Von Burfi und Urdu kutub – Traditionen am Rande der Buchmesse

Bald steht wieder der Besuch auf der Frankfurter Buchmesse an. Anlass für einen kleinen Rückblick auf ein Ritual im Schatten der Messe.

Die Frankfurter Innenstadt rund um die Kaiserstraße ist kein Klein-Istanbul, eher ein Konglomerat verschiedenster nah- und fernöstlicher Länder, angereichert um Amerikanismen wie billige Burger-Läden, um Erotikshops und ein paar kleine altbürgerliche Inseln wie ein Pfeifengeschäft. Alle Küchen Asiens scheinen hier zusammenzutreffen, vor einem Geschäft feilschen zwei Araber mit dem langen Kinnbart der strenggläubigen Muslime, dort betreten ein paar Männer den pakistanischen Imbiss, eine Straße weiter reihen sich gleich drei oder vier indische Lebensmittelgeschäfte aneinander.

Ich freue mich jedes Jahr, wenn ich auf der Frankfurter Buchmese bin, auf einen kleinen Abstecher ab vom Bahnhof in eines ebendieser indischen Geschäfte. Dort thront – zwischen den Regalen mit Chutneygläsern, Gewürzen und Bollywoodkassetten – eine Theke voller indischer Süßigkeiten: Burfi und Laddu und wie sie sonst heißen mögen, reichhaltige, zuckersüße Leckereien aus angeröstetem Kichererbsenmehl und den verschiedensten Nüssen, aus Butter oder eingekochter Milch, gewürzt mit Kardamom, Nelken und Rosenwasser, mit Kokosraspeln bestreut oder mit Lebensmittelfarbe aufgepeppt, zu Kugeln gerollt oder in Würfel und Quadern geschnitten.

Die Männer im Laden schauen mich alle an, als ich im Trenchcoat und das Handy in der Hand eintrete. Während ich glücklich meine Bestellung aufgebe – ein Pfund handgemachter indischer Süßigkeiten, die ich in den meisten Städten Deutschlands gar nicht oder wenn doch, dann vermutlich zu horrenden Preisen bekommen würde –, werde ich weiterhin gemustert. Der Blick der Männer bleibt wachsam, dabei mache ich doch nicht mehr, als mir ein paar Süßigkeiten zu kaufen. Was sie wohl gerade denken? Ist es so ungewöhnlich, in diesem Geschäft einen firangi zu sehen? Sie halten mich doch nicht etwa gar für einen Polizisten? (Und selbst wenn, sollte ihnen das Sorge bereiten?) Ich nehme den Plastikbecher mit den Süßigkeiten entgegen und dann lächelt der Verkäufer plötzlich und drückt mir eine Karte in die Hand: „Wir liefern auch.“

Punjabi ShopAuch dieses Jahr wieder: Süßigkeiten aus dem „Punjabi Shop“

An der nächsten Ecke, gegenüber einem großen Dolly Buster-Namenszug, stoße ich auf eine internationale Buchhandlung. Urdu kutub – Bücher auf Urdu – zeigt mir ein Blick auf den Aushang im Schaufenster. Ich betrete das Geschäft, ein langer, schmaler Raum, in dem Sortiment und Antiquariat bunt gemischt sind. Viele der Bücher sind in abgegriffene Folie oder in durchscheinendes Pergamentpapier gehüllt: Spanisch, Englisch, Türkisch, Französisch, Russisch, Italienisch, Urdu und Arabisch, internationale Bestseller und rätselhafte Broschuren, ein kleines, angestaubtes Paradies für polyglotte Bücherfreunde.

Eine graue, ältere Frau steht hinter der Kasse. Ihr Blick ist misstrauisch und angriffslustig. Mir widerfährt einer jener lächerlichen Reflexe: Weniger aus Höflichkeit, sondern mehr um ihr zu signalisieren, dass ich ‚Inländer’ bin und nicht ein Geschäftsmann aus, sagen wir, London, Helsinki, Bratislava, auf jeden Fall um zu zeigen, dass sie mich auf Deutsch ansprechen könne, grüße ich sie. Und ich sage „Grüß Gott“ und noch während ich es mit der Zunge, mit den Lippen forme, merke ich, was ich da von mir zu geben im Begriff bin – „Grüß Gott“ in Frankfurt am Main –, und heraus kommt schließlich ein gedämpfter, gequetschter Gruß. Doppelt fehlgeschlagen also.

Die graue, grimmige Dame grüßt zurück, immerhin, doch eine Philanthropin ist sie wirklich nicht, das wird gleich klar: Am Telefon weist sie jemanden barsch zurück, Bestellungen möge man bitte sehr per Fax schicken, sie habe Kundschaft im Laden. Viele Besucher sind es allerdings nicht, und das wundert mich jetzt auch nicht mehr. Ich stehe vor dem Regal neben der Kasse und blättere ungestört die arabischen Bücher durch – nahezu alle von allergeringstem bibliophilen Anreiz – und versuche, die Titel zu entziffern. Ein anderer Kunde hat weniger Glück. Die graue Dame marschiert auf ihn zu und fordert ihn heraus: „Kann ich Ihnen helfen?“ Danke, könne sie nicht, antwortet der arme Mann, als müsse er eine Schuld eingestehen. Die Dame macht kehrt, verschanzt sich wieder hinter der Theke, schneuzt sich und schaltet das Radio an. Viel zu laut und aufdringlich ertönen die Nachrichten.

SüdseiteBlick in die wunderbare Internationale Buchhandlung „Südseite“

Bald hat die graue Dame ihre wenigen Kunden vertrieben, nur ich stehe noch da und entscheide mich schließlich für ein arabisches Büchlein, in dem, wenn ich richtig verstanden habe, ein Vater seinem Sohn erklärt, warum Menschen Krieg führen und dass daran ein gewisser Herr Bush nicht unwesentlichen Anteil habe. Wenn ich Pech habe, wird es sich als peinliche Agitation entpuppen, aber es ist sowieso eher ein Verlegenheitskauf, und ich weiß jetzt schon, dass ich über die ersten Seiten vermutlich nicht hinauskommen werde und das Büchlein ein weiteres Denkmal meines sprachlichen Scheiterns sein wird.

Als ich das Buch an die Kasse lege, überträgt die Verkäuferin mit etwas Mühe den Titel – er steht in Umschrift auf einem Etikett – in einen Block, dann schüttet sie ein Einmachglas mit Münzen aus und wühlt auf der Suche nach Wechselgeld. „Zweier gebe ich so ungern heraus“, murmelt sie und wühlt stumm weiter.

Ich warte geduldig und dann frage ich gegen das Schweigen an: „Haben Sie auch Bücher auf Swahili?“ (Nicht, dass ich viel damit anfangen könnte.)

„Nein“, bringt die Dame hervor und sieht mich aus grauen Augen an. „Nein.“

„Aber eine wirklich schöne Buchhandlung“, rufe ich ihr zum Abschied munter zu. Vielleicht sieht so dieser Ort doch noch ein Lächeln, bevor die Dame den Laden abschließt.

Miniaturenmaler des Alltags – Wilhelm Genazino, „Tarzan am Main“

Der Supermarkt ist die kleinste mögliche Erlebniseinheit in der Stadt.

Genazino_24122_MR.inddDa spricht also einer über Frankfurt, ein alter Hase des Literaturbetriebs und Bewohner der Mainmetropole selbstverständlich, und nähert sich der Stadt der „Desillusionierungen“ – vorschriftsgemäß, möchte man fast sagen – über klassische Themen: Flughafen, Bankenviertel, Rotlichtmeile, Migration und Integration, der Bedeutungsverlust Frankfurts seit der Wende. Das wird Wilhelm Genazino in seinem jüngsten Werk „Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands“ aber recht bald langweilig. Und er geht über zu dem, was er immer schon gemacht hat: zu Miniaturen des Alltags, gewonnen aus einer lebenslang eingeübten Kunst des Beobachtens, die aus der ernüchterndsten Banalität unserer Alltäglichkeit noch Einsichten gewinnt.

Es sind Beobachtungen auf Spaziergängen, beim Einkaufen, beim Blick aus dem Fenster – der aufmerksame, geduldige Blick auf Paare, Passanten, auf die Angestellten des Großraumbüros, auf Penner und Säufer, auf die müden Frankfurtpendler im ICE (die „Wiedergänger des Bahnhofs“), auf Kinder wie „butterweiche Frührentner“ bis hin zum Treiben der Mäuse in der nächtlichen U-Bahn-Station.

Genazino nimmt sich selbst nicht aus von seinen Beobachtungen, und so werden die „Spaziergänge“ zur uneitlen Res Gestae eines alternden Schriftstellers: ein weiter fragmentarischer Bogen von den einprägsamen Erinnerungen an den zehnjährigen Liebhaber der Tarzanhefte (daher der Buchtitel) und seine Pläne, dem kommenden Krieg zu entgehen, über den „Provinzler“, der für die Redaktion in der linksradikalen Zeitschrift „pardon“ Anfang der Siebzigerjahre nach Frankfurt kommt, bis hin zur ‚Abwicklung‘ seiner literarischen Existenz, als die Herren vom Literaturarchiv Marbach seinen „Vorlass“ sichten, kaufen, abholen – beinahe, als wäre es bereits vorbei mit Genazinos Schaffensphase.

Ist es aber nicht. „Tarzan am Main“ sind gelungene Alltagsminiaturen eines nach wie vor ganz und gar aufmerksamen Geistes. Der Rückentext trügt daher in einer Hinsicht: Ja, viel geht es um Frankfurt – doch oft genug nur ums Leben.

Wilhelm Genazino: Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands. 138 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag oder als E-Book. © 2013 Carl Hanser Verlag München.

Freundschaft ohne Worte

Sie standen vor mir, ihre Rücken sperrten mich aus und ich begann vor Ungeduld, mit den Zähnen zu mahlen. Es war auf dem Konzert einer jener Bands, die man ihrer Frühsiebzigerjahremusik wegen schätzt und 40 Jahre später zumindest einmal gesehen haben will, bevor der Tod sie frisst.

Die beiden Männer vor mir, Endvierziger in Jeans- und Lederjacke, brauchten Minuten für die bescheidene Auslage: einige Alben auf CD, zwei oder drei gebrauchte Schallplatten aus dem Sortiment eines angesehenen (und innerhalb weniger Jahre fast zur Nichtexistenz geschrumpften) Fachhändlers. Der Mann in Lederjacke war fast zittrig vor Erregung – scharf wie ein Spürhund und zugleich unschlüssig angesichts der Größe seiner Leidenschaft. Seine Finger fuhren hin und her, zögernd nahm er eine Schallplatte auf, legte sie wieder zurück, ordnete die CDs neu an – „Die Reihenfolge stimmt nicht!“ –, geradezu vorwurfsvoll, denn der Fachhändler hatte in seinen Augen versagt: Chicago hatten ihre Alben meist nur nach Nummern betitelt, ohne diese auf der Covervorderseite immer abdrucken zu lassen.

Es war offensichtlich: Der Mann in Lederjacke war ein alter Fan, sicherlich nicht alt genug, um ein Getreuer der ersten Stunde zu sein, vermutlich auch noch nicht, als sich der Gitarrist Terry Kath in völliger Dummheit versehentlich selbst erschossen hatte, aber doch ein Liebhaber, den die Musik der Jazz- und Brassrockband über Jahrzehnte seines Lebens begleitet hatte. Mir machte es das Warten nicht leichter. Das Jagdfieber hatte auch mich – auch wenn ich nicht die Alben hätte chronologisch anordnen können – und ich begann, die beiden Männer dafür zu hassen, dass sie immer noch den Zugang zur Auslage versperrten.

Endlich fasste der Mann in Lederjacke einen Entschluss, er legte ein paar der Scheiben zur Seite und griff nach dem Geldbeutel. Da kam plötzlich Regung in seinen Begleiter, der die ganze Zeit über sehr aufmerksam, aber ruhig, geradezu geduldig daneben gestanden war. Er drückte dem Verkäufer einen 50 Euro-Schein in die Hand, bevor der andere seinen Geldbeutel geöffnet hatte. Alte Freunde, deren ökonomische Situation sich auseinanderentwickelt hat, dachte ich mir. Der Mann in Lederjacke stutzte. Für einen kleinen Augenblick schien die Zeit die Luft anzuhalten. Wie würde der Mann reagieren? Mit stolzer Zurückweisung? Mit einem Schauspiel des Sträubens und schlussendlichen Annehmens? Mit Beschämung oder mit haspelnden Dankesworten?

Nichts von alledem. Er breitete die Arme aus und die beiden Freunde umarmten sich. Alle Dankbarkeit lag in dieser Umarmung, eine Umarmung voller Kraft, Einvernehmen und gemeinsamer Geschichte, ohne dass einer von beiden ein einziges Wort ausgesprochen hätte. Meine Ungeduld war hinfort, meine Augen waren feucht. Keine Musikauslage konnte so kostbar sein wie dieser Moment alter Freundschaft ohne Worte.

Caterina Bonvicini, „Das Gleichgewicht der Haie“

sfv_bonvicini_haie_lay.inddSie verstrickt sich in Beziehungen mit depressiven Männern, taucht ein in die Briefe, die ihre Mutter vor ihrem Suizid geschrieben hatte, und verliert schließlich selbst die Kontrolle über ihr Leben. Gleichgewicht ist das, was Sofia immer wieder beschwört gegen die allgegenwärtigen Depressionen. Doch das hat auf seine Weise nur ihr Vater gefunden, ein Meeresforscher, der sich ganz in seine eigene Welt zurückgezogen hat, über die tiefen Abgründe schwebt und mit den Haien schwimmt.

Der Autorin gelingt mit ihrem Roman eine intensive und persönliche Auseinandersetzung mit der Depression. Wenn der Erzählfluss bisweilen seine Geschmeidigkeit etwas einbüßt, liegt das nicht nur an dem niederdrückenden Thema, sondern auch an einer gewissen Überstrapazierung von Bonvicinis – an sich höchst reizvoller – Leitmetapher. Der Leser schwimmt trotzdem gebannt bis zum Ende mit durch die Geschichte, wenn auch immer mit einem unbehaglichen Blick auf die dunklen Tiefen: Denn wer von uns hat es schon, das „Gleichgewicht der Haie“.

Caterina Bonvicini, Das Gleichgewicht der Haie. Roman. Aus dem Italienischen von Katharina Schmidt. (Originaltitel: L’equilibrio degli squali, 2008). Gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen oder als E-Book. 283 Seiten. © S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010.

Design, Kunst und Mode am Feuersee – Stuttgarts letztes Sommerfest

Die Knirpse von der Wah Wah West Musikschule lassen „Highway to Hell“ krachen und stehen dabei auf der Bühne, als ginge sie das alles nichts an. Tut es irgendwie ja auch nicht: Die Songs, die sie auf dem Feuerseefest spielen, gehören ihrer Elterngeneration. Und die hat an der Vorführung der Buben sichtlich Spaß.

Stuttgarts letztes Sommerfest rund um die neugotische Johanneskirche mit ihrem charakteristischen gestutzen Kirchturm (im Zweiten Weltkrieg zerstört und nicht wieder vollständig aufgebaut) freut sich über herbstlich-graues Wetter. Unübersehbar ist auf dem Fest die Handschrift des Westens, Stuttgarts beliebtestem Bezirk mit seinen Mutter-Kind-Ladencafés, seinem Parkplatzmangel und seinen historischen Altbauten – immerhin trotz Fliegerangriffen und späterer Bausünden eines der größten erhaltenen, zusammenhängenden Gründerzeitviertel Deutschlands. Alles ist hier ein bisschen alternativ, aber wohlsituiert, auffallend viele schöne jüngere Menschen und Familien tummeln sich auf dem Platz – hipp, glücklich und grün, so könnte die Formel lauten.

IMG_1603Slacklining über den Feuersee

Zum ersten Mal bereichern die kreativen Macher der DEKUMO das Fest mit ihrem Kunsthandwerk. Die Stuttgarter Initiative für Design, Kunst und Mode war vor einigen Jahren als Verkaufsplattform ins Leben gerufen worden, um die oft kleinen und versteckten Geschäfte und Werkstätten der Stadt präsenter zu machen. „Ich möchte alles kaufen“, schwärmt eine Freundin beim Gang zwischen den Ständen.

Ja, es ist ein Frauenmarkt, ohne Frage: Kleidung für Frauen und Kleinkinder aus Fair Trade-Materialien, Handtaschen – vom unvermeidlichen Filz über zartes Leder, rosa Rüschenstoff mit Totenkopfmotiv bis hin zu umgeschneiderten Textilien wie dem Rock aus Schottenkaro oder dem Tigerkunstfell –, Schmuck in den verschiedensten Variationen, bunte Stoffknöpfe oder Schlüsselbretter mit filigranen Mustern, handgearbeitete Notizblöcke, Postkarten mit den etwas anderen Fotomotiven aus Stuttgart („Esst mehr Brokkoli“), Kunstgegenständen wie die in transparentes Plastik eingegossenen Drucke zum Aufhängen („Der Kerl am Bass“).

IMG_1600Designerin Anna Bánkuti („anzu„) mit ihrer Schmuckauslage aus Silber und einem speziellen, ausbrennbaren Kunststoff, den sie einzeln per Hand bezeichnet – in der nächsten Ausgabe der britischen Vogue (Oktober) wird sie als Newcomer vorgestellt werden

Der Macher von 2un° recycelt typische Dachbodengegenstände und schafft so besonders erstaunliche Unikate: Tassenlampen, Seifenschalen aus Porzellantassen mit aus Gabeln gebogenen Haltern, Schreibkladden aus bunten, alten Jugendbucheinbänden, in die neue Papierbogen eingehängt werden – die Meinungen darüber sind, nun, disparat.

Selbst bei der Stärkung mit Fastfood muss man auf ein bisschen Stil nicht verzichten: Crepes holt man sich im „Heimathafen West“, Pommes und Currywurst (wahlweise Biofleisch oder vegan) gibt’s bei „Feinwerk`s ImBiobiss“, wo hinter einem Dutzend Kartoffelkisten stoisch drei Mitarbeiter die Kartoffeln für die frisch gemachten Pommes schälen – drunter macht es der Stuttgarter Westen nicht.

Und natürlich gibt es auch ein wenig Spektakel für die Kleinen: Mitmachmärchen, die „Hosenboje“, eine Seilrutsche über den Feuersee (leider nur bis 16 Jahre), oder ein Seiltanz über die 60 Meter des Feuersees. Ob der Slackliner beim Balancieren über der appetitlich trüben Brühe ein Atemgerät übergezogen hat? Wir wissen es nicht, wir haben ihn leider verpasst.

IMG_0637Es gibt tatsächlich Leben im Feuersee

Das 3. Feuerseefest fand vom 13. bis 15. September statt.

Auf Du und Du mit Kairos – Dan Kieran, „Slow Travel. Die Kunst des Reisens“

„Heute können wir so schnell die ganze Welt umrunden, dass die meisten von uns paradoxerweise gar nicht mehr reisen – sondern nur noch ankommen.“

Slowtravel_UMSCHLAG_300dpi_1400pxEntschleunigung begegnet uns immer häufiger als ein Gegenentwurf, je kürzer getaktet und uniformierter wir die Prozesse unserer Alltagswelt wahrnehmen. Das Label „Slow“ für ein Mehr an Lebensqualität brachte Carlo Petrini 1986 mit der Gründung der Slow Food-Bewegung ein, die für ein genussvolles, bewusstes und regionales Essen einsteht. Bald wurde das Konzept auf andere Lebensbereiche übertragen, so auch auf Slow Travel, das zum Beispiel in Zeitschriften wie „Hidden Europe“ oder „The Idler“ Stimmen fand für eine langsamere und damit bewusstere und erfülltere Art des Reisens.

In seinem Buch über die Kunst des langsamen Reisens, 2012 in einer britischen Ausgabe, im Frühjahr 2013 bereits in einer deutschen Übersetzung erschienen, greift der englische Reiseschriftsteller Dan Kieran zurück auf altgriechische Vorstellungen von Zeit. Die Griechen kannten zwei Konzepte der Zeit (abstrakte Begriffe, die zugleich als göttliche Wesen personifiziert werden konnten). Chronos ist der Ablauf der Zeit – eine äußere oder objektivierte Zeit, die für uns Sterblichen unweigerlich im Tod mündet. Dem entgegen steht Kairos, der rechte Zeitpunkt, in dem sich das Leben verdichtet, höchste Aufmerksamkeit voraussetzt und nach einer Entscheidung ruft – eine intensive, subjektivierte Zeit: ein Augenblick, in dem die Macht des Chronos gebrochen ist.

„Kev litt vor sich hin, als wir aus der Stadt hinausfuhren, aber ich war begeistert, dass wir so bald in Unannehmlichkeiten geraten würden.“

Biographischer Ausgangspunkt für das langsame, bewusste Reisen war für Dan Kieran seine ausgeprägte Flugangst. Sie zwang den Inselbewohner zu einem veränderten Reiseverhalten, und was als psychologisches Handicap begann, beschenkte den Reisenden mit unerwarteten Erfahrungen und Erkenntnissen. Es sind im Grunde einfache Regeln, die dem Slow Travel zugrunde liegen – und aus Tourismus ein echtes Reiseerlebnis machen: die verlangsamte Fortbewegung, die einen bewussten, intensiveren Austausch mit den Landschaften, Kulturen und Menschen auf der Reise erlaubt, die Aufgabe von Routinen und die Offenheit für das Unerwartete.

Kieran bietet anhand eigener Erlebnisse wie der anderer Reiseschriftsteller, auf deren literarischen Fundus er zurückgreift (mit besonders großer Verehrung auf Stefan Zweig), zahlreiche Beispiele für diese Kunst des Reisens. Die entbehrungsreichen Wanderungen von Jay Griffiths („Wild. An Elemental Journey“, 2006) durch tropische Dschungel und eisige Wüsten sind ein Extrem. Viel harmloser und unspektakulärer und trotzdem ein Paradefall für Slow Travel kann die Erkundung des eigenen Lebensraums sein, etwa eine Tageswanderung von der eigenen Haustür ab durch eine Landschaft, die man täglich mit dem Auto durchfliegt, ohne je ein Gefühl für das Land gewonnen zu haben. Eine solche Wanderung rückt das Land näher, sie bringt neue Maßstäbe und einen neuen, reicheren Blick – die Fähigkeit, die eigene Heimat mit den Augen eines Reisenden zu sehen.

„Einmal fuhren wir einen Hügel hinauf und wurden von einer Hummel überholt.“

Ein besonders schöner Bericht ist Kierans Fahrt in einem alten elektrischen Milchwagen quer durch England, die er mit zwei Freunden unternommen hatte („Three Men in a Float“, 2008). Aus einem verrückten Einfall, anfänglich von niemandem ernst genommen, wurde ein Musterbeispiel für das langsame Reisen, das die drei Freunde tief prägte und veränderte – aber auch die Menschen, denen sie unterwegs begegneten. Durch die entschleunigte Weise des Reisens (ohne damit verbundener körperlicher Anstrengung wie beim Wandern oder Radfahren) erlebten Kieran und seine beiden Mitreisenden, wie die Kluft zwischen Umwelt und dem Reisenden zunehmend geringer wurde. Als der Autor auf einer Etappe an einer ganz gewöhnlichen Einkaufstour in einem PKW teilnahm, war er überwältigt und entsetzt. „Angesichts der absurden Geschwindigkeit verfiel ich in Panik, und alles, was ich durch das Fenster sah, hatte auf einmal seine Bedeutung verloren.“

Nicht nur das Land rückte viel näher an die Reisenden, sondern diese veränderten auch das Land, genauer die Menschen. Indem sie während ihrer ungewöhnlichen Unternehmung in dauernden Kontakt mit fremden Leuten kamen, deren Neugier weckten oder auf diese angewiesen waren (etwa fürs tägliche Aufladen des Elektromotors), lösten die Milchwagenfahrer in den Menschen unerwartete Regungen aus: Viele Wildfremde erzählten plötzlich mit leuchtenden Augen von ihren eigenen heimlichen „verrückten“ Ideen, die sie sonst wie Geheimnisse peinlich gehütet hatten.

„Deshalb übt das langsame Reisen auf mich einen solchen Reiz aus, denn es bringt einen dazu, das eigene Leben als die einzige epische Realität anzusehen, die man jemals erfahren wird.“

Nicht die Sehenswürdigkeiten zählen auf einer Reise – gegen sie hat Kieran geradezu eine Abneigung, da der Tourist hier nur Bestätigung einer vorgefassten Meinung suche –, sondern es sind unerwartete Begegnungen mit Menschen, es sind Erfahrungen jenseits aller Vorhersehbarkeit, es ist die Konfrontation mit dem Unbekannten und damit auch immer und immer wieder die Auseinandersetzung mit sich selbst, die im Reisenden eine Entwicklung auslöst. Nein, bequem ist diese Art des Reisens nicht immer, aber genau darin sieht Kieran die Tiefenwirkung seiner Kunst des Reisens: eine Neubestimmung des eigenen Lebens. Wer sich darauf einlässt, für den verliert der unbarmherzige Griff von Chronos an Macht, denn in der Intensität des Augenblicks wird das Leben kostbar und erfüllt.

„Slow Travel“ ist dort am fesselndsten, wo Kieran die Kunst des Reisens an eigenen Reiseerlebnissen auszuführen versucht – an der Schnittstelle zwischen dem Erzählen und der Reflexion über das Selbsterlebte. Hier springt an der einen oder anderen Stelle der Funke über, Kairos fliegt vorüber und man wünscht sich, schnell die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und aufzubrechen in ein bewussteres, befreiteres Leben. Kierans Ausflüge in die Neurowissenschaften hingegen und andere Versuche, sein Thema auf theoretischer Ebene zu unterfüttern, sind letztlich unnötig, und manches an seinem Reisebuch geht bedauerlicherweise über Plattitüden und auch stilistische Banalitäten nicht hinaus. Ein mitreißendes Buch ist „Slow Travel“ aufs Ganze gesehen daher nicht. Aber grundsympathisch.

Dan Kieran, Slow Travel. Die Kunst des Reisens. (Originalausgabe 2012 unter dem Titel: The Idle Traveller. The Art of Slow Travel). Mit einem Vorwort von Tom Hodgkinson. Aus dem Englischen von Yamin von Rauch. 222 Seiten. Hardcover mit Schutzumschlag mit Code zum einmaligen Download des E-Books für € 19,95. © 2013 Rogner & Bernhard, Berlin.

Pico del Veleta: Die Berghütte – Niederungen der bewohnten Welt

Augenblicklich ist mir der Wirt zuwider, der mir als cholerischer Machtmensch erscheint, obwohl er nichts tun wird, was dieses vorschnelle Urteil untermauern könnte. Ich gehe die Schritte von der Tür zur Theke und verabscheue das verlorene, schmuddelige Innere der Gaststätte. Als ich ein Getränk bestelle, verabscheue ich bereits die Bedienung und bemitleide sie zugleich, sie, die bei schönstem Wetter hier im Dämmerlicht unter der Ägide des Wirtes ausharren muss und trotz ihres langen blondierten Haares, ihrer aufreizenden Brüste und der sehr passablen Figur keine Schönheit kennt, vielmehr einer armseligen, ausgenutzten Schlampe gleicht – das i-Tüpfelchen auf dieser Gaststätte.

Ich verabscheue die wenig sauberen Klos, die mich eigentlich erst in dieses Lokal geführt haben, ich verabscheue zurück im Gästeraum die überteuerten Preise auf den Tafeln, die Auswahl der Getränke und schließlich die Qualität des Essens und, weil ich schon dabei bin, verabscheue ich nach der Flucht in den Hof auch die spärlichen Gäste dort, die mir nichts vorzuweisen zu haben scheinen, Menschen frei von jeglicher Attraktivität, jeglicher nach außen strahlender Intelligenz oder Sympathie, und natürlich denke ich mir, ich hätte all das vom ersten Augenblick an wissen müssen, als ich von draußen, wo Sportwagen mit gelben Kennzeichen standen – Gibraltarer auf Spritztour durch Andalusien, verabscheuenswürdig sicherlich auch sie, die mit tiefergelegten Flitzern ins Hochgebirge fahren –, die Coca Cola-Sonnenschirme und die grünen Plastiktische und die billigen Stühle mit Werbung darauf im Hof gesehen hatte.

Ich sitze in einem dieser Stühle, den Kopf abgewandt, und starre erschöpft empor zum Gipfel, der wieder so fern erscheint, schaue auf ihn wie auf einen Gegner, dem man sich eine erste Runde geliefert hat, und wünsche mich zugleich wieder dort hinauf, hinweg von diesen Niederungen der bewohnten Welt.