Dass ich meine Wanderung durch Oberschwaben in einem ICE beginnen würde, überraschte mich selbst. So viel also zum Thema Entschleunigung. Die Realität war aus dem Zug hinausklimatisiert, vom Land da draußen gab es nur verschwommene Fernsehbilder durch die Fensterscheiben. Etwa dort, wo ich im Juni meine Flucht über die Schwäbische Alb abgeschlossen hatte, knüpfte ich im August meine fünftägige Durchquerung des schwäbischen Oberlandes an. Es würden die heißesten Tage des Jahres werden. Davon ließ der wolkige Morgen noch wenig ahnen.

Sommer in Oberschwaben
Zwiefaltendorf, die „Idylle an Ach und Donau“. Ein Schloss steht an der Donaubrücke. Auf dem Turm des sehr aufgeräumten, hübschen Kirchareals nisten Störche, gegenüber „Im Gäßle“ plätschert ein Brunnen vor einem strahlend blau gestrichenen Häuschen. An der Front steht um das Gesicht unseres Gestirns geheimnisvoll die Parole „Die Wahrheit liegt im Sonnenaufgang“.
Die monströse Hupe eines Lastwagens reißt das Dorf aus seiner träumenden Beschaulichkeit. Der Transporter hat erschreckend große Schlachtschweine geladen, ein Pestschweif zieht sich hinterher. (Wer nur mag solche Tiere essen?) Als Motorengeräusch und Schweinegestank jenseits der Donau ersterben, setzt sich das Dorf wieder durch. Essensduft zieht vom Gasthaus – ist es das mit der Tropfsteinhöhle im Keller? – über die Straße, schon sitzen (anders als in den Albdörfern) Menschen auf der Terrasse in Vorfreude auf das Mittagsmahl. Die Bahnhofsstraße hinaus stehen schmucke, alte Häuser aus einer bürgerlichen, nicht bäuerlichen Welt. In den Getreidefeldern knackt es. Hinter dem schmalen, langen Gleis kommt Wind auf. Es raschelt im Gebüsch, in den jungen Kirschbäumen, im hohen Mais.
Über weite Schleifen führt der Weg zwischen Waldsaum und Getreidefelder hinein ins Oberland. Ein Vogel schlägt Alarm, ein Reh setzt in hohen Sprüngen aus dem Korn ins Unterholz. Einmal noch holt die Zivilisation den Wanderer auf rohe Weise ein. Die Lastwagen brausen über die Bundesstraße, die den Wald durchschneidet, oder sie reihen sich auf dem Parkplatz, wo Polizeibeamte eine Kontrolle durchführen. Dann hat einen der Wald wieder und wenn man schließlich heraustritt, dort den Bussen sieht – den heilige Berg Oberschwabens, auf weite Strecke gen Süden die markanteste Erhöhung –, da den flachen Schwung von Hügeln, das Blau der Wälder, das erdige Gold der Kornfelder, teils bereits geschnitten, warme Flächen, gänzlich reifer Sommer, hier Wiesen und grüner Mais, seine Spitzen hell, die Fäden rot, immer wieder Wegkreuze unter schattigen Bäumen … Dann hat man sich längst verliebt in diese Landschaft.
Oberhalb des Dorfes Möhringen mit seiner auffallenden St. Vitus-Kirche und dem Pfarrhaus mit seinen schön bemalten Fensterläden, deren Muster mich an antike Formen erinnern, geht es rückseitig über einen Schleichweg den Bussen hinauf. Die Fichten stehen hier locker genug, um grünwuchernden Untergrund zu erlauben, es ist keiner dieser leb- und klanglosen, dunklen Forste, wo du auf dem braunen Nadelteppich, karg bis vielleicht auf Knochen und kleine Schädelchen, die Luft anhalten möchtest, um kein namenloses Unheil zu wecken. Rasch wird der Wald noch lichter mit Eschen und anderen Laubbäumen, geradeaus zieht sich der Weg als herrlicher Trampelpfad, das Gras wächst teils schulterhoch, nur der Gedanke an Zecken trübt die unschuldige Freude ein wenig.
Die Wallfahrtskirche auf dem Hügel steht im Gerüst, zwei Handwerker beschallen den Platz mit einem österreichischen Popsender. Von der Sakralität des Ortes ist da wenig zu spüren, doch der Blick nach Süden ist offen und weit und reicht an klaren Tagen – über den Federsee, über Felder und Wälder, über Ketten von Höhenzügen – bis zu den Alpen. Über eine Breite von über 300 Kilometern, das demonstriert eine gewaltige Panoramatafel, zeigen sich dann die Gipfel der Alpen, von tief im Bayerischen im Osten bis ins Berner Oberland im Westen. Kein Wunder, dass sich auf dem Bussen – heute noch vielbesuchter Wallfahrtsort – Hinweise auf eine Kultstätte schon in keltischer Zeit finden lassen.
Im Dorf unterhalb der Kirche setze ich mich in einen Biergarten mit Fernblick und freue mich, ein alkoholfreies Weizen einer Brauerei zu finden, die ich bisher nicht kannte. Alkoholfreie Weizenbiere überzeugen ja nur selten im Geschmack, dann aber sind sie mir – erst recht an einem heißen Tag auf Wanderung – mein größter Favorit. Das Bier der Brauerei Farny aus Kisslegg wird mir am heiligen Bussen zur Offenbarung: Mühelos schlägt es die bisherigen Favoriten, leicht und herrlich frisch ist es, süffig und rein im Geschmack ohne den kleinsten Anklang an Moder, wie es viel zu viele alkoholfreie Weißbiere haben. Ich habe mein neues Lieblingsbier gefunden.
Die Kellnerinnen sind freundlich und offen, nicht alle anwesenden Schwaben aber können aus ihrer Haut. Belustigt lausche ich den zahlenden Damen am Nebentisch: „Die Pommes zahle ich aber nur zur Hälfte, die andere zahlt sie“. Der Ort jedenfalls profitiert von den vielen Besuchern. Der Biergarten ist gut besucht, an der Straße gibt es einen Antik-Laden, den ein Herr mit wallend weißem Bart betreibt, auch ein Backhaus kennt das Dorf. Hier in Offingen ist Leben.
Unterhalb des Bussens geht es über kaum geschwungenes Land, abwechslungsreich und offen, weiter zum Federsee. Längst brennt die Sonne herab. Traktoren wirbeln Staub über den Äckern auf. Das Getreide, das sie schneiden, und das Stroh, das gefällt auf dem Felde bleibt, spielen in den verschiedensten Tönungen von Gold: Hellgold, Ockergold, Kupfergold zeigt sich mir an diesem Tage … Auf einem Waldweg steht ein Reh. Noch hat es mich nicht wahrgenommen, ich komme näher und warte jeden Augenblick auf das Heben des Kopfes, das kurze Erstarren, das Schnellen des Leibes. Da ist es endlich soweit. Ein kurzes Stück später mache ich eine Rast, einen Apfel und ein gekochtes Ei lang. Wieder taucht das Reh vor mir auf, quert, wechselt zurück, kommt nochmals ein Stückchen weiter unten aus dem Unterholz, trollt vor mir den Weg entlang, bis es schließlich endgültig im Wald verschwindet.
Als ich an einer Wegkreuzung nicht weiter weiß und die Karte studiere, hält ein Traktor mit beladenem Hänger neben mir und der Fahrer – golden das Haar, goldbraun seine Haut – fragt mich gutmütig nach meinem Ziel, erklärt mir ausführlich den Weg. Ich bedanke mich, mache einen Scherz, falle dabei wie von selbst in meinen eigenen Dialekt. Wir lachen. Ja, der Bussen mit seiner alten Tradition von Pilgern und Besuchern und seinem lieblichen Umland öffnet seine Menschen. Mir gefällt es.
Die Landschaft verändert sich. All dies hier war einst Teil eines nacheiszeitlichen Sees, dessen letzter Rest der Federsee bildet mit seinem weiten Speckgürtel aus Sümpfen, Mooren und Feuchtwiesen. An manchen Stellen ist das Gras am Waldrand verdorrt, regelrecht versengt von der Sommersonne. Überquere ich diese Flecken, spüre ich die Glut aufsteigen – und einen würzigen, heuartigen Geruch, der mich beinahe berauscht. Dann wieder duften die Feuchtwälder. Licht flimmert zwischen den hellen Stämmen, mannshohe Brennnesseln flankieren den Pfad.
Hinter Moosburg beginnt der lange Steg durch das Banngebiet Staudacher hinüber nach Bad Buchau, jener einstigen winzigen, ja kleinsten Reichsstadt überhaupt, die im Alten Reich von ihrem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil profitiert hatte. Das Wurzelwerk eines gestürzten Baumes ragt in die Höhe, Schlick und Brackwasser sind zwischen dem Pflanzendickicht unter den Planken zu ahnen. Ein Kanal zieht sich durch das Schilfmeer, das in seinem Herzen den Rest des Federsees verbirgt, der mit knapp anderthalb Quadratkilometern nur noch einen Bruchteil seiner einstigen Größe darstellt (und trotzdem noch der zweitgrößte See in Baden-Württemberg ist).
Am Ortseingang biege ich ab zum Federseemuseum, wo schon steinzeitliche Menschen gesiedelt hatten, später Kelten sesshaft wurden. Zwischen den Hütten aus Neolithikum und Bronzezeit suche ich sie: teure Freunde aus Studienzeiten, durch Beruf und Familienleben in München und Ravensburg meinem Alltag entrückt, die als Archäologinnen und Archäologen im Augenblick aber hier im Museum arbeiten. Herzliche Umarmungen sind die Belohnung für die Wanderung, ich erhalte eine Vesper aus Ziegenkäse, Brot und Heidelbeeren – fast schon ein authentisches Mahl, scherze ich –, ich wiege Bronzeäxte, vergleiche an aufgereihter Wolle die Färbungen von Lindenblättern und Birkenrinde, trage abends tönerne Webgewichte in die Hütten und höre das Schmatzen der Holzwürmer im Gebälk der bronzezeitlichen Häuser. Der Zahn der Zeit, er nagt. Er frisst und frisst ohne Unterlass – an diesen Bauten, an unseren sozialen Beziehungen, an uns selbst. Doch heute ist alles Gold, Bronze, Licht.
Gold das Getreide, das gereihte Stroh auf den Äckern.
Bronze die Äxte am Federsee, die nackten Arme.
Licht der Himmel, der Blick übers Land, zu den Freunden.

Zum Federsee