Hohenlohisches Itinerar

Flimmern über den Gleisen. Reicher Sommer, und sei’s nur heute.

*

LIMES steht auf dem Stein. Ich quere die unsichtbar gewordene Linie und betrete Barbarenlande. Über mir glüht die Sonne.

Die Stadtrandsiedlung ist neu, die zwei Reihen von Erdschüttungen an ihrem vorläufigen Ende schiere Blumenpracht: ein Paradies auf modernen Wällen.

An der baumbeschatteten Kreuzung eine Unsicherheit. Hunde bellen mich an. Ich schlage den falschen Weg ein, korrigiere mich nach einem Blick auf die Karte und mache kehrt. Die dicke Frau auf der Bank, an der ich eben noch fremd und schweigend vorüber bin, spreche ich nun an. „Da habe ich doch den falschen Weg genommen.“ Sie greift den Ball fröhlich auf: „Und das bei diesem Wetter!“ Große Traktoren, Mähmaschinen.

Unter der Autobahn hindurch. Das letzte Mal auf ihrer Fahrbahn über mir dürfte um 4 Uhr morgens nach einem langen Konzertabend in Nürnberg gewesen sein. Eine Band kündigte auf dem kleinen Progrockfestival einen Coversong von Kansas an und ich brüllte meine Begeisterung hinaus, als einziger im Saal. Die Rückfahrt eine Qual aus Müdigkeit und Winterregen, ich war sterbensmüde und wagte nur deswegen nicht, auf dem Beifahrersitz einzuschlafen, weil ich spürte, wie der Fahrer selbst mit seiner Müdigkeit kämpfte und kämpfte. Gemeinsam haben wir es geschafft.

Hinter der Unterführung Weinsbach, hübsch und beschaulich wie sein Name. Am Dorfende zwei Jungs vor mir, sie biegen ab zu einem Trampolin, werfen mir nur einen Seitenblick zu. Ich hätte sie gerne gegrüßt, aber zu rasch drehen sie dem Fremden wieder den Rücken zu. Auch der Mann an dem beschatteten Fischteich misst mich mit misstrauischem Blick. „Grüß Gott, falsch abgebogen“, sage ich und seine Hab-acht-Stellung wird zum Gönnertum: „Ja, das kommt vor.“

Nicht in die Allee mit den silbrighohen Bäumen hinein, sondern in einem Bogen den Hügel hinauf. Ein Moped überholt mich. Als ich die Kuppe erreiche, hat es bereits die folgende Höhe erklommen.

Gelbes Getreide (ich möchte gilbend schreiben, wie Lakritze es tut), goldenes Stroh, Baumreihen in den Tälern, im Blau des Himmels ein Raubvogel. Von den Kirschen am Wegesrand nasche ich eine, dann eine zweite nur und bete, der Besitzer möge die Früchte mit allem Ernst und aller Hingabe ernten und sie nicht etwa verkommen lassen, denn köstlicher als diese können Kirschen nicht sein.

Gehöfte, groß und steinern und einsam. So stehen ihre Namen auf der Karte: Haberhof, Göltenhof, Orbachshof. Dazwischen immer wieder ein Hungerberg. Gewellt ist das Land, ohne weite Sicht, hell und trocken und still. Provinz, ganz warm.

In der Senke eine Furt, klares Wasser strömt, erst auf den zweiten Blick sehe ich das Brücklein für Fußgänger zwischen den Büschen. Heu ausgestreut auf dem Weg hinauf auf den nächsten Hügel, der goldene Schnitt des Ackers führt direkt in den Himmel. An der Wegkreuzung ein Baum, eine Bank. Ein Auto irgendwo, kein Mensch zu sehen. Erhabenheit in kleinen Dimensionen, dem Menschen gerecht.

Die Mittagsstube des Hirschen ist voll besetzt. Der Duft von Sonntagsbraten und neugierige Blicke auf den schweißglänzenden Wanderer. An der Theke warte ich geduldig, ich zahle das alkoholfreie Weizen gleich, das Herbsthäuser schmeckt köstlich. Der Neunfingerwirt kommt aus der Küche, begrüßt Stammgäste, knüpft dann ein Gespräch mit mir an. Wenige gehen diesen Wanderweg, erzählt er in seinem westfränkischen Dialekt. Es ist halt doch nicht der, der … Er stockt, sucht nach einem Namen, als er nicht weiterkommt, helfe ich aus: „Der Jakobsweg.“ „Genau“, ruft der Wirt. „Und ich wollte schon sagen: Johannesweg! Das eine wie das andere.“

Im Tal dann eine neue Seite: Pfade durch den Auenwald. Fröhliches Kindergeschrei, ein Flüsschen, plantschende Menschen zwischen Bäumen.

Die Kupfer mündet in die Kocher, auch hier schwimmen Kinder im Gewässer. Eine Blaskapelle spielt auf der Uferwiese. Forchtenberg selbst, Geburtsort von Sophie Scholl, liegt im Mittagsschlaf, die Weinstube Winkler ist noch zu. Ich werde für sie einmal wiederkehren mit einem Freund aus der Region oder für den Freund wiederkehren zu ihr, irgendwann einmal.

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Diese Dorfbahnhöfe zwischen Einsamkeit, Flucht und Heimat. „Schön, dass du da warst.“ Und ein junger Mensch nickt unter seiner Sonnenbrille, packt seinen Rucksack und zieht wieder hinaus in die große Welt.

HohenloheHohenlohe_AckerHohenlohe_WaldHohenlohe_Forchtenberg

Tiroler Flaschenglas

Am Abend sind wir noch ins Tirol hinübergefahren. Am Ufer ist das Wasser des Plansees überwältigend klar, in der Tiefe wird es zu Flaschengrün, von der Sonne zu gletscherkaltem Smaragd veredelt. Auf den Campingplätzen am Nordufer wollte ich nicht Urlaub machen. Etwas eng ist es mir hier, auch weil die Berge bis hoch hinauf bewaldet sind. Es fehlen mir die offenen Grashänge der Allgäuer Alpen.

Zwischen Fichten und Kiefern umrunden wir den See. Muren ziehen sich die Berghänge herab, Steinwüsten für ein paar Dutzend Schritt. Die Wege müssen nach jedem Abgang neu gespurt werden. Am Hotel Forelle wirft der See seine Enge ab, nach drei Richtungen weitet sich die Sicht. Der kahle Rücken der Hochplatte lockt im Norden, gen Osten reicht der Blick ins Garmische hinüber und nach Südwest öffnet sich das Tal für den benachbarten Heitterwanger See.

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Das Wasser ist still. Der Kenner erzählt, dass es am frühen Abend immer so ruhig und glatt werde. An seinem geheimen Liegeplatz machen wir Rast. Einen Privatstrand durch Landgewinnung hat er hier geschaffen, vom Weg aus nicht einsehbar, eine Mauer aus Steinen geschichtet und das Neuland mit Strandkies aufgefüllt. Die Mauer hat den Winter überstanden, freut sich der Kenner und holt für jeden einen Rindslandjäger und eine Scheibe Brot heraus. Manchmal sind die Dinge so gut wie einfach.

Wie kalt das Wasser wohl ist? 17 Grad, ruft es vom Ufer. „Bei 17 Grad habe ich mein Freischwimmerabzeichen gemacht“, sagt jemand. Ich lege die Kleidung ab. 14 Grad, kommt eine Korrektur. Wenn ich das vorher gewusst hätte, wäre ich vielleicht nicht hinein. Das Smaragdwasser hat inzwischen seinen Glanz verloren. Nur eine Lichtschneise zieht sich hinüber zum Taleinschnitt, wo die Sonne an diesem zweitlängsten Tag des Jahres noch immer am Himmel steht. Dorthin schwimme ich ein Stück, es ist frisch, aber machbar, merkwürdigerweise am schlimmsten für die eigentlich doch abgehärteten Hände, sie werden als Erstes klamm. Ich wende. Gewässer, in denen nur ich alleine schwimme, sind mir nie ganz geheuer.

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Motorräder dröhnen auf der Straße am anderen Ufer, legen sich in die Kurven zwischen Reutte und Oberammergau, schnittige Wagen lassen die Motoren aufheulen. „Da schaut her, wie blöd die tun.“ „Die gehören eigentlich ausgesperrt.“ Friede kehrt erst mit der Stille wieder. Eine Nachbarin aus Kinderzeiten reicht mir einen Fruchtriegel und nennt mich spontan bei meinem einstigen Spitznamen. Ein warmes Gefühl steigt in mir auf.

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Dort, im Schatten des Tauern, zwischen Föhren und Sumpfgras, begegneten sich einmal zufällig zwei meiner Verwandten. Der eine war auf dem Heimweg von seinem Badeplatz am Plansee. „Und wohin gehst du?“, fragte er den anderen. „Nach Japan“, antwortete der. Ganz so weit kam er nicht. Als er zu Fuß in Istanbul eintraf, beschloss er, erst einmal genug gewandert zu sein.

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Das Sehnen der Welt – Eine Vermessung Oberschwabens (Teil 6)

Gewitter unser im Himmel, erlöse uns von der Schwüle.

Markdorf, eine Merkwürdigkeit. Die Bedienung im Gasthof, redselig, munter, ironisch, macht ihren eigenen Betrieb schlecht. Das Zimmer hat seine Eigenheiten, aber es hat auch Charakter, und das macht vieles wett: die merkwürdige Dusche mit Pumpe im Zimmer etwa, der furchtbar lange Weg über den Korridor zur Toilette, die verwinkelten Aufgänge, um das Zimmer überhaupt zu erreichen, das Knarzen von Jahrhunderten in den Dielen. Der Betreiber des Gasthofs ist nicht nur zugleich der Koch, sondern auch Romanautor, wie der Speisekarte zu entnehmen ist, den Titel finde ich aber nicht im Verzeichnis Lieferbarer Bücher. Auf den Platz zwischen Turm und Gasthof dreht alle paar Minuten ein Verrückter und schreit seine Verfolgungsfantasien hinaus ins Nichts. Die Nacht eine Qual, ein Sichwälzen im niedersinkenden Bett, Brunnenplätschern, Kirchturmschlagen, Nachtschwärmerrufe durch das offene Fenster, die schwüle Hitze mildert es nicht. Am nächsten Morgen erster im Frühstücksraum, eine offensichtlich etwas beschränkte Frau scheint von meinem pünktlichen Auftreten völlig überfordert, sie schiebt mit jedem Satz, bei jedem Handgriff schnaufend, klagend, eine Bugwelle aus Selbstmitleid vor sich her. Ich demonstriere Geduld und Gelassenheit und gewinne damit die Frau. Gleich mehrfach möchte sie mir vor Erleichterung den Orangensaft wieder aufgießen.

Mittags stehe ich am See. Eine frische Brise weht über das Wasser. Es fehlt nur das Salz für den Geschmack von Meer, aber auch so schenkt der Wind eine belebende Frische, trägt ein Versprechen von Ferne mit sich. Der Brunnen draußen in der Bucht stößt weite Fontänen aus, ein feiner Gischtschleier wird von der Brise bis ans Ufer getragen. Am Gerüst dieses Brunnens hängt eine Wassernixe, eine junge Frau mit hochgestecktem Haar, eine Verlockung in den Wellen. Gerne wäre ich auch dort drüben, bei der Nixe oder meinetwegen auch ohne sie, möchte dort hinausschwimmen, unter der weißen Gischt der Fontänen hindurch. Und so stehe ich an meinem Ziel und will doch weiter, immer weiter, ich schaue hinaus, auf der Suche nach dem Glück, und ich sehe, wie sich die Nixe löst und mir entgegenschwimmt, ich rieche den Wind und die Ferne, die Lockung des gegenüberliegenden Ufers und das Land dahinter und die Pässe weit in den Süden, und die Nixe kommt näher und näher und erhebt sich vor mir aus dem Wasser und schreitet langsam Stufe um Stufe empor.

Bodensee_HW7_Wandern_Schwäbische Alb-Oberschwaben-Weg

Der seit Tagen versprochene Sturm kommt, als ich später, im Bayerischen schon, endlich im Wasser bin. Die Sonne steht über einem bleiernen, alles verschluckenden Himmel. Das Wasser ist von der Farbe stumpfen, abgeschliffenen Flaschenglases, am Ufer brechen die Wellen weiß. Drehe ich mich aber der Sonne zu, ist da nur noch ein Keil aus blendendem Licht vor einer Wand aus Blei. Ich schwimme in diesen Keil, schwimme gegen die Wellen, hinaus, dem Licht entgegen, immer weiter in das Licht hinein. Ins Licht.

Dann bin ich plötzlich Angst und ich drehe bei. Welle auf Welle rollt unter mir hindurch und eilt mir davon und der Strand kommt nicht näher.

Grizzly Adams – Eine Vermessung Oberschwabens (Teil 5)

Gestern Abend: das Gefühl umfassender Sinnlosigkeit. Heute Morgen: heitere Aufbruchsstimmung. Dazwischen: nicht zu stillender Durst.

Die Schlange vorm Bäcker ist mir zu lang, um mir eine Brotzeit und eine Reservewasserflasche zu kaufen, also verlasse ich Ilmensee nach Westen. Über goldstoppelige Äcker mit gerollten Strohballen geht es auf den Höhenzug, dort einen buschumwachsenen Pfad entlang, an einem Feld vorüber, in den Wald hinein. Das Album „Songs from the Wood“ von Jethro Tull wäre, denke ich mir, die ideale musikalische Entsprechung zu dieser Wegstrecke. Aber ich habe keine Musik bei mir. So unverzichtbar, ja lebensnotwendig Musik für mich im Alltag ist, habe ich sie kaum auf Reisen dabei und gewiss nicht beim Wandern, sicherlich auch deshalb nicht, weil ich Kopfhörer noch nie gemocht habe. Meine Ohren mögen das nicht.

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Songs from the Wood

Im Buchenwald ist es ruhig und dämmerig, fast noch verschlafen. Die Sonne fällt flach auf das Blätterdach, manchmal, wenn der Hang zur Linken besonders steil aufragt, verschwindet sie ganz. Die Vögel sind zurückhaltend, gelegentlich gluckert ein Bächlein, ein Reh scheut. Sehr still und sehr flott geht es voran auf diesem Weg auf halber Höhe. Um nicht eintönig zu werden, fällt er gelegentlich über eine Abzweigung ab und steigt wieder empor, wo man vermutlich auch einfach hätte geradeaus gehen können. An den Bäumen hängen Waldreben, die wir als Kinder unter dem Einfluss der Tarzan-Romane von Edgar Rice Burroughs, die der Vater der Familie vorgelesen hatte, Lianen nannten, die aber ansonsten ganz allgemein und wie selbstverständlich „Judenstrick“ hießen. Irgendwann war mir der geläufige Name in seinem Wortsinne gegenübergetreten und schlagartig fürchtete ich eine nicht bösartige, aber in größter Gedankenlosigkeit tradierte antisemitische Bezeichnung und legte mir selbst Etymologien zurecht, schloss auf die einst zahlreichen jüdischen Viehhändler, denen womöglich aus reiner Gehässigkeit unterstellt worden war, die Clematis aus dem Wald zu verwenden statt ordentlicher Kälberstricke. Erst viele, viele Jahre später, tatsächlich erst, als ich nach meiner Wanderung dem Wort nachging, erfuhr ich, dass die Wahrheit eine ganz harmlose ist, der volkstümliche Judenstrick sich vom Jutenstrick nämlich ableitet. War ich hier ein Fall dieser typischen deutschen Selbstvorverurteilung geworden? Keineswegs. In den 80er-Jahren noch gang und gäbe und vermutlich bis heute nicht verschwunden ist in Süddeutschland der „Judenfurz“ als Bezeichnung für den Chinakracher, diesen kleinsten der Sprengkörper für Silvester.

Gleich nachdem mir die ersten Wanderer an diesem – oder gar der ganzen letzten? – Tage entgegenkommen, zeigen sich zum ersten Mal durch den unentwegten Dunst hindurch die Alpen. Dann biegt der Weg scharf ab ins Tal, mitten durch den Hof einer Einöde. An solchen Orten ist mit Hunden zu rechnen – und ich meide Hofhunde, wo es geht, aber was hilft es, ich muss da hinunter –, und tatsächlich, da ist ein freilaufender Hund, der gerade im Stall oder der Melkkammer verschwindet. Erleichtert bin ich, gleich Menschen zu sehen, denn wann immer auf Wanderungen Hunde ernsthaft aufdringlich geworden waren, waren Menschen in der Nähe, die sie zurückpfiffen. Eine krumme, alte Bäuerin muss mich gesehen haben, sie geht zur Tür, hinter der der Hund eben verschwunden ist, und schließt sie mit einer ganz beiläufigen Bewegung. Danke, gute Frau, wir verstehen uns. Ein Traktor versperrt mir die Sicht auf den Weg, bevor ich suchen kann, wie herum ich mich wende, weist mir die Bäuerin die Richtung. Ihr rotbärtiger Sohn schaut grimmig, aber er erwidert meinen Gruß.

Unten im Weiler Ellenfurt rauscht der Bach, die wenigen parkenden Autos haben fremde Kennzeichen, eines ist bis aus Berlin gekommen. Nach Überquerung der Talstraße geht es sofort wieder hoch auf den nächsten Höhenzug. Was bis eben ein milder Sommermorgen war, ist nun drückend und heiß. Ich keuche den gewundenen Weg empor, ein dünner Schweißfilm steht mir auf den Armen, der Gaumen zieht sich vor Durst zusammen. Tränke ich nun, würde sich der Wasserfilm auf meiner Haut binnen Augenblicken vervielfachen. Schön ist der Weg aber, das wissen auch andere, wie die Sprungschanzen von Mountainbikern zeigen, auch Pferdeäpfel liegen da. Oben dann, auf der Ebene, knallt die Sonne auf die Rodung, ein Hase hoppelt, der Geschmack im Mund wird metallisch und ich habe, als ich aus dem Wald trete, zum ersten Mal Sicht auf den Bodensee, seinen nördlichen Ausläufer.

Oberschwaben_Bodensee_Wandern_HW 7

Hinter der Höhe der See

Fast hätte ich eine kleine Abkürzung genommen, um das, was auf der Karte ein paar hundert Meter über die Kuppe führt und dann im spitzen Winkel zurück zum Wald, zu schneiden. Ich hätte einen der lauschigsten Flecken überhaupt verpasst. Erst geht es über das Feld; dann eine Hohlgasse hinab – einen schmalen Pfad für Mensch und Tier, die steilen Böschungen von Haselsträuchern gesäumt, das Licht gedämpft, schöner kann ein Weg kaum sein; und schließlich das Dörfchen Betenbrunn, beherrscht von seiner barocken Wallfahrtskirche, die einen Kreuzweg mit fünfzehn Stationen auf allerengstem Raum unterbringt (ob die Gläubigen auf Knien rutschen, damit er nicht gar zu schnell zu Ende ist?); die Häuser hübsches Fachwerk mit Vorgarten; ein Dorfbrunnen plätschert unter einer ausladenden Baumkrone, eine Frau füllt die Gießkannen für ihren Garten auf; sogar ein Gasthaus hat das Dörfchen und nur die Fahne der Brauerei hält mich davon ab, hier einen Halt für ein alkoholfreies Weizen einzulegen.

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Wallfahrtskirche Betenbrunn

Bald geht es steil hinab, sehr, sehr steil, vorbei an einem Alpaka-Paradies mit seinen nervösen Langhälsern, vorbei an einem wachsam-braven Hund, ganz pflichtvergessen und gutmütig zugleich, ein zweiter, kleiner, alter Hund nimmt all seinen Mut zusammen und übernimmt kühn die Aufgabe, mir bellend Geleit zu geben. Durch Lellwangen, irgendetwas erinnert vage an Bilder aus Mexiko, vielleicht nur der Schwung dieser Bögen dort oder die Farbe des Anstrichs, zwischen flimmernden Äckern hindurch zum Pfad mit seinen schwärmerisch-esoterischen, dem „Sonnengesang“ Franz von Assisis nachgeformten Bildstöcken, auf denen der Herrgott und die vier Elemente ihre Verehrung finden.

In der Mittagsglut irre ich durch Untersiggingen, passiere den kleinen Markt in der Hoffnung auf einen Biergarten oder eine Terrasse vor einem Gasthof. Die Gaststätten haben alle zu, ich kehre um, suche den Markt nochmals auf, auch er hat inzwischen geschlossen, nur Autos durchfahren den Ort auf der Suche nach Irgendwo. Am Ende eines Doppelkreisverkehrs finde ich eine Tankstelle, greife gierig nach zwei Flaschen aus dem Kühlregal. Die junge Verkäuferin mit den langen Fingernägeln schaut, als würde sie nicht oft einen Menschen wie mich sehen, ihr Make-up wirkt deplatziert, falscher Glanz auf verlorenem Posten, ich habe Mitleid mit ihr, es muss die Hölle sein hier. Ich fliehe aus dem Ort, keuche einen Berg empor, wie sich das zieht, lasse mich auf der ersten Bank auf dem Höhenzug nieder, wo ich Party mache, ich und die beiden Flaschen und die gierigen Wespen im Fallobst. Eine Flasche leere ich auf einen Zug, die zweite in kleinen Schlucken. Eine halbe Stunde später, als ich durch eine Armee von Apfelbäumen schleiche, habe ich schon wieder Durst.

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Erntezeit

Den Gehrenberger Aussichtsturm muss man übrigens nicht im ersten Anlauf schaffen. Man wendet der luftigen Stahlfachwerkkonstruktion einfach für ein paar Minuten den Rücken zu, wartet, bis die lärmende Besuchergruppe abgezogen ist, isst einen Fruchtriegel und nimmt dann einen zweiten Anlauf, beide Hände immer schön am Geländer und den Blick nie nach unten gerichtet. Die Belohnung ist ein fantastischer Ausblick – über die Baumwipfel hinweg – über fast den gesamten Bodensee. Das Land unter mir aber ist ein ganz anderes als in den letzten Tagen, es ist eine Ferienlandschaft, das sieht man schon vom Turm aus. Spaziergänger kommen gruppenweise den Berg empor, die Menschen stören mich. Ich spüre, wie ich die einsamen Stunden genossen hatte; und die einzelne Begegnung hatte mehr Gewicht. Hier sind wir alle nur noch anonyme Masse. Mir ist es zuwider. Und ich steige weiter hinab und will doch zurück, dorthin, wo die Menschen rar waren und die Landschaft weit, steige grimmig ab und ein bisschen verwundbar, gerade so, als wäre ich ein Mann aus den Bergen.

Plutarch am Ilmensee – Eine Vermessung Oberschwabens (Teil 4)

Die Wirtin lässt Grüße ausrichten an die Wirtsleute meiner nächsten Station. Das gefällt mir, das würde ich gerne öfter machen: den Tag lang durch die Gegend wandern, um Grüße auszurichten.

„Die Porträtmaler suchen die Ähnlichkeit aus dem Gesicht und den Zügen um die Augen zu gewinnen, in denen sich der Charakter darstellt, und schenken den übrigen Körperteilen weniger Aufmerksamkeit. In entsprechender Weise muß man es auch mir gestatten, daß ich mich mehr mit den kennzeichnenden seelischen Zügen befasse und daraus das Lebensbild eines jeden zeichne. Die großen Heldentaten und die Schlachten aber überlasse ich anderen.“ (1)

Zwischen zwei bewaldeten Höhenzügen liegt der Ilmensee, ein Relikt der Eiszeit mit einer Nord-Süd-Ausdehnung von etwa einem Kilometer. Steinzeitmenschen hatten an seinem Ufer Pfahlbauten errichtet, im 20. Jahrhundert war er vor Renaturierungsmaßnahmen ein Sammelbecken für Phosphor und andere Rückstände aus Landwirtschaft und Abwässer. Auf seinem Grund liegt eine Kirchglocke aus dem Dreißigjährigen Krieg, versenkt vor den anrückenden Schweden.

An seinem nördlichen Ende liegt das Dorf Ilmensee, dazwischen Uferbäume, ein Schilfgürtel und ein Freibad, dessen Wiese sich am Ostufer weit nach Süden erstreckt und in Bootsanlegestellen übergeht. Auf dieser Wiese liege ich auf meinem Allzweckschal, ein gelbes Reclambändchen des antiken Biographen Plutarch neben mir, und schaue auf den Ilmensee. Sein Wasser gleicht einer flirrenden Fläche in steter Bewegung – ein Spiel aus Licht und Schatten, dort dunkler, wo Bäume ihr Spiegelbild auf den See hinauswerfen. Wo Menschen schwimmen, entzündet sich das Wasser in weißem Licht. Noch die kleinste Bewegung zaubert Licht, der Glanz umgibt die Menschen, als wären sie, vom See reich beschenkt, höhere Wesen. Bewegt sich der Körper, folgt ihm ein Schweif aus Licht. Es ist eine vollkommen gewöhnliche Angelegenheit und trotzdem, versenkt man sich in diesen Anblick, eine Erscheinung von äußerster Schönheit.

Oberschwaben_HW 7_Wandern

Landschaftlich ist die Etappe von Altshausen nach Ilmensee die vielleicht schönste auf meinem Weg durch Oberschwaben. Die Hügel recken sich höher, die Häuser tragen bunte Farben, alles wagt hier ein wenig mehr. Ein Weiler wie Mauren stellt die perfektionierte Werbung für ein idyllisches Landleben, ohne das zu wollen, denn wer verirrt sich schon dorthin, um den man werben wollte. Einmal auf einer Landstraße ein paar Radfahrer, sonst bin ich allein unterwegs. In Unterwaldhausen stehen drei Männer um eine Landmaschine auf dem Feld. Der mir Nächste, den Oberkörper frei in der Augustsonne, blickt den Fremden unsicher an – unsicher immerhin, nicht misstrauisch wie schon so oft auf dieser Wanderung beschrieben. Ich grüße ihn, mache eine scherzhafte Bemerkung und schon bin ich im Gespräch. Ganz von selbst bin ich in meinen Dialekt gefallen, es fällt mir leichter, je weiter ich nach Süden komme. Zu den Menschen ist er eine Brücke.

Trotzdem bin ich nicht ganz hier. Mein Körper geht, er findet inzwischen von selbst sein Tempo, seinen Rhythmus. Die Gedanken aber schweifen ab, sie sind fahrig, die Sinne richten sich nach innen. An diesem Tag schreibe ich kein einziges Wort auf meinem Weg ins Notizbuch. Verfalle stattdessen in Fantasien, während ich zwischen einsamen Kornfeldern von Hügel zu Hügel wandere, in Endzeitbilder. Monströsitäten aus einer Serie, die ich während einer Erkältung in der dunklen Jahreszeit in mich aufgesogen habe, erheben sich aus ihren Gräbern und Zombies treten aus den Wäldern, um mich zu jagen. Die Apokalypse der Untoten hat sich offenbar ins Bild des Wanderers im 21. Jahrhundert eingeschrieben. Wer sonst sollte allein über menschenleere Straßen ziehen als der Überlebende des zivilisatorischen Zusammenbruchs?

Oberschwaben_HW 7_Wegkreuz_Wandern

Als ich ins Wasser steige, wird das Licht zu moorigem Grün. Das Wasser ist angenehm warm und es ist eine Lust, sich dem Nass hinzugeben, sich tragen zu lassen, hinauszuschwimmen. Es ist das erste Mal in diesem Jahr, dass ich in einem See (und nicht einem Freibad oder immerhin einem Weiher) schwimme. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wann ich das zuletzt gemacht habe. (Und im Meer? Wann bin ich das letzte Mal im Meer geschwommen?) Es verstört mich. So sollte das Leben nicht sein. Warum tue ich nicht mehr, warum tue ich nicht alles, um das zu ändern?

Zwei überdrehte junge Lesben, jede ihrer Gesten hat etwas Überzeichnetes, küssen sich auf halbem Weg ins Wasser. Eine Junge mit Windpockennarben an den Armen ist ganz aufgeregt: zwei Frauen, die sich küssen! Ach, Junge, du wirst noch viel lernen müssen. Unterschiedlich die Reaktion seiner Großeltern. Für ihn hat die Beobachtung nicht mehr Relevanz, als dass sich eben zwei Menschen küssen. Sie ist aufgestört. „Etwas ungewöhnlich ist das doch!“, sagt sie, in genau diesen Worten. Die Stadt ist fern. Für einen Augenblick vermisse ich sie.

Im Norden ziehen reinweiße Wolken vorüber, aufgebauscht, wie aufgesprüht am Himmel, man möchte hineinbeißen in diese Köstlichkeiten. Morgen würde es gewittern, heißt es seit Tagen. Heute aber heißt es erst einmal, den restlichen Tag zu genießen. Und den Beinen Ruhe zu gönnen. Sie schlagen sich gut: Füße, Beine, Gelenke, ich bin erleichtert, wie wenig sie schmerzen. Aber wie sie nur aussehen! Voller Macken aus den letzten Monaten, dort die Striemen der Brombeerranken im Pfälzer Wald immer noch zu sehen, hier die dunklen Scharten im Schienbein, als ich nächtens, den Blick aufs Smartphone geheftet, gegen einen Betonpoller gelaufen bin, rote Schwellungen, wo mich Bremsen gestochen haben, ein Hitzeausschlag, wo Stoff und Schweiß zusammenkommen, und eine Wolf vom ersten Wandertag, der mich jeden Abend zwingt, das Blut aus der Hose auszuwaschen. Immerhin, sie haben ein Leben, meine Beine.

Am späten Nachmittag liegt die Gluthitze schwer auf dem Dorf. Es ist der heißeste Tag in 2015. Die Messinggriffe der Kirchtür sind sengend heiß. Über dem Garagentor des Pfarrhauses hängt groß der Gekreuzigte. Gegenüber spielt jemand auf der E-Gitarre, langsam und träge fließen die psychedelischen Wiederholungen über die Straße. Gerne würde ich mich mit einem kühlen Bier auf die Terrasse des Hauses setzen und mich treiben lassen von den Klängen. Am Eck ein Kaugummiautomat mit vier befüllten Behältern, einem Relikt aus den 80er-Jahren gleich, aber der Einwurf ist sauber auf Cent und Euro beschriftet. Hier lebt eine Vergangenheit weiter und ohne dem Fremdenverkehr wäre dieses Dorf zwischen den beiden Höhenzügen längst tot, wäre da kein Blumenladen, in den eben die Auslagen aus Blütenpflanzen und Kirschfrüchten ins Haus geräumt werden, wäre da keine Dorfbäckerei mehr, hinter deren Scheiben Licht brennt, ohne die Feriengäste stünden da an der Hauptstraße nicht gleich drei Gaststätten, würde es kein Dorfcafé geben und keine Saufhalle mit Chicken Wings aus Geflügelmassenvernichtungsfabriken, keinen Allgäuer Beef-Abend, der wenig mit dem Allgäu zu tun haben dürfte, nicht den Pizzaservice mit den indischen und thailändischen Gerichten versteckt hinter der Bankfiliale. Vielleicht nicht einmal das Bett, in dem ich heute Nacht schlafen werde.

In der Abenddämmerung folge ich dem Lehrpfad rund um den See. Ich lese alle Tafeln. Den Hinweis auf einen Haifischzahn, mit dem ein Schild vor dem Freibad wirbt, finde ich nicht.

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(1) Plutarch: Alexander. Caesar. Übersetzt und herausgegeben von Marion Giebel. Stuttgart 1980. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 1990, S. 3.

Lob des Altshauser Weihers – Eine Vermessung Oberschwabens (Teil 3)

„Der Herrgott muss ein Mann sein, dass er Wespen geschaffen hat, denn eine Frau würde so etwas nicht erfinden“, sagt die Wirtin in ihrer Mundart. Dass das logisch betrachtet noch ein paar andere Schlüsse zuließe, spreche ich lieber nicht aus.

Reden wir nicht über Verkehrsführung, beispielsweise. Nicht über die lärmende Bundesstraße, deren Streckenführung auf meterhohem Beton einer Vergewaltigung des Ortes gleichkommt. Nicht über die Rohheit des Stammtisches (in einem Ort, in dem übrigens die ÖDP bei der letzten Kommunalwahl wenigstens einen Sitz erhalten hat, Grüne und SPD im Gemeinderat aber gar nicht vertreten sind). Nicht über die Einsamkeit des arabischen Flüchtlings auf der Bank. Nicht über die brabbelnden Alkoholiker auf der Grünfläche. Im Übrigen auch nicht über das Schloss, in dem der Herzog von Württemberg residiert. Reden wir über den Weiher der Gemeinde Altshausen.

Der „Alte Weiher“ bildet, um im Erfahrungsmuster des katholischen Oberschwabens zu bleiben, den Höhepunkt eines Kreuzweges, den Kalvarienberg meiner Wallfahrt freudiger Weltbejahung. Erreicht man gegen Ende eines langen Wandertages nach Hirschegg das lieblichste Wegstück der Etappe – über Hügel so sanft geschwungen, dass sie das Auge erfreuen, die Beine aber nicht ermüden, auf Kiespfaden an die Hecken gelockt mit ihren prallen, dunkelblauen Schlehen, dem saftigen, schwarzviolettem Holunder, rot leuchtenden Vogelbeeren –, zeigt sich der Weiher zum ersten Mal, entlarvt sich seiner Glätte wegen, einer Fläche viel zu eben für festes Terrain. Die Fläche glitzert und der Schritt beschleunigt sich noch einmal.

Über eine lange, sehr lange Birkenallee ist es mittags aus Bad Saulgau hinausgegangen zur St. Wendelinskapelle und weiter zum Dorf Sießen mit seiner imposanten Klosteranlage samt Barockkirche. Das müsste man sich eigentlich ansehen, aber ich bin ja gerade erst von der Mittagsrast aufgebrochen und habe noch reichlich Wegstrecke vor mir, da fehlt mir die rechte Muße zur Besichtigung. In Waldfluren führt mich der Nachmittag, durch eine Wiederaufforstung, schließlich an einem Golfplatz ohne einer Menschenseele vorbei geht es hinauf nach Heratskirch, wo hinter dem Pferdehof die Rhein-Donau-Wasserscheide verläuft. (Einer Wasserscheide entlang zu wandern, das wäre auch einmal ein Projekt.) Auf der Bomser Höhe öffnet sich die Landschaft weit nach Süden. Die Alpen sind auch heute im Dunst verborgen. Das Dörfchen Boms ist unerwartet rege, viele Menschen sind an diesem Spätnachmittag zu sehen, sie werkeln, organisieren, schwatzen, ja sie grüßen auch den fremden Wanderer und einer von ihnen spricht Bairisch. Wie sehr sich Boms von Bondorf unterscheidet, und beide sind sie Bad Saulgau so nah.

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Blick nach Süden.

Freundliche Bäume, verspieltes Schilf begrüßen mich in der Senke. Einst zog sich der Alte Weiher, 1276 vom Deutschen Orden angelegt, noch tiefer in das Tal hinein. Heute beträgt er nur noch einen Bruchteil seiner einstigen Größe und nur der südöstliche Teil ist freie Wasserfläche, der Rest von Pflanzen bewachsen. Parallel zum Ufer verläuft ein Grasweg – die reinste Wohltat für die Füße nach 30 Kilometern Marsch –, an Grauweiden, Schwarzerlen und Birken vorbei, entlang der ehrwürdigsten Eschen, die man sich nur ausmalen kann, der Stamm so dick, dass es zwei, gar drei Erwachsene bräuchte, den Baum zu umfassen. Als sich die Wasserfläche öffnet, dringt von drüben das ausgelassene Geschrei von Kindern herüber. Die ersten Häuser stehen direkt am Wasser, auf dem Rasen dazwischen sitzt eine Bewohnerin in einem Liegestuhl, ein Buch in der Hand. Sommerleben in Altshausen.

Mein Gasthaus ist rasch gefunden, das Fenster des Zimmers lässt einen Blick auf den Weiher zu und fünf Minuten später bin ich im Freibad und tauche ins Wasser ein. Es ist eine Erlösung nach dem Marsch in Gluthitze. Gerade recht ist die Temperatur des moorigen Wassers. Man darf sich nur nicht daran stören, dass bisweilen Pflanzen an den Beinen kitzeln – ich zucke dabei immer zusammen, habe das nie gemocht, obwohl ich es aus Kinderjahren her kenne – , auch daran nicht, dass irgendwo unter einem Hechte schwimmen und der Weiher vermutlich eine Legion von Blutegeln beheimatet. Gesehen habe ich keinen.

Ländlichkeit und Moderne begegnen sich im Strandbad von Altshausen. Ein richtiger Sandstrand ist angelegt mit Rutsche, Spielplatz, Schwimminsel, Kiosk … Apfelbäume bieten Schatten auf der Liegewiese. Wer hier ruht, kann Newtons Schlüsselerlebnis nacherleben. Auf dem Rasen liegen ein paar Äpfel verstreut, neben dem Eingang, wo es sich der Kassierer und Bademeister – braungebrannt in Badehose – in einem Strandstuhl bequem gemacht hat, steht ein Eimer, halb gefüllt mit Äpfeln. Eine Gelassenheit liegt über allem, hat man erst einmal das Schild am Eingang passiert, das dem Bademeister das alleinige Recht zur schlechten Laune zuspricht. Die Kinder ziehen sich im Kreis ihrer Familien ganz ohne Scham auf der Wiese um – hier ist die überbordende Angst des 21. Jahrhunderts noch nicht angekommen, die Eltern ihre Kinder nicht mehr im eigenen Garten nackt spielen lässt. Die Menschen kennen sich, ihr Gang ist entschleunigt, einer fragt: „Und muasch hoit wieder nach Stuagatt hoim?“ „Noi, noi“, antwortet der Befragte. Die Landeshauptstadt ist weit weg. Noi, noi, spreche ich stille nach und lächle in den Sommerhimmel.

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Abend überm Alten Weiher

„Das tat ich für dich!“ – Eine Vermessung Oberschwabens (Teil 2)

In der Morgensonne machen sich bereits Besucher auf den Steg ins Herz des Federsees auf oder warten vor dem Museum, radeln dahin oder sitzen vor dem Eiscafé. Wandert man aus Bad Buchau hinaus, wird es aber sehr schnell ruhig. Auf Stunden werde ich auf den Wanderwegen niemandem begegnen. Stille liegt über den Wegkreuzen, nur ein Raubvogel zirkelt über dem Mais, weißer Kopf, roter Schwanz, ein Rotmilan, vermute ich, ohne es wirklich zu wissen. Das erste Waldstück zeigt sich licht, sein Untergrund besteht aus grünem Gras, büschelweise legt es sich auf die eine oder andere Seite. Diese Wegstrecken sind heiter wie die Wälder von Asterix und Obelix, nur dass hier statt endloser gallischer Eichen ein paar Buchen und Pappeln stehen. Am Waldrand zittern Espen.

Oberschwaben_Sommer_Wald

Weggefährten

Was für eine Gnade, an einem Donnerstagvormittag über menschenleere Waldwege gehen zu dürfen! Aber recht bald wird es mir doch langweilig. Die Waldflecken sind hier nie sehr groß, aber solange man sich auf Forstwegen bewegt, schweift das Auge nicht weit. Nicht jeder Wald hält den Reiz des Schauens lange aufrecht. Muss man diesen hier gesehen haben? Nein, muss man nicht. Dafür gibt es interessantere Regionen.

Die Landschaft ist wie gesiegelt von Kruzifixen; wo sie nicht stehen, ist nicht menschengestaltete Flur, sondern das Land der Füchse, der Wildnis, sofern dieses Wort hier überhaupt noch irgendeine Bedeutung hat. Manchmal ist das Wegkreuz zu wenig, dann strukturiert eine Kapelle den Horizont vor dem nächsten Waldsaum. Die winzige Bruckhofkapelle am Grundstück „Mördergässle“ ist kaum mehr als eine überdachte, offene Nische, ein Kniebrett fürs Gebet vor dem vergitterten Votivrelief, links und rechts geben Tafeln Erläuterungen. Gestiftet wurde die Kapelle für zwei Schwestern, die ins Kloster gingen und beide noch in jungen Jahren an einer Lungenkrankheit siechten. Das Leben von Maria Xaveria und Maria Nepomuciama, so die Ordensnamen der Frauen, rettete die fromme Stiftung nicht. Vielleicht, das mag von vornherein kalkuliert worden sein, wenigstens ihr Seelenheil.

Oberschwaben_Wandern_Landschaft_Bondorf

Schwung

Kurz hinter der keltischen Viereckschanze aus der La-Tène-Zeit – „vermutlich ein Kultplatz“, wie alles, was nicht gleich zuordenbar ist, gerne mal kultisch ist – liegt Bondorf ausgestreckt, lauschig und sehr verschlafen. Das Mädchen, das aus einem Haus tritt, weicht meinem zum Gruß bereiten Blick aus, die Katze rennt davon, der Bauer bleibt auf mein „Grüß Gott“ hin stumm. Das schöne Dorf mit seiner Bilderbuchkulisse – rätselhaft hängt das Schild einer Buchhandlung in Frakturschrift über einer Holztür mit einem aufgenagelten Schweinchen – wächst am Rand, zur Ebene gen Bad Saulgau hin, und verliert hier seinen ganzen Charme.

Es ist drückend heiß, über Kopf und Schultern habe ich meinen syrischen Schal – ein wirklicher Allzweckgegenstand – gebreitet und ich mache an einem schattigen Wegkreuz nochmals eine Rast für ein paar Schluck Wasser und einen Blick auf die Karte, obwohl die Silhouette von Bad Saulgau schon zum Greifen vor mir liegt. „Das tat ich für dich! Was tust du für mich?“, mahnt die Inschrift unter dem Gekreuzigten. Ja, das können sie gut, die Pfaffen und die ‚Bigotten‘, wie mein Großvater sie genannt hätte – den emotionalen Druck hochhalten! Und wie mir sofort alles wieder zuwider ist: die harten Kniebänke in den Kirchen, auf die sich die Kinder im Gottesdienst niederzulassen hatten, das Niederknien beim Betreten der Kirche und dem Kreuzeszeichen vor dem freudlosen Gesicht, überhaupt diese Leidensgesichter, nein, Freude war nicht gewollt, die derbe Lebensfreude feierte man außerhalb der Kirche, in ihr aber griesgrämige Gesichter, neidische Mienen, strafende Blicke, brüchiger Altweibergesang, salbungsvolles Schwadronieren, aber Lust und Freude, nein, nicht unter dem Zeichen des Gekreuzigten, und dann die Beichte, oh mein Gott, was für ein Unsinn, wenn Heranwachsende dazu verdammt werden, mit gebeugtem Haupt etwas gestehen zu müssen, leiden zu müssen für eine Schuld, obwohl es da vielleicht gar nichts gibt, wofür Schuld zu tragen gerechtfertigt wäre, welche Sünden denn, und überhaupt das Wort Sünde, da kommt es mir schon hoch, immerzu nur Schuld, Schuld, Schuld!

Grimmig setze ich mich auf die Bank auf der anderen Seite des Baumes, der das Kreuz beschirmt. Wer auch immer diesen Platz beehrt hat, er kümmerte sich nicht um feinere Dinge. Die Bank ist mutwillig beschädigt, verschmutzte Taschentücher liegen herum, Blätter von Maiskolben sind ringsum verstreut. Rebellion gegen diese Kultur der Schuld oder schlichte Ignoranz?

Oberschwaben_Bad Buchau_City of God_Graffiti

Fortführung des Barock mit anderen Mitteln?

Im Städtchen Bad Saulgau treffen sich die Oberschwäbische Barockstraße, die Deutsche Fachwerkstraße und die Schwäbische Bäderstraße. Um diese Kulturgüter zu würdigen, müsste ich länger verweilen, und wohl nicht zuletzt deshalb schlägt der Hauptwanderweg 7 den Ort als Etappenziel vor. Ich werde nur eine Rast machen und dann weiterziehen, denn es ist erst Mittagszeit und mir würde es langweilig werden den restlichen Tag, Kultur hin oder her. An der Straßenkreuzung zur Innenstadt – die Ampelmännchen sind aus Ostdeutschland aufgekauft – verkündet eine Steinstele stolz, dass Bad Saulgau 1299-1806 österreichisch war. Die Stadt gehörte zum Bund der fünf „Donaustädte“ (die keineswegs alle an der Donau lagen), die zusammen mit einigen weiteren oberschwäbischen Ortschaften über Jahrhunderte einen Teil Vorderösterreichs bildeten. Damit waren diese Städte sehr viel länger Teil Österreichs als sie seither württembergisch sind.

Ich bin unentschlossen, an welcher Gaststätte ich Mittagspause mache, kehre schlussendlich zur ersten zurück und ärgere mich sofort über die Wahl. Ich sitze nämlich noch nicht einmal, schon steht die Kellnerin neben mir und will, wenn nicht gleich das Essen, so doch wenigstens die Getränkebestellung aufnehmen. Ich lasse mich ungern drängen, erst recht nicht, weil ich immer gerne schaue, ob ein Gasthaus ein besonderes Getränk auf der Karte führt, mich zu überraschen weiß. Leider bin ich nicht geistesgegenwärtig genug, mir freundlich und bestimmt mein Recht (und also eine Atempause) zu verschaffen und so geht nach einem eher umständlichen, fast gereizten Austausch, den ich so nie beabsichtigt hatte (denn ich will ja kein schwieriger Gast sein), die resolute Frau mit meiner Getränkebestellung hinfort.

Das Bier, nein, es hat nicht geschmeckt und ich verlasse Österreich wieder gen Südwesten.

Oberschwaben_Wandern_Sommer_Himmel_Getreide

Unter dem Himmel Oberschwabens

Gold – Eine Vermessung Oberschwabens (Teil 1)

Dass ich meine Wanderung durch Oberschwaben in einem ICE beginnen würde, überraschte mich selbst. So viel also zum Thema Entschleunigung. Die Realität war aus dem Zug hinausklimatisiert, vom Land da draußen gab es nur verschwommene Fernsehbilder durch die Fensterscheiben. Etwa dort, wo ich im Juni meine Flucht über die Schwäbische Alb abgeschlossen hatte, knüpfte ich im August meine fünftägige Durchquerung des schwäbischen Oberlandes an. Es würden die heißesten Tage des Jahres werden. Davon ließ der wolkige Morgen noch wenig ahnen.

Zwiefaltendorf_Fest_Landleben

Sommer in Oberschwaben

Zwiefaltendorf, die „Idylle an Ach und Donau“. Ein Schloss steht an der Donaubrücke. Auf dem Turm des sehr aufgeräumten, hübschen Kirchareals nisten Störche, gegenüber „Im Gäßle“ plätschert ein Brunnen vor einem strahlend blau gestrichenen Häuschen. An der Front steht um das Gesicht unseres Gestirns geheimnisvoll die Parole „Die Wahrheit liegt im Sonnenaufgang“.

Die monströse Hupe eines Lastwagens reißt das Dorf aus seiner träumenden Beschaulichkeit. Der Transporter hat erschreckend große Schlachtschweine geladen, ein Pestschweif zieht sich hinterher. (Wer nur mag solche Tiere essen?) Als Motorengeräusch und Schweinegestank jenseits der Donau ersterben, setzt sich das Dorf wieder durch. Essensduft zieht vom Gasthaus – ist es das mit der Tropfsteinhöhle im Keller? – über die Straße, schon sitzen (anders als in den Albdörfern) Menschen auf der Terrasse in Vorfreude auf das Mittagsmahl. Die Bahnhofsstraße hinaus stehen schmucke, alte Häuser aus einer bürgerlichen, nicht bäuerlichen Welt. In den Getreidefeldern knackt es. Hinter dem schmalen, langen Gleis kommt Wind auf. Es raschelt im Gebüsch, in den jungen Kirschbäumen, im hohen Mais.

Über weite Schleifen führt der Weg zwischen Waldsaum und Getreidefelder hinein ins Oberland. Ein Vogel schlägt Alarm, ein Reh setzt in hohen Sprüngen aus dem Korn ins Unterholz. Einmal noch holt die Zivilisation den Wanderer auf rohe Weise ein. Die Lastwagen brausen über die Bundesstraße, die den Wald durchschneidet, oder sie reihen sich auf dem Parkplatz, wo Polizeibeamte eine Kontrolle durchführen. Dann hat einen der Wald wieder und wenn man schließlich heraustritt, dort den Bussen sieht – den heilige Berg Oberschwabens, auf weite Strecke gen Süden die markanteste Erhöhung –, da den flachen Schwung von Hügeln, das Blau der Wälder, das erdige Gold der Kornfelder, teils bereits geschnitten, warme Flächen, gänzlich reifer Sommer, hier Wiesen und grüner Mais, seine Spitzen hell, die Fäden rot, immer wieder Wegkreuze unter schattigen Bäumen … Dann hat man sich längst verliebt in diese Landschaft.

Oberhalb des Dorfes Möhringen mit seiner auffallenden St. Vitus-Kirche und dem Pfarrhaus mit seinen schön bemalten Fensterläden, deren Muster mich an antike Formen erinnern, geht es rückseitig über einen Schleichweg den Bussen hinauf. Die Fichten stehen hier locker genug, um grünwuchernden Untergrund zu erlauben, es ist keiner dieser leb- und klanglosen, dunklen Forste, wo du auf dem braunen Nadelteppich, karg bis vielleicht auf Knochen und kleine Schädelchen, die Luft anhalten möchtest, um kein namenloses Unheil zu wecken. Rasch wird der Wald noch lichter mit Eschen und anderen Laubbäumen, geradeaus zieht sich der Weg als herrlicher Trampelpfad, das Gras wächst teils schulterhoch, nur der Gedanke an Zecken trübt die unschuldige Freude ein wenig.

Die Wallfahrtskirche auf dem Hügel steht im Gerüst, zwei Handwerker beschallen den Platz mit einem österreichischen Popsender. Von der Sakralität des Ortes ist da wenig zu spüren, doch der Blick nach Süden ist offen und weit und reicht an klaren Tagen – über den Federsee, über Felder und Wälder, über Ketten von Höhenzügen – bis zu den Alpen. Über eine Breite von über 300 Kilometern, das demonstriert eine gewaltige Panoramatafel, zeigen sich dann die Gipfel der Alpen, von tief im Bayerischen im Osten bis ins Berner Oberland im Westen. Kein Wunder, dass sich auf dem Bussen – heute noch vielbesuchter Wallfahrtsort – Hinweise auf eine Kultstätte schon in keltischer Zeit finden lassen.

Im Dorf unterhalb der Kirche setze ich mich in einen Biergarten mit Fernblick und freue mich, ein alkoholfreies Weizen einer Brauerei zu finden, die ich bisher nicht kannte. Alkoholfreie Weizenbiere überzeugen ja nur selten im Geschmack, dann aber sind sie mir – erst recht an einem heißen Tag auf Wanderung – mein größter Favorit. Das Bier der Brauerei Farny aus Kisslegg wird mir am heiligen Bussen zur Offenbarung: Mühelos schlägt es die bisherigen Favoriten, leicht und herrlich frisch ist es, süffig und rein im Geschmack ohne den kleinsten Anklang an Moder, wie es viel zu viele alkoholfreie Weißbiere haben. Ich habe mein neues Lieblingsbier gefunden.

Die Kellnerinnen sind freundlich und offen, nicht alle anwesenden Schwaben aber können aus ihrer Haut. Belustigt lausche ich den zahlenden Damen am Nebentisch: „Die Pommes zahle ich aber nur zur Hälfte, die andere zahlt sie“. Der Ort jedenfalls profitiert von den vielen Besuchern. Der Biergarten ist gut besucht, an der Straße gibt es einen Antik-Laden, den ein Herr mit wallend weißem Bart betreibt, auch ein Backhaus kennt das Dorf. Hier in Offingen ist Leben.

Unterhalb des Bussens geht es über kaum geschwungenes Land, abwechslungsreich und offen, weiter zum Federsee. Längst brennt die Sonne herab. Traktoren wirbeln Staub über den Äckern auf. Das Getreide, das sie schneiden, und das Stroh, das gefällt auf dem Felde bleibt, spielen in den verschiedensten Tönungen von Gold: Hellgold, Ockergold, Kupfergold zeigt sich mir an diesem Tage … Auf einem Waldweg steht ein Reh. Noch hat es mich nicht wahrgenommen, ich komme näher und warte jeden Augenblick auf das Heben des Kopfes, das kurze Erstarren, das Schnellen des Leibes. Da ist es endlich soweit. Ein kurzes Stück später mache ich eine Rast, einen Apfel und ein gekochtes Ei lang. Wieder taucht das Reh vor mir auf, quert, wechselt zurück, kommt nochmals ein Stückchen weiter unten aus dem Unterholz, trollt vor mir den Weg entlang, bis es schließlich endgültig im Wald verschwindet.

Als ich an einer Wegkreuzung nicht weiter weiß und die Karte studiere, hält ein Traktor mit beladenem Hänger neben mir und der Fahrer – golden das Haar, goldbraun seine Haut – fragt mich gutmütig nach meinem Ziel, erklärt mir ausführlich den Weg. Ich bedanke mich, mache einen Scherz, falle dabei wie von selbst in meinen eigenen Dialekt. Wir lachen. Ja, der Bussen mit seiner alten Tradition von Pilgern und Besuchern und seinem lieblichen Umland öffnet seine Menschen. Mir gefällt es.

Die Landschaft verändert sich. All dies hier war einst Teil eines nacheiszeitlichen Sees, dessen letzter Rest der Federsee bildet mit seinem weiten Speckgürtel aus Sümpfen, Mooren und Feuchtwiesen. An manchen Stellen ist das Gras am Waldrand verdorrt, regelrecht versengt von der Sommersonne. Überquere ich diese Flecken, spüre ich die Glut aufsteigen – und einen würzigen, heuartigen Geruch, der mich beinahe berauscht. Dann wieder duften die Feuchtwälder. Licht flimmert zwischen den hellen Stämmen, mannshohe Brennnesseln flankieren den Pfad.

Hinter Moosburg beginnt der lange Steg durch das Banngebiet Staudacher hinüber nach Bad Buchau, jener einstigen winzigen, ja kleinsten Reichsstadt überhaupt, die im Alten Reich von ihrem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil profitiert hatte. Das Wurzelwerk eines gestürzten Baumes ragt in die Höhe, Schlick und Brackwasser sind zwischen dem Pflanzendickicht unter den Planken zu ahnen. Ein Kanal zieht sich durch das Schilfmeer, das in seinem Herzen den Rest des Federsees verbirgt, der mit knapp anderthalb Quadratkilometern nur noch einen Bruchteil seiner einstigen Größe darstellt (und trotzdem noch der zweitgrößte See in Baden-Württemberg ist).

Am Ortseingang biege ich ab zum Federseemuseum, wo schon steinzeitliche Menschen gesiedelt hatten, später Kelten sesshaft wurden. Zwischen den Hütten aus Neolithikum und Bronzezeit suche ich sie: teure Freunde aus Studienzeiten, durch Beruf und Familienleben in München und Ravensburg meinem Alltag entrückt, die als Archäologinnen und Archäologen im Augenblick aber hier im Museum arbeiten. Herzliche Umarmungen sind die Belohnung für die Wanderung, ich erhalte eine Vesper aus Ziegenkäse, Brot und Heidelbeeren – fast schon ein authentisches Mahl, scherze ich –, ich wiege Bronzeäxte, vergleiche an aufgereihter Wolle die Färbungen von Lindenblättern und Birkenrinde, trage abends tönerne Webgewichte in die Hütten und höre das Schmatzen der Holzwürmer im Gebälk der bronzezeitlichen Häuser. Der Zahn der Zeit, er nagt. Er frisst und frisst ohne Unterlass – an diesen Bauten, an unseren sozialen Beziehungen, an uns selbst. Doch heute ist alles Gold, Bronze, Licht.

Gold das Getreide, das gereihte Stroh auf den Äckern.
Bronze die Äxte am Federsee, die nackten Arme.
Licht der Himmel, der Blick übers Land, zu den Freunden.

Federsee_Oberschwaben

Zum Federsee

 

Im sinkenden Licht

„Was hast du heute vor?“, fragte ich morgens den Achtzigjährigen. „Durch die Sonne radeln – dazu brauche ich kein Ziel und keinen Plan.“

Über die Wiesen sind ein paar Menschen verteilt, über den Himmel ein paar Wolken. Sein Hellblau erinnert mich an den Norden. Ist das logisch? Die niedrig stehende Sonne, ja, das käme wohl hin. Es bräuchte aber sicher mehr, um diesem Himmel gerecht zu werden. Der Hochsommer jedenfalls ist vorbei, das ist offensichtlich. Das Licht altert, reift, die Bäume wollen nichts mehr – nicht strotzen, nicht mit Macht sich in den Himmel strecken und recken , ihnen genügt es, zu sein im sinkenden Licht. Er ist ruhig geworden, der Sommer.

Ich nehme mir ein Beispiel und ziehe auf dem Rad durch den Spätsommertag, ein Lied von Buena Vista Social Club auf den Lippen – süßes Leben um den Stachel der Vergänglichkeit.

Bodensee_Sommer_Sturm

Als der Sommer noch Glut hatte (am Bodensee)

South Side of the Sky

Run with the fox into the wind
Onto the dawn of tomorrow

(Chris Squire/Alan White)

Das Tischchen mit der Schüssel Salat passt auf den schmalen Balkon. Ich passe nicht und sitze in der Küche, die Hand, die den Salat auf die Gabel bringt, ist auf dem Balkon, der Mund, zu dem sie sich bewegt, im Haus, sofern diese Grenzen wirklich Sinn machen, wenn eine Wand aufgeschoben ist, um den Himmel hereinzulassen. Mauersegler pflügen schrill durch die Wogen, bringen leichte Beute auf und hinter mir läuft „Nous sommes du soleil“, was zu diesem Tag passt, an dem die Luft endlich wieder glühte, aber einen ganz anderen Grund hat. Der Bassist dieser Band wurde auch von Freibeutern aufgebracht, sie hatten seine Blutzellen gekapert, vorgestern ist er ihnen erlegen. Jetzt höre ich diese Helden meiner Jugend rauf und runter. Um den Toten zu ehren und das Leben zu feiern. We are of the sun. Das Leben entbrennt im Sommer.

Es ist durch Zufall etwa die Stunde, in der der Musiker in seiner amerikanischen Wahlheimat beigesetzt wird, als wir zu den Klängen von „Heart of a Sunrise“ ein Glas auf Chris Squire erheben. Das fränkische Bier schmeckt, die Musik gefällt, auf der Haut schimmert noch die Hitze des Tages. Wenn wir je eine tribute band auf YES gründeten, frage ich, wie könnte ich mich am besten einbringen. Zur mächtigen Kirchenorgel in „Close to the Edge“ mit einem Ausdruckstanz, ist der Vorschlag. Gelächter schmückt die Gedanken an den Toten.