ausgerottet wurde. Von allen Texten über den Tiger − zoologische Werke, Romane, Abenteuergeschichten, Reiseberichte, Gedichte, Kinderbücher − hat mir Richard Ives‘ „Of Tiger and Men“ am besten gefallen: eine Reise durch Indien, Nepal und Südostasien auf der Spur des Tigers − und nicht zuletzt auch jener merkwürdigen Spezies geheimnisvoller Wanderer und „Tigerleute“, die sich dem Schutz der aussterbenden Großkatze verschrieben hatten.

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Brüderliches Geschenk (Holzschnitt)

Two minutes later, the howdah steeply tilted, the elephant steps down into a dry streambed dappled with irregular pools of filtering light, the sandy bottom everywhere impressed with tiger tracks. As though we were a group of medieval pilgrims stunned by some holy visitation, no one has uttered a word. At last, it is Amar who breaks the silence. Turning to Bob, a broad grin on his face, he asks, „Well, Bob, was this close enough for you?“
I wince. Though Amar has not noticed it, Bob is still trembling, and I have no idea how he will take this kind of teasing.
„Yes, Amar“, he says at last, his voice just slightly shaky, „that was definitely close enough.“
„Close enough to pluck one of the tiger‘s whiskers?“
„I‘d say so.“
„And did you pluck one?“
„No, I didn‘t, Amar.“ Bob smiles. „Frankly, I was too worried that I was going to pee my pants.“

(Richard Ives, Of Tiger and Men. Entering the Age of Extinction)

Ich hatte das Buch in einem Sonderangebot in Kanada erworben, zufällig, und ich erinnere mich daran, wie ich auf einem Felsrund, der den Nadelwald von Vancouver Island durchbrach und einen weiten Blick über den See und die Bäume zuließ, darin las. Tiger gab es in dieser Wildnis selbstredend nicht − zum Glück −, nur Pumas. Auf dem Rückweg zur Hütte fand ich ein kläglich schreiendes Kätzchen im Gebüsch. Als ich mich dem armen Ding näherte, überfiel mich plötzlich Angst: Was, wenn es ein Pumababy ist und gleich die Mutter zurückkommt? Das war natürlich Unsinn und das Tier einfach nur ein von einem mitleidlosen Besitzer ausgesetztes Hauskatzenjunges, beruhigte ich mich. Ich nahm das Tier, das blind auf mich (auf meine Geräusche) zustolperte, in die Hand, sofort wurde es still und sog an meinen Fingern. Milch kam keine. Und da fing es wieder zu klagen an. Ich versuchte alles, was ich konnte, um dem Tierchen zu helfen, es bei den wenigen Häusern, die es am See gab, unterzubringen. Zwecklos. Am Ende legte ich es ins Gebüsch zurück, es schrie und schrie, und ich wusste, dass ich es damit dem Tod aussetzte. Es war viel schlimmer, als wenn ich mich erst gar nicht um das Tier bemüht hätte. Es war eine Lektion des Todes für mich.

What does the tiger do? In Sundarbans the people say the tiger gives life to legends and prayers. The tiger works magic. The tiger materializes from nowhere, flies through the air, lands weightlessly on boats. The tiger disappears in water.

(Sy Montgomery, Spell of the Tiger. Man-Eaters of Sundarbans)

Wenn ich in Stuttgart die Wilhelma betrete, zieht es mich − an den putzigen Pinguinen, an den verspielten Robben vorbei − immer zu den Tigern. Und jedesmal wieder ist die Begegnung niederdrückend: Unruhig wie Rilkes Panther, aber ohne Anmut, dreht das Tier hinter den Gitterstäben seine Kreise, das Gesicht ist zerfurcht vor Qual, die Augen sind stumpf im psychotischen Wahn. Und ich wünsche mir, der Zoo wäre frei von Tigern, frei von Raubkatzen.

„Tigerin“, sagte er. „Das ist meine andere Mutter.“

(Chen Jianghong, Der Tigerprinz)

An dem Glas sind noch Reste schwarzer Streifen: Erinnerungen an eine Tigerparty vor rund zwölf Jahren. Die Gläser wurden mit Streifen bemalt, mit Fruchtsäften gefüllt sollten sie an den Tiger erinnern. Die Party war ein Erfolg. Noch heute sprechen mich manchmal Freunde darauf an, so kürzlich ein argentinischer Freund beim Wiedersehen. Dass er und seine Frau, wenn sie von mir reden, auch über diese Feier sprechen, auf der anderen Seite der Welt, macht mich (ich gebe es zu) ein wenig stolz.

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Letzte Streifen

Ich nehme einen Schluck aus dem Glas und werde nachlässig genug, diesen − kaum etwas anreißenden und doch schon viel zu langen − Beitrag zum International Tiger Day mit einer Geschichte abzuschließen, einer Episode um den Radscha und den Tiger. Einer alten Geschichte, einer naiven Geschichte vielleicht. Aber heute darf es sein.

Alles Gute, Tiger, sterbt nicht aus.

***

Ein kühner Jäger

Sie waren in einem Wald unterwegs und wanderten Stunde um Stunde. Als sie schließlich auf eine kleine Lichtung inmitten des Grüns kamen, meinte der Radscha: „Ich bin hungrig. Lass uns hier rasten und etwas zu uns nehmen!“

Tiger willigte gerne ein und so luden sie ihr Bündel ab und machten sich daran, einen Lagerplatz vorzubereiten. Der Radscha öffnete den Proviantsack, entnahm ihm zuerst eine dünne Decke und faltete sie gerade als Tischtuch aus, als wie ein Pfeil ein Tier aus dem Gebüsch hervorschoss und schon wieder darin verschwunden war, bevor der Radscha und selbst Tiger sich zu rühren wussten.

„Das Essen!“, rief der Radscha aus. „Der Sack ist weg! Er ist gestohlen worden!“

Noch immer verblüfft blickten sie um sich, als von einem Baume herab ein Lachen kam, ein heiseres, selbstgefälliges Lachen, langsam, frei von jeder Hast und Furcht. Tiger knurrte leise.

„He, du da!“, rief der Radscha empor. „Zeig dich, du Räuber!“

Da schob sich ein geschecktes Katzengesicht durch das Blätterdach und schaute auf die Wanderer herab.

„Vermisst ihr etwas?“, fragte der Leopard und strich sich geziert über die Schnurrbarthaare.

„Du also bist der freche Dieb!“, schmetterte der Radscha. „Gib sofort zurück, was du uns geraubt hast!“

„Holt es euch doch, wenn ihr es wollt“, entgegnete der Leopard lächelnd und verschwand wieder im Blätterwerk.
Tiger grollte lauter. Seine Schnurrbarthaare zitterten vor Wut.

„Warum gehst du nicht hinterher und verpasst dem dreisten Kerl eine Tracht Prügel, wie er sie verdient hat?“, wandte sich der Radscha an ihn.

„Ich bin zu schwer zum Klettern, o Prinz, und zu langsam für ihn, denn er ist es gewohnt, in den Bäumen zu leben. Und zudem könnte der Gefleckte so frech sein und gerade dann flink über dich herfallen, wenn ich eben im Unterholz verschwunden bin.“

„Tiger!“, empörte sich der Radscha. „Ich weiß mich zu wehren!“

Da schob sich über ihnen im Geäst erneut der helle Kopf aus dem Blätterdach hervor und der Panther lächelte trügerisch auf die Lichtung herab.

„Weißt du denn, wen du vor dir hast?“, rief der Radscha empor. „Ich bin der König dieses Reiches und Herr über all seine Länder! Und das ist Tiger, mein höchster Berater und mein General, Leibwächter und Freund dazu.“

„Mein Reich ist nur klein und Minister habe ich keine“, antwortete der Leopard seidenglatt, „aber ich habe wenigstens die Kontrolle über mein Reich.“

Vor Wut ballte der Radscha die Hände zu Fäusten. „So, Herrscher dieses Wäldchens nennst du dich? Dann bist du also, nehme ich an, so etwas wie einer meiner Statthalter?“

Der Leopard riss sein Maul zu einem gewaltigen Gähnen auf, dass die Fangzähne blitzten. „Ich erkenne niemanden über mir an. Wie könnte ich da dein Statthalter sein?“, sagte er gelangweilt.

„Du hältst dich wohl für unangreifbar, du Waldfürstchen“, grollte der Radscha. „Und was, wenn ich meine ganze Macht aufbringe und dein Reich abholzen und niederbrennen lasse?“

Hart blickten die dunklen Leopardenaugen zurück. „Was, glaubst du, soll das bringen? Wenn mich jemand übertrifft, dann weiche ich, aber ich unterwerfe mich nicht. Höre: Kein Gesetz, keine Regel bindet mich. Ich tue und unterlasse, was ich will. Wenn ich töten will, dann töte ich und wenn ich mich großzügig zeigen will, so tue ich es, wie es mir beliebt. Und glaube nicht, Menschlein, dass du mich mit all deiner Macht zu binden wüsstest. Niemand vermag das, denn ich bin mir mein eigener Fürst.“

Da begriff der Radscha, dass jeder Versuch, den Leoparden mit seinen Maßstäben messen zu wollen, scheitern würde.

Ratlos blickte er hoch zu dieser schönen Katze auf dem Baume, wie sie sich auf dem mächtigen Ast ausgestreckt die Tatzen zu lecken begann.

Da mischte sich Tiger ein: „Und was machst du gegen deine Einsamkeit?“

Der Leopard hob den Kopf und blickte forschend zu Tiger hinab. „Gegen meine Einsamkeit setze ich meinen Stolz. Gegen Schwäche meine Kraft, gegen Stärke meine Behendigkeit, gegen das Leben den Tod und gegen den Tod das Leben.“

„Schmerzt es nicht trotzdem manchmal, als würde dein Herz bluten?“, fragte Tiger ruhig weiter.

Würdevoll erhob sich der Panther und stand da in seiner ganzen strahlenden Schönheit über ihnen. „Einsamkeit ist Angst vor Leere. Und Angst vor der Leere ist Angst vor dem Tod. Aber ein kühner Jäger darf keine Angst vor dem Tode haben, denn er ist sein ständiger Begleiter.“

Mit einer raschen Bewegung wandte sich der Leopard auf dem Ast herum und so schnell und leise, wie er gekommen war, war er wieder verschwunden. Nur noch das grüne Blätterdickicht des Waldes umgab die beiden unten auf der Lichtung.

Nach einer Weile rührte sich der Radscha mit einem Seufzer und wandte sich Tiger zu. Die goldenen Augen blickten den Radscha an: „Er ist eine Katze“, sagte Tiger mit einem Achselzucken. Mit knurrendem Magen setzten sie ihren Weg fort, hinein in den Wald, wo die aufgeschreckten Vögel wieder zu singen begonnen hatten.

***

Und darüber hinaus:

Die Überschrift „For Tigers Everywhere“ ist die Widmung aus dem wunderbaren Kinderbuch „Mr Tiger Goes Wild“ von Peter Brown.

Mehr Informationen zum International Tiger Day gibt es hier.

Der indische Nationalpark Ranthambore ist eines der wichtigsten und bekanntesten Refugien für freilebende Tiger.

Will man sich auf einer deutschsprachigen Website über Tigerschutzprojekte informieren, empfiehlt sich sicherlich der WWF.

Ach ja, und bitte keine Selfies mit Tiger!

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Lieber so als Tiger-Selfies

Snippets from London. Ein Dezemberspaziergang (Teil 2)

26.

Kaum trete ich aus dem Gebäude, höre ich wieder die gellenden Polizeisirenen. Sie sind untrennbarer, beinahe permanent präsenter Teil dieser Großstadtsinfonie. Überrascht bin ich, wie oft Zivilfahrzeuge Blaulicht und Sirene haben.

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Auf in die City

 

 

 

 

 

 

 

 

27.

Liverpool Street, die City of London liegt vor mir. Die Gehwege werden voller, das Tempo der Menschen nimmt zu. Ich muss achtgeben, mit niemandem zu kollidieren. Wenn ich mir Notizen in mein Büchlein schreibe, drücke ich mich in kleine Winkel, um nicht überrannt zu werden. Kulissen aus glitzernden, glatten Bürobauten, dazwischen neogotische Kirchen und Backsteingebäude. Ja, die Anzugträger häufen sich, die Schlagzahl der Passanten erhöht sich − der Rhythmus der City, vielleicht ist auch die Uhrzeit verantwortlich −, dazwischen Ausrufer, Seelenfänger, Sektierer in sauberen Kostümen und Anzügen, dort ein junger Mann am Boden, halb in einem abgewirtschafteten Schlafsack, er hält den Passanten ein Schild entgegen. Er richtet es für die Fußgänger immer wieder neu aus, sein Blick zuckt lebhaft hin und her, auf seinem Gesicht liegt ein Lächeln, sacht, aber unübersehbar, freundlich, vielleicht mit einer kleinen Prise Ironie. Wie kann der junge Mann in seiner Situation solch ein Gesicht zur Schau stellen? Ist es die Haltung eines Neulings auf der Straße, der die noch nicht eingeschliffene Bettelroutine durchbricht mit seiner Mischung aus Freundlichkeit und Ironie?

28.

Haltestelle Monument. Berge an kostenlosen Zeitungen stapeln sich am Eingang zur Underground, im Vorbeigehen greifen sich die Büromenschen ein Exemplar. Die himmelhohe Säule − The Monument to the Great Fire of London erinnert an den großen Brand von 1666, als der größte Teil der City niedergebrannt war − ist ein merkwürdiges Überbleibsel einer anderen Zeit: 17. Jahrhundert zwischen Bürogebäuden. An einer Absperrung neben der dorischen Säule wieder − groß, rot − der Warnruf des Großstadtdschungels: „Not EVERYONE is as nice as YOU“. Unser Gepäck, unsere Sicherheit ist in steter Gefahr.

29.

Bus Clapham Junction 344, unbestimmte Verheißung. Erst später füllt sich die Leerstelle im Kopf: verkehrsreichster Bahnhof Großbritanniens; ein fürchterliches Eisenbahnunglück in den späten Thatcher-Jahren; ein Schwulendrama auf Channel 4.

30.

Einen Steinwurf entfernt warten vor der Kirche des Märtyrers St. Magnus gutgekleidete Menschen im vorgerückten Alter auf die Messe. Das Gotteshaus, dessen Wurzeln ins 11. Jahrhundert zurückreichen, ist noch weit mehr Relikt als das Monument to the Great Fire of London, bis zur Atemnot eingezwängt, die Reste einer (obgleich zur Church of England gehörend) katholisch anmutenden Ehrwürdigkeit wie ein Gewand um sich gerafft in einer feindlichen, verständnislosen Umgebung.

31.

Von der London Bridge habe ich einen freien Blick auf The Shard, 310 Meter hoch. Der Wolkenkratzer wurde 2012 fertiggestellt und war damit bei meinem letzten Besuch noch nicht da. Die Reaktion ist unmittelbar: ein absurder Tempel, ein wahnwitziger Kultbau des Kapitalismus. Zu meiner Linken im Fluss treibt ein herrenloser Rettungsring langsam am Ufer entlang.

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An der Themse

 

 

 

 

 

 

 

32.

Auf der anderen Seite der Themse erneut Gotik. Hinter den Bleiglasfenstern der Southwark Cathedral scheinen Lichter, der Vorplatz aber liegt im Halbdunkel. Erst spät sehe ich die Reihe von Menschen, eine lange Schlange, die geduldig im Regen auf Einlass wartet, viele mit Regenschirmen, einige mit Wintermützen, andere barhäuptig. Nur langsam rückt die Schlange − 100 oder mehr Menschen − voran. Ich drücke mich an den Wartenden vorbei zur gegenüberliegenden Straße, als ein Schwarzer mit Rastamütze um Kleingeld bittet. „Only for coffee, Sir“ wiederholt er melodiös, lachend, rau, als ich verneine. Er hat Charme, ich krame nun doch nach Münzen. Viele habe ich noch nicht seit heute Mittag. Was ist das? 10 Pence glaube ich im Halbdunkel zu erkennen, zu wenig jedenfalls, ich würde mich schämen. Also taste ich mich weiter, ich finde eine Pfund-Münze, eigentlich mehr als ich geben wollte, aber noch weiter suchen wäre kleinlich, also überreiche ich die Münze. „Enjoy the coffee.“ Dunkles Lachen. Der Mann geht weiter, versucht seinen Charme an der Warteschlange. Wie viel diese Menschen wohl für ihren Eintritt zahlen?

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Die nächste Brücke

 

 

 

 

 

 

 

33.

Gleich ums Eck wartet die Golden Hind − das Kaperschiff von Francis Drake, das im Auftrag von Königin Elizabeth den schier unendlichen Silberfluss aus der Neuen Welt nach Spanien umlenken sollte, ein bisschen davon zumindest − auf ihre nächste Weltumsegelung. Im Dock ruht sie, in beinahe unpassend kräftig wirkenden roten und gelben Farben bemalt, auf ihrem Deck wird ein Sektempfang ausgerichtet. Daneben im Old Thameside Inn sitzen die Menschen im Freien unter Schirmen, unbeeindruckt von Regen und Dezemberluft. Der Blick auf die London Bridge und die glitzernden Bürobauten dahinter, zwischen denen ich auf dem Nordufer meinen Weg gefunden hatte, ist fantastisch. Diese kalten Phalli des 21. Jahrhunderts und die bunte Golden Hind, sie passen nicht zusammen, sie beißen sich − und doch gehören sie in einen Kontext. Beide sind sie Ausdruck einer gewalttätigen Wirtschaftspotenz, von Raubtierkapitalismus.

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Nochmals ein Blick auf die City

 

 

 

 

 

 

 

34.

An den teils mittelalterlichen Ruinen von Winchester Palace traben Jogger vorbei, viele in kurzen Klamotten, alle mit einem eng an den Rücken geschnallten Rucksack − Effizienz pur. Was wohl darin ist? Bürokleidung? Eine Jacke gegen die Kälte auf dem Heimweg?

35.

Aus einer Straßenunterführung locken irritierende musikalische Klänge. Es ist, meine ich, ein Saiteninstrument, heiser, scharrend, fremd. Ich weiß bereits, dass ich stehenbleiben werde, bevor ich Einblick in die erleuchtete Unterführung habe. Dort steht ein hochgewachsener Schwarzer mit ergrautem Bart, er streicht nicht die einzelne Saite des Instruments, sondern klopft sie mit einem leichten Stab an, begleitet von einem Rasseln, denn im Griff des Stäbchens ist ein wohl mit Kerne gefüllter Hohlraum. Die Tonfolge ist einfach, aber fesselnd, fast hypnotisch. Ich bleibe lange am entgegengesetzten Ende der Unterführung stehen. Niemand außer mir hält an und lauscht. Als ich meinen Weg schließlich wieder fortsetze, bin ich erneut ein Pfund los. Ich habe eine Schwäche für Straßenmusik, so wie ich eine eingefleischte Abneigung gegen professionelles Betteln habe. Gerne hätte ich den Mann gefragt, wie sein Instrument heißt, woher es kommt. Wir tauschen einen kurzen Blick, als ich die Münze in den Bastkorb zu seinen Füßen werfe − meine ist die größte, die gerade darin liegt −, der Mann dankt einzig mit seinem Blick, nicht einmal mit einem Zucken des Mundwinkels: zurückhaltend, stolz und schweigsam. Dieser Mann will nicht reden, das wird mir klar. Ich schlage die Augen nieder und gehe weiter und lausche, bis die Klänge zu einem Flüstern werden. Es fällt schwer loszulassen.

36.

Ich will nicht weitergehen. Mir ist, als verlöre ich etwas, als ich die Klänge des exotischen Musikinstruments zurücklasse. Ein Hubschrauber knattert hart und unbarmherzig über den Nachthimmel und ich bin plötzlich in einer ganz, ganz anderen Welt.

37.

Low tide. Es sind Spuren da unten im Sand des Themseufers, das Tor aber zum Treppenabstieg vom Uferweg ist abgesperrt, verschlossen, der Betrachter vom Geheimnis dort unten ausgeschlossen.

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Spuren im Sand

 

 

 

 

 

 

 

38.

Dann passiere ich die Tate Modern. Die Ausstellernamen an der Außenfassade des Kunstmuseums klingen deutsch: Paul Klee, Mira Schendel − unerwartet und beinahe falsch auf diesem Weg.

39.

Ein Weihnachtsmarkt, Buden halten Händchen oberhalb des Themseufers, „Mexican Streetkitchen“, „Glühwein“, „Pizzeria“ auf ihren Schildern. Soul erklingt an einem Stand, Punk an einem anderen, „It‘s a Christmas Time“ singt die Band zu scheppernden Gitarren. Ist der Song womöglich von dem gerade erschienenen Weihnachts-Album von Bad Religion? Ich weiß es nicht. Gegenüber, unter einer Unterführung aus Beton und Platten, alles harte Flächen und Kanten und Graffiti liegt ein Skateplatz. Immer und immer wieder knallt es, wenn ein Skater mit den Rollen seines Boards wieder Kontakt mit dem Boden aufnimmt. Es sind aggressive Töne in einer ganz und gar lebensfeindlichen Umwelt. Der Punksong wird von einem stupiden Folklied abgelöst. Die Skatetöne der vollkommen in ihrem Tun versenkten Jungs sind wie Schläge gegen die falsche Weihnachtsidylle der Buden. Ein monströses Potpourri.

40.

Ein Paar, wieder auf der anderen Seite der Themse, er im Anzug, sie im kurzen Rock, aber gleich zweifach anders als alle übrigen Menschen auf den Dezemberstraßen: Es ist ein beblumter Sommerrock und ihre Beine tragen keine Strümpfe. Mit diesen in der Jahreszeit verirrten Blumen und den schutzlosen, blassen Beinen gewinnt die Frau − keine Schönheit, allenfalls auf eine ländliche, etwas derbe Weise hübsch − eine ungeheure Zartheit. Wie ein kurzer Schmetterlingsschlag an einem Herbsttag.

41.

Der Bus nach Wood Green 29 biegt ab. Ein entgegenkommender Kollege lässt ihm die Vorfahrt. Für einen Augenblick taucht die zum Dank erhobene Hand des Fahrers im Scheinwerferlicht auf, dann versinkt der Mann wieder vollständig im Dunkel seiner Fahrerkabine, nichts mehr von ihm ist zu sehen, so als würde der Doppeldeckerbus von Geisterhand gefahren.

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Around Covent Garden

 

 

 

 

 

 

 

 

 

42.

Am weitläufigen Canada House am Trafalgar Square hängt die belaubte Nationalflagge in stattlicher Zahl, ein Ehrenspalier für das riesenhafte Porträt von Alice Munro, der letzten Literaturnobelpreisträgerin. Eine Demonstration imperialer Größe. Muss das ehemalige Dominion hier etwas beweisen? Oder ist es ein Vorausblick darauf, dass die High Commission of Canada in London aus dem erst vor drei Wochen verkauften MacDonald House womöglich bald wieder hierher an den zentralsten Platz der Stadt ziehen wird?

43.

Auch an einem Montagabend tauchen am Trafalgar Square die ersten Horden feierlustiger junger Menschen auf. Ein paar Schritte weiter ist dann schon Soho. Zwischen den Restaurants und den Cappuccinetti, den Pubs und Table Dance Bars, Thai Massagen und Musicalbühnen finde ich die Kinos nicht wieder, wo ich vor ein paar Jahren „Shutter Island“ gesehen hatte. Ich bin zu müde vom stundenlangen Fußmarsch durch die Stadt, um mich durchzufragen, und streiche den Kinogang aus dem heutigen Programm. Ich würde so oder so am nächsten Abend wiederkommen, um im Tiger Spice, einem der besten indischen Restaurants, die ich kenne, zu essen. Erst später am Abend stelle ich bei einem Blick ins Internet fest, dass Tiger Spice geschlossen hat. Ich hatte mich Jahre gefreut, umsonst.

44.

Stattdessen schlage ich den Heimweg ein: vorbei am Tottenham Court (einer Baustelle noch über Jahre hinaus, um die völlig überlastete U-Bahn-Station zu vergrößern), durch Bloomsbury, bereits deutlich ruhiger (ein aufgeräumtes Antiquariat, die Swedenborg Society), Holborn … Da erkenne ich auf der anderen Seite einen Aushang wieder: Alps Restaurant in der Theobald‘s Street. Hier war ich, in gleicher Richtung, heute schon einmal gegangen. Also hatte ich meine Abzweigung nach Norden verpasst und war bereits wieder auf der Route nach East London. Ich mache kehrt und bin unsicher, wo ich abbiegen muss. Doch ich habe Glück. Die Intuition führt mich exakt den Weg zurück, den ich heute Nachmittag gekommen war.

45.

Ich korrigiere mich. Manchmal schmerzen die Augen doch. Fremdschämen im Hostel für kurzberockte Mädchen, die meine Töchter sein könnten.

46.

„110 Pfund hat gestern Abend jeder von uns liegengelassen“, prahlen die beiden feierlustigen Burschen aus Münster, bevor sie nochmals in die Nacht aufbrechen, während die zwei jungen Oberbayern einzig als Zuschauer zu einem internationalen Dartwettkampf angereist waren. „Dabei haben wir extra auf die U-Bahn verzichtet, weil die in London so teuer ist.“ Jeder erobert sich London auf seine Weise. Die Weltstadt hat für alle Platz.

Dezember 2013. Fortsetzung folgt.

Some Like it Hot

„Warum teilst du deine Themen nicht auf mehrere Blogs auf?“, runzelt der Profiblogger die Stirn, als ich erzähle, wie Zeilentiger liest Kesselleben thematisch aufgestellt ist. Unter dem Stichwort Zielgruppenrelevanz mag der Ratschlag wohl klug sein. Aber bunter Hund gefällt mir besser und bisher hat sich von den Lesern niemand beschwert. (Merkt ihr‘s, liebe Leserin, lieber Leser, das ist jetzt die Gelegenheit, Kritik anzubringen!) Trotzdem gibt es natürlich eine fast unendliche Zahl an Themen, die ich selbst nicht auf meinem Blog erwarten würde. Kochrezepte zum Beispiel. Nun, manchmal kommt‘s anders.

Make Fufu not War

Die Fußball-WM ist vorbei und der Sommer legt (hoffentlich) erst richtig los. Zeit also für eine Sommerparty! In Stuttgart steht die Parkplatzsituation permanent kurz vor dem Infarkt. Der Hinterhof fällt daher schon mal aus fürs Feiern, denn quadratmetergenau ist der Raum für Parkplätze vergeben, nicht mal mein Rad kann ich da einen Tag lang stehen lassen. (Oh, Stuttgart.) Immerhin, die Glasfront der Küche lässt sich auf ganzer Breite aufschieben: Dreiwandraum. So kann man auch den Sommer feiern. Die 30° kommen wie bestellt und gekocht wird nach der Some like it hot-Regel: nur Gerichte aus Ländern, durch die der Äquator verläuft.

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Süßkartoffeln statt Hähnchen, dazu Kochbananen und Kokosnuss

„Dongo-Dongo is to be served with Fufu.“ Ist das nicht ein schöner Satz? Zentralafrikanisches Dongo-Dongo wird (meist) mit getrocknetem oder geräuchertem Fisch gemacht. Versuchen wir es mit einer Abstraktion in der zweiten Potenz: Ersetze Fisch durch Yams durch Kartoffeln. Das wird dann natürlich ganz was anderes, aber die Freiheit zur Kreativität ist ja gerade das Schöne am Kochen.

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Party! Der Kampfkunstlehrer gibt sich eine Ladung veganer Sprühsahne der Firma SCHLAGFIX. Wenn das nicht passt …

Fufu gibt es übrigens dann doch nicht. Schade eigentlich, nachdem ich heute auf der Startseite des Foodblogs African Bites ein ganz wunderbares Foto gesehen habe: „Make Fufu not War“. Oder wie ein Freund kommentierte: „Das ist wie mit dem Mops: Ein Leben ohne Fufu ist möglich, aber sinnlos.“

Hoho, ist das scharf …

„Mir ist es ja auch lieber, wenn du es kochst, statt es zu bloggen, aber …“, meinte ein Gast. Andere bestätigen: Ja, her mit dem Soßenrezept! Bühne frei also für Piri-Piri, einer scharfen Chilisoße, in Afrika auch Peri-Peri oder Pili-Pili genannt. (Fun fact: „Pilipili hoho“ bedeutet roter Pfeffer auf Swahili.) Bekannt ist die Soße auch in der portugiesischen Küche. Die Zutaten des folgenden Rezepts zeigt bereits den mediterranen Einfluss. Das Piri-Piri auf dem Stuttgarter Afrika-Festival am letzten Wochenende war direkter: einfach nur pürierte Chilis. So scharf, dass es mir erst schwindlig wurde und ich später das Gefühl hatte, ein bisschen high zu sein. Wohlan, hier eine Variante der Piri-Piri-Soße.

3 Chilis (Schärfe ganz nach eigenem Geschmack wählen)
3 Knoblauchzehen (oder mehr)
Etwas frische Petersilie
1 ausgepresste Zitrone oder Limone
4 Esslöffel Olivenöl
1 Teelöffel Paprikapulver
1 Teelöffel Oregano
Salz

Die Zutaten mit dem Pürierstab zerkleinern und alles verrühren. Wenn das Piri-Piri nicht scharf genug ist, mit Cayenne-Pfeffer nachwürzen.

Aber jetzt erst einmal: Restefrühstück. Draußen steigen die Temperaturen weiter. Ich wünsche ein erfülltes Wochenende!

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Frühstück!

P.S. Danke den Freunden und Gästen, dem Tiger und B. für die wunderbar gestaltete Einladung.

Es ist mehr als nur Dunkelheit

Es ist mehr als nur Dunkelheit in dieser Nacht, trittst du einmal hinaus in die Wüste, in die karge Hochebene, wo sich Tau als Manna niederschlägt. Du kostest das Feucht von den Blättern, nur einen Hauch auf der Zunge, und staunst, was auf einmal ausgebreitet vor dir liegt. Du schmeckst Versprechen, und die späte Stunde der Nacht ist nicht mehr Finsternis und Kälte, sondern schön, eben wie sie ist, und du denkst dir: Bitte, Leben, bitte höre jetzt nicht auf, nicht gerade jetzt. Dreh dich weiter und schenke mir den Morgen, der da zu ahnen ist hinter den Klippen am Rande des Llano.

Snippets from London. Ein Dezemberspaziergang (Teil 1)

1.

Als ich an dem Dezembermorgen um 4.28 Uhr aus dem Haus trete, sehe ich durch die schmale Hofeinfahrt hindurch Sterne am Himmel. Draußen auf der Straße sind sie bereits verschwunden, das Firmament im Rücken der Laternen wirkt schwarz und leer. In der Luft liegt ein Versprechen. London calling.

2.

Kurz vor Köln kommt die Morgendämmerung, wenig später wechselt der Zugbegleiter bei seinen Ansagen auf vier Sprachen über. Die Sonnenstrahlen fallen über das flache Land, kaum Wolken, keine Spur von Frost. Der Winter scheint noch fern, nur eine Hypothese, keine Drohung. Vorfreude auf Tee jenseits des Tunnels und auf die in Ghee angebratenen grünen Chilis auf den Gerichten indischer Restaurants.

3.

Nach der erneuten Passkontrolle (der Eurostar, der den Kontinent und London miteinander verbindet, ist vermutlich der bestgeschützte Personenzug Europas) empfängt mich die Durchsage: die Mahnung − einer ganz tadellosen Stimme, laut und hallend −, das eigene Gepäck immer bei sich zu behalten und herrenlose Gepäckstücke sofort zu melden. Durch die Brechung einer anderen Sprache wird mir der auch von deutschen Bahnhöfen allzu vertraute Aufruf erst eigentlich bewusst. Ich lausche den Durchsagen, während ich mich zwischen einer Heerschar an CCTV-Überwachungskameras (über 400 Kameras sind im Bahnhof St. Pancras/King’s Cross installiert, ein erneuter Superlativ der Kontrolle) durch die Halle schiebe. Da komme ich also in einem der ältesten demokratischen, liberalen Staaten der Welt an und das Erste, was ich erlebe, ist ein Akt der Überwachung und ein Aufruf zur Selbstüberwachung. Wie frei sind wir wirklich in unserer Angst vor dem Terror, dieser Achillesferse unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaften? Al-Qaida hat ganze Arbeit geleistet.

4.

Vom Bahnhof erreiche ich meine Unterkunft zu Fuß. Das Hostel wirkt hervorragend organisiert und so neu, dass Teile noch Baustelle sind. Die Rahmenbedingungen sind trotzdem bescheiden, aber das war klar. Für zehn Pfund die Nacht − ein Schnäppchen − ist nicht mehr zu erwarten. Es macht nichts, ich habe nicht vor, hier mehr zu tun als zu schlafen, zu duschen, das Smartphone aufzuladen.

5.

Gleich ums Eck ziehen sich Straßen mit niedrigen Ziegelbauhäusern hin, fast jedes beherbergt im Erdgeschoss ein Lokal oder Ladengeschäft: ein Café, ein Restaurant, ein Antiquariat, eine Schwulenbuchhandlung. Ich betrete das erste indische Restaurant, das ich sehe.

6.

Chilischweiß auf der Stirn und eine orgasmische Komposition von Gewürzen und Zutaten. Kulinarische Glückseligkeit. Kein indisches Restaurant in Deutschland kocht auf solche Weise.

7.

Zum Nachtisch ein Espresso Macchiato in einer Pastabar nur ein paar Häuser weiter. Nichts treibt mich, ich bin frei. Es ist sehr beengt, die Tische sind lachhaft klein, eine studentische Intimität mit hipper mediterraner Küche. Ich gebe mich dem Klang der Gespräche um mich herum hin und lächle. Britisch-Englisch ist die einzige Fremdsprache, bei der ich so viel verstehe, dass sich nicht sofort das Gefühl von Fremde, Entfremdung einstellt. Ich genieße es.

8.

Endlich Eintauchen in die Stadt. Ich schwenke nach Osten.

9.

„Ethio Modern European Restaurant & Bar“. Ja, das ist die moderne englische Küche, nicht mehr verkochter Kohl an geschmacklosen Kartoffeln und ein paar Erbschen! Dann sehe ich, dass das Restaurant geschlossen ist, aufgegeben.

10.

An der Tür der Clerkenwall Screws Ltd. − Nuts & Bolts hängt ein Schild: „Do not bring bikes into the shop.“ Der Kundenbereich vor der Ladentheke ist ein schmaler Schlauch von rund zwei Quadratmetern. Schiebt ein Kunde sein Rad hinein, passt er selbst kaum mehr dazu, geschweige denn andere Besucher. Die merkwürdige Regel auf der Ladentür gewinnt nach einem Blick ins Ladeninnere also ganz neues Gewicht.

11.

„First Act, Than Reflect“ − Kapitelüberschrift in einem Buch aus dem Magma Book Shop, einem Ratgeber für ein erfüllteres Berufsleben.

12.

Ein Fahrradfahrer im dezemberlichen Straßenverkehr Londons: kurze Hose, Neonleuchtweste, Atemgerät aus durchsichtigem Plastik. Fahrender Ritter des 21. Jahrhunderts.

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Who am I?

 

 

 

 

 

 

 

 

13.

Es dämmert bereits, als sich die uniformierten Schüler, den Kragen gelockert und miteinander schäkernd, auf den Heimweg machen. Nur der brave indische oder pakistanische Junge mit der großen Brille und dem scharf gezogenen Scheitel geht allein, die Augen auf den Boden gerichtet. Alles an ihm ist tadellos, einzig das freche Glück fehlt in seinem Gesicht.

14.

Innerhalb einer halben Stunde zweimal von Einheimischen nach dem Weg gefragt zu werden, hat − vielleicht irrigerweise − etwas Schmeichelhaft: das Selbstverständnis eines Fisches im Wasser. Helfen konnte ich nicht.

15.

„Chariot Roman Spa − Englands Biggest & Best Mens Health Spa“. Bemerkenswerter Name. Was wohl alles angeboten wird? Lustknaben in Toga inklusive? Haarige Wagenlenker mit Aufschlag?

16.

Ich weiß nicht, wie hoch angesichts der vorherrschenden Wintermode die Rate an Blasenentzündungen bei den Londoner Frauen ist. Es sind jedenfalls nicht meine Augen, die Schmerzen davontragen.

17.

In einer vergitterten Hofeinfahrt zwischen zwei Fish & Chips sitzt, fast schon im Dunkeln, eine Frau auf einem Stuhl, den Kopf leicht nach vorne gebeugt. Vielleicht isst sie etwas, mir ist, als bewegte sich ihr Kiefer. Dann leuchtet kurz das kalte, blaue Licht eines Displays auf. Warum aber sitzt sie hier, in der dunklen, zugigen Einfahrt unter dem Küchenabzug? Hat sie nur hier, zwischen Mülltonnen, einen kostbaren Augenblick der Ruhe? Oder doch nur freies WLAN aus einem Nebenzimmer?

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Eine Botschaft in der Dämmerung von East London

 

 

 

 

 

 

 

18.

Partyhüte hinter Fensterfronten. Belegschaften bei der Weihnachtsfeier, papierene Kronen aus den Christmas Crackern auf dem Kopf, buntes Krepppapier über weißen Hemdkragen.

19.

Im East End Straßenschilder in Bengali unter den lateinischen Lettern. Was hier um die Brick Lane heute Banglatown ist, war einst Tatort von Jack the Ripper.

20.

Die City leuchtet, von Finsternis überdacht. Schwere Wolken legen sich wie eine Decke über die frühabendliche Stadt, dann bricht der Regen los. Niemand beginnt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, zu rennen. Selbst Passanten ohne Schirm und Kopfbedeckung nehmen den Regenschauer hin wie Windhauch oder Sonnenschein. Und tatsächlich, er erfrischt.

Bricks and glass

Bricks and glass

 

 

 

 

 

 

 

 

21.

Auf dem Reiseblog einer Freundin hatte ich das Foto gesehen und war ihr verfallen − der Salted Caramel Tart. Ich hatte mir den Namen des Restaurants im Londoner Osten geben lassen und suche nun nach dem Kuchen. Ich habe nur den Namen des Lokals, keine exakte Adresse und der Akku des Smartphones ist bereits leer. Ich frage mich durch und als ich schon nicht mehr damit rechne und eben aufgeben will, stehe ich plötzlich direkt vor dem Eingang.

22.

Und als ich den ersten Bissen im Mund habe, geschieht etwas: Es wird Frühling auf meiner Zunge, Goldadern fließen durch den Gaumen, bis hinein in den Unterleib kribbelt es. Entzücken durch alle Schichten: den dunklen Kuchenboden, das Salted Caramel, die feste Schokoladenschicht bis hin zu den ganz sacht gesalzenen, angerösteten Mandelblättern obenauf.

23.

Nach ein paar Bissen der tiefe Fall: Die Tart wird doch zu aufdringlich, in ihrer Süße wie in ihrer Salzigkeit. Von manchen Früchten sollte man eben doch nur einmal beißen.

24.

Ein Doppeldeckerbus taucht vor dem Fenster des Lokals auf. Nur die obere Busetage ist zu sehen. Sie ist fast leer, einzig zwei Schwarze sitzen darin. Er eine Mütze auf dem Kopf, sie ein paar Sitze weiter, ihren schweren Leib nach vorne gebeugt. Beide wirken müde. Sein Gesicht wendet sich zur Seite, fast begegnen sich unsere Blicke, dann ist er weg, der Mann, der Bus. Unmittelbar folgt ein zweiter Doppeldeckerbus und doch eine andere Welt. So viele Menschen sitzen oben, dass ich ihre Zahl kaum überschlagen kann, bevor das Fahrzeug vorüber ist und es wieder die große Aufschrift „Boxpark“ an der gegenüberliegenden Hauswand freigibt.

25.

Ich habe bezahlt und lasse den Blick noch schweifen: nach draußen in den Regen, durch die weitläufigen Räume des Lokals. Es ist laut und rege. Überall sitzen die Menschen zu Paaren, in Gruppen. Plötzlich hat mich die Einsamkeit schwer im Griff. Als eine schwermütige Ballade von Bruce Springsteen angespielt wird, greife ich nach der Jacke und haste hinaus auf die abendlichen Straßen, Kilometer um Kilometer glänzenden Asphalts vor mir. Manche Indianer glaubten, bei einer zu schnellen Reise käme ihre Seele nicht hinterher. Ich schreite aus, um daraus etwas abzuwerfen.

Dezember 2013. Fortsetzung folgt.

Ludwigsburg Museum − Von der barocken Idealstadt zum freien Raum schlechthin

ludwigsburg museum_9783899862003Über dem kleinen Städtchen Murrhardt − etwa 40 Kilometer von Stuttgart entfernt zwischen den Hügeln des Schwäbisch-Fränkischen Waldes − thront eine der schönsten und besterhaltensten Jugendstilvillen Deutschlands. Die Villa Franck, benannt nach dem einstigen Ludwigsburger Kaffeefabrikanten Robert Franck, wird dem unbedarften Wanderer zur Epiphanie: der in der ländlichen Idylle unerwarteten Erscheinung eines hochherrschaftlichen Ausdrucks wilhelminischen Großbürgertums.

Die Industriellenfamilie Franck hat nicht nur im beschaulichen Murrhardt bis heute wahrnehmbare Spuren hinterlassen, sondern war an ihrem wirtschaftlichen Wirkungsort Ludwigsburg geradezu sprichwörtlich geworden mit dem „Ludwigsburger Gschmäckle“ − dem Röstaroma der Zichorienfabrik, das bis heute (der Caro-Kaffee ist längst Teil des Nestlé-Konzerns) bei Westwind in Ludwigsburg zu erschnuppern ist. Der Ersatzkaffee steht für eine württembergische Erfolgsgeschichte der Industrialisierung. 1868 in Ludwigsburg angesiedelt, machte Franck den Ersatzkaffee zu einem Massenprodukt mit internationalem Vertrieb und schuf mit seiner Handmühle für den ‚kleinen Mann‘ die erste Schutzmarke der Welt. Als einer der wichtigsten Arbeitgeber vor Ort formte die paternalistische Kaffeemittelfabrik aber auch das neue Gesicht der ehemaligen württembergischen Residenzstadt: Das Stadtbild sollte ‚arbeiterfrei‘ sein, Arbeiterfamilien daher im ländlichen Umland siedeln und als mit „Fersengeld“ ausgestattete Fußpendler täglich in die Fabriken ein- und ausziehen.

Die Bedeutung der Familie Franck für Ludwigsburg ist nur eine von vielen Facetten der noch jungen Stadtgeschichte, die seit 2013 im völlig neu konzipierten Stadtmuseum bzw. seit diesem März in der begleitenden Buchpublikation „Ludwigsburg Museum“ des Verlags avedition nachvollziehbar wird.

Während Stuttgart noch auf sein Stadtmuseum wartet (der Umbau ist in Gange), hatte das benachbarte Ludwigsburg mit dem MIK (Museum Information Kunst) bereits sein modernes Museum innerhalb barocker Mauern erhalten. Ein Grundanliegen ist, dass das MIK mehr als nur ein Museum darstellt. Das städtische Kultur- und Informationszentrum beherbergt neben dem Ludwigsburg Museum den Kunstverein, die Touristinformation der Stadt und ein Café „Zichorie“. Damit holt das Museum die Stadt der Gegenwart in die eigenen Mauern und wird wie diese zum Raum, „in dem Ereignisse und Haltungen aufeinander treffen dürfen“. Es erhebt damit den Anspruch, Stadt und Museum wie Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verschränken, also die Trennung von Innen und Außen, letztlich von Subjekt und Objekt (dafür sprechen auch die ausgestellten Porträtfotografien von Bewohnern Ludwigsburgs) aufzuheben.

Rund 25 000 Sammlungsstücke zur Kulturgeschichte Baden-Württembergs umfassen die Bestände, davon zeigt die Dauerausstellung 500 Stücke aus der 300-jährigen Geschichte der Planstadt Ludwigsburg. Kernstück der Ausstellung sind sechs thematisch konzipierte Räume: „Guter Fürst“ (über die Erbauung von Schloss Ludwigsburg als Keimzelle der Stadt), „Idealstadt“ (die Gründung einer ‚idealen‘ Stadt in der Nähe des Schlosses ab 1709 durch die württembergischen Landesherren), „Musensitz“ (der großen Geister der Stadt wie Friedrich Schiller, Eduard Mörike, Justinus Kerner oder David Friedrich Strauß), „Neuerfindung“ (im Zuge der Industrialisierung und dank vieler mit Ludwigsburg verbundener Erfindungen, die zu Klassikern der Moderne wurden, darunter Aspirin, Botox oder die Handbohrmaschine), „Soldatenstadt“ (von 1737 bis 1994 war der Ort Garnisonsstadt) und „Bürgerstadt“ (in dem das Selbstverständnis der Bewohner von der Zeit des Nationalsozialismus bis heute hinterfragt wird). Die Exponate stehen für sich, Erläuterungen sind von den Ausstellungsstücken räumlich getrennt: Anregung zur Eigeninterpretation − das fordert bereits das „Stadtbild“ im Eingangsbereich des MIK. Das Museum versteht sich damit nicht länger als ein Raum, der dem Bürger als Adressaten Modellentwürfe von Geschichte und Gesellschaft anbietet, sondern den Besucher einbindet und zu eigener Sinngebung anregt.

Die Wahl der avedition, des Verlags für Architektur, Design und Ausstellungsgestaltung, bis vor Kurzem in Ludwigsburg sesshaft, war für die begleitende Publikation naheliegend. Das Buch „Ludwigsburg Museum“ übernimmt im Wesentlichen die konzeptionelle Gliederung des Museums − inklusive des unterhaltsamen „Anekdoten-ABCs“, das über das Haus bzw. das Buch verteilt mit alphabetisch geordneten Schlagwörtern eine andere Möglichkeit des Erzählens von bzw. der Stadtgeschichte anbietet −, angereichert um Texte u.a. von Arno Lederer (stellvertretend für die sanierenden Architekten Lederer Ragnarsdóttir Oei), dem Museumsgestalter HG Merz und der Museumsleitung Alke Hollwedel. Wie im Museum sind alle Texte konsequent zweisprachig (deutsch und englisch) wiedergegeben. Naturgemäß fordert das Medium Buch dabei eine größere Nähe zwischen Text und Bild als Stellvertreter der Exponate bzw. des Raums selbst. (Das Werk zeigt über 150 hochwertige Aufnahmen von Roland Halbe − Architekturfotografien − bzw. kienzle|oberhammer, verantwortlich für die Objektfotografien).

Stilistisch besticht die zurückhaltende Umschlaggestaltung − die hochauflösende Abbildung einer Grundmauer in Grautönen mit minimalistischer weißer Beschriftung. Inhaltlich transportiert sie gleichermaßen Beginn und Historizität, Fundament wie Herausforderung und schafft in Entsprechung zur Fassade, zu den Grundmauern des Museums den Rahmen für seinen reichhaltigen Inhalt. Den spiegelt gestalterisch der Goldton im Innenteil des Buches wider. Während der dezent schmückende Charakter im Textteil (in Titeln, Initialen usw.) elegant unterstreicht, wirkt der goldene Vorsatz (genauer: gold bedrucktes Bilderdruckpapier des Werkes) allerdings doch zu flächig und opulent. Nebenbei ist das Gold anfällig auf Fingerdruck und schlägt sich schnell auf den gegenüberliegenden Seiten nieder − so gesehen kein Buch für die intensive Benutzung.

Nichtsdestotrotz legt avedition mit der Ausgabe eine ansprechende Handreichung zum Ludwigsburg Museum vor. Für den erst im Februar nach Stuttgart umgesiedelten Verlag eine sehenswerte Neuerscheinung und ein viel versprechender Start am neuen Standort. Lassen wir uns also vom Ludwigsburg Museum zu unserer eigenen Deutung von Raum und Zeit verführen.

Ludwigsburg Museum. Herausgegeben von der Stadt Ludwigsburg und Alke Hollwedel. 238 Seiten mit 152 farbigen Abbildungen. Gebunden.  2014, Ludwigsburg Museum, avedition GmbH, Stuttgart.

Darüber hinaus auf zeilentiger liest kesselleben …

Einen Beitrag zu avindependent, des früheren Schwesterunternehmens von avedition, bietet diese Filmpremiere.

Auch das im Werden begriffene Stadtmuseum Stuttgart fand bereits Nennung.