Filderstraße 75 – Architekturfotografie und die Häutungen des Lebens

Am Ende eines langgestreckten, hellen Raumes sitzt er an einem Schreibtisch, ein hochgewachsener Mann mit leichter Goldrandbrille und grauem Millimeterhaarschnitt. Ein Blick in das schmale Gesicht zeigt, der da muss ein kluger und gebildeter Mensch sein, doch zugleich ein Mann der Tat. Kein Professor der Philosophie, sagen wir einmal, eher noch Oberarzt in Freizeitklamotten. Ich grüße durch den lichten Raum, er kommt mir entgegen, die Finger an den Gläsern. „Ich habe die Lesebrille auf, da muss ich erst mal näher treten, um zu sehen, wer das ist“, erklärt er. Ich stelle mich vor, mein Name sagt ihm erst einmal nichts, obwohl er mir erst vor ein paar Tagen aus eigener Initiative geschrieben hat, bei meinem Blognamen weiß er mich dann einzuordnen. „Freut mich, dass du kommst. Und ein schönes Hemd, Mensch!“, sagt er und fasst den Saum meines roten Karohemdes.

Ich stehe in der Fotogalerie f75, nur ein paar Schritte weg vom zentralen Marienplatz – man sieht ihn sogar von der Tür der Galerie aus – und doch fast versteckt in einem Hinterhof. Nach links und rechts ziehen sich die Rückseiten der Gründerzeithäuser fünf Stockwerke oder so in den Himmel, die Galerie liegt hinter einer einladenden Glasfront gegenüber der Hofeinfahrt. Vor einigen Jahren war sie noch eine heruntergekommene Töpferei. Dann erwarb Wilfried Dechau den Raum. Zuerst hatte er nur an das Hinterzimmer (ein enger Doppelgang um deckenhohe Archivschränke, vorne eine winzige Küche, Dutzende Gläser für Vernissagen, hinten in Pappe die großformatigen Bildabzüge, Bücher, Zeitschriften, Lichtbilder) als trockenen Stauraum gedacht, am Ende hatte er eine Galerie. „Ein teures Hobby“, erläutert er.

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Revier im Untergrund – Johannes Marburg: BodenHaltung (zum Vergrößern bitte klicken)

Seit dem 13. März sind in der Galerie f75 Werke des Architekturfotografen Johannes Marburg zu sehen: Marburg hatte den Auftrag, die Mensa der Uni Würzburg – 1978 von Alexander von Branca errichtet und nun sanierungsbedürftig – vor dem Umbau fotografisch zu dokumentieren. Unter Fluchten von Rohrsystemen, zwischen labyrinthischen Abluftkanälen stieß Marburg auf kleine Rückzugsorte von Mitarbeitern der Mensa. Sie inspirierten den Fotografen am Rande seiner Auftragsarbeit zu seiner Serie „Das Würzburger Zimmer“: Inseln in einem lebensfeindlich wirkenden Areal, Unterweltaufnahmen, die an die Morlocks aus H.G. Wells „Zeitmaschine“ erinnern und auf den zweiten Blick neben Stereotypen mit unerwarteten Details aufwarten.

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Suchbild mit Tiger – Johannes Marburg: Gewusst wie (zum Vergrößern bitte klicken)

Galerist Wilfried Dechau ist selbst Architekturfotograf. Er hatte einst Architektur studiert, wechselte nach ein paar Jahren an einem Lehrstuhl für Baukonstruktion und Industriebau dann ins Verlagswesen und war lange Chefredakteur einer bekannten Architekturzeitschrift, die damals noch bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart zuhause war. Dann hatte ihm das Leben in die Hacken getreten, wie er es nennt, und er hatte sich selbständig gemacht in einem Alter, in dem manche im Geiste bereits in der nahen Rente dahindämmern. Aus seinen Fotografieprojekten sind zahlreiche Buchpublikationen entstanden, so zuletzt 2013 „Baakenhafenbrücke Hamburg – Fotografisches Tagebuch“ oder 2009 – und mit einer größeren Relevanz als je zuvor – der anregende Band „Moscheen in Deutschland“. In der Stuttgarter Weißenhofgalerie wird Wilfried Dechau demnächst mit Aufnahmen zu „So-da-Brücken“ zu sehen sein, Brücken, die (wegen eines zeitweiligen oder dauerhaften Baustopps) im Nichts enden – funktionslos einfach so da sind.

Betreten habe ich die Galerie f75 aus einer verhaltenen Neugier heraus. Und schließlich wird der Besuch viel mehr als eine Bildbetrachtung oder eine Ortsbesichtigung. Wilfried Dechau scheut das Gespräch nicht, er gibt spannende Einblicke in die Verlagswelt und in Zeitschriftenredaktionen, in Kunstausstellungen und Fotoprojekte und nicht zuletzt in das Leben selbst. Und fragt zurück. Am Ende tauschen wir uns über die Häutungen des Lebens aus. „Gut, in meinem Alter fängt man nichts völlig Neues mehr an“, meint Wilfried Dechau. Er ist 70 Jahre alt und doch: „nichts völlig Neues“, das zeigt doch zugleich den Mut, wäre es angebracht, etwas zumindest irgendwie Neues zu beginnen. Als ich gehe, nehme ich etwas mit aus der Galerie, im Herzen und im Kopf.

Die Eröffnung zu „Johannes Marburg | Das Würzburger Zimmer“ am 13. März hatte ich verpasst. Am 2. April geht die Ausstellung bereits wieder zu Ende – Baumaßnahmen an der Rückwand des Gebäudes machen es notwendig. Donnerstag diese Woche ist also die letzte Gelegenheit, die Fotografien von Johannes Marburg in der Galerie f75 zu sehen. Auf die nächste Ausstellungseröffnung in der f75 freue ich mich.

Schau mir in die Augen

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Kann man diesen Augen widerstehen? Kaum. Wer den kleinen Elefanten erwerben möchte, kann das zum Beispiel im Geschäft „Wunderschöne Dinge“ an der Ecke Römerstraße/Liststraße im Lehenviertel (Stuttgart-Süd) tun. Und mich eine Ecke weiter auf einen Kaffee rausklingeln.

(Das war #swch 5/5. Keine Nominierung.)

„Ich trau mich nicht auf die Straße“

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Aber nicht doch, kleines Haus, du musst dich nicht hinter deinen Geschwistern verstecken.

Das – in Wahrheit sehr blaue – Haus in der Tübinger Straße ist das vierte von fünf Fotos der Schwarzweiß-Challenge (#swch). Richtig, ich habe mich nicht verzählt. Nr. 3 gibt es nur auf Twitter.

Weil der Journalist und Blogger Wolfgang Weitzdörfer das Modewort „Challenge“ genauso entsetzlich findet wie ich und gegenüber Kettenbriefaktionen mindestens so skeptisch ist, aber seine Prinzipien offenbar entschiedener lebt als ich, hier ein Vorschlag zur Güte: Lieber Wolfgang, magst du die Herausforderung annehmen, ein, nur ein Schwarzweißfoto zu posten? Bua, komm, sei net so – Gott vergelt’s.

Hinterhoffluchten

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Blick aus der Falbenhennenstraße im Heusteigviertel (Klick macht groß)

Es geht ja wieder etwas um zur Zeit: #swch. Klassische Symptome: fünf Tage lang ein Schwarzweißfoto posten. Ich hatte mich als Wort- und nicht Bildbastler in Sicherheit gewiegt, doch diese Hoffnung war trügerisch. Angesteckt hat mich Katja vom Blog Gedankensprünge. Danke dafür. Ob der Virus als nächstes Mojo from the Blog erwischen wird? Der wohnt schließlich nur einen Block entfernt. Gefährlich nah.

Die Menschlichkeit in den Zeiten der Finsternis. Eine Eklipse

Da sieht man wieder einmal, das Leben ist kein Picknick. Wir sind auf dem Weg zur Sonnenfinsternis und stellen fest, die geistige Finsternis ist längst schon da.

Auf dem spiralförmigen Weg zum Birkenkopf unterhalten wir uns über Dryaden und die Verführung durch Baumgeister. Vor uns gehen zwei Männer, der Ältere stumm und entschieden, der Jüngere schweifend und rastlos. Er trägt eine offene Bierflasche in der Linken, eine geschlossene in der rechten Hosentasche und wirkt, als wären sie die letzten Posten einer durchzechten Nacht. In Armreichweite von uns tritt er an einen Baum zum Pinkeln, schließt dann wieder zum Älteren auf, bleibt unmittelbar auf dem Weg stehen, schießt in gekrümmter Haltung ein Foto mit seinem Handy und krakeelt etwas von „Durchnudeln“ auf dem Wasen. Dann lässt er einen Schrei und stürmt seinem Begleiter hinterher, gerade als wir überlegt haben, sein Selbstgespräch heimlich aufzunehmen. Es ist kurz nach 9 Uhr morgens am Tag der Sonnenfinsternis, der Himmel ist strahlend hell.

Am Vorabend suchte ich nach meiner Brille von der totalen Sonnenfinsternis von 1999. Ich wusste, in welches Buch die Brille eingelegt war, und ich wusste den Standort des Buches bis auf zwei Regalbretter genau. Und da war sie auch, die Sonnenfinsternisbrille. Denkt man an die Knappheit der Brillen vor dem aktuellen Ereignis, dann war es vielleicht doch gerechtfertigt, Buch und Brille 16 Jahre lang und durch eine nicht mehr genau rekonstruierbare Zahl von Umzügen hindurch aufzubewahren.

Sonnenfinsternis_Brille

Da ist sie ja.

Ein paar Profis in Holzfällerhemden oder Outdoorwesten haben ihre Kameras zwischen den Trümmersteinen des Monte Scherbelino bereits aufgebaut. Der Betrunkene lässt sich längs auf einem Steinblock nieder, die Kälte scheint er nicht zu spüren. Vor uns schnurrt eine Kamera auf ihrem Stativ in einem regelmäßigen Rhythmus. („Das Klacken der Schorsch-Kamera ohne Schorsch hat auch etwas.“) Kinder springen herum, ältere Damen packen Butterbrote aus, neben uns sitzt eine Frau auf dem Schoß ihres Partners (Karohemd, Bart, grauer Bürstenhaarschnitt) und wagt hinter ihrer – normalen – Sonnenbrille gelegentlich einen Blick zum Gestirn empor.

Als wir unsere beiden Brillen austauschen ein „Ah!“ und „Oh!“, denn sie geben einen sehr unterschiedlichen Blick auf das Himmelsereignis: technisch-kühl die eine, bräunlich-gedämpft die andere. „Jetzt sehe ich einen Smiley von der Seite, der weit den Mund aufmacht. Als würde ihm gleich ein Keks hineingestopft werden. Das wäre dann der ultimative Gottesbeweis.“

„Dürften wir vielleicht auch einmal kurz?“, fragt der Bürstenhaarschnitt. „Na klar“, reichen wir unsere Brillen weiter und schon sind wir im Gespräch. Sie ist aus Dortmund, er aus Stuttgart, dort Regen, hier Sonne. „Haben Sie gut gemacht“, kommentieren wir.

Das Vorbild macht Schule. Nun trauen sich auch ein paar junge Leute – hübsche, blonde und vom Leben noch so unglaublich ungezeichnete 20-Jährige, die 1999 noch kleine Kinder waren und kaum Erinnerungen an die Sonnenfinsternis haben – und fragen nach einem Blick durch unsere Brillen. „Kein Thema, kommt einfach nochmals vorbei“, antworten wir auf ihren Dank. Überall wechseln Brillen die Hände, Bittsteller blicken durch die Standkameras der Profis, Biere werden ausgepackt. Ein weißer Hund sitzt am Rand des Abhangs und blickt in die Stadt hinab, als gäbe es dort etwas Fesselndes zu sehen. Eine Krähe landet auf der Wiese und der Betrunkene, bis dahin friedlich mit seinem Bier dahindämmernd, richtet sich auf und krächzt dem Vogel seine Herausforderung entgegen. „Okay, der Kolbentyp ist in Wirklichkeit eine verzauberte Krähe, und die Dryade hatte ihr Zauberwerk schon vollbracht.“

Sonnenfinsternis_Birkenkopf

Publikumsverkehr unter der Eklipse

Das Licht beginnt sich zu verändern, es wird cremiger, wie gefiltert, und es wird spürbar kühler. Ein Flugzeug, lange Kondensstreifen im Blau, dreht bei und scheint direkt Kurs auf die Sonne zu nehmen, wie die Motte auf das Licht zusteuert. Alle anderen Flieger am Himmel folgen. Unten in der Stadtmitte leuchtet ein einzelnes Gebäude hell auf, als wäre dorthin das verschwundene Stück Sonne gestürzt, dann zerteilt sich das Leuchten, es zerspringt in kleinere Funken und verteilt sich auf eine Kette von vier oder fünf Gebäuden.

Der Bürstenhaarschnitt bedankt sich fürs Ausleihen mit einem Schluck eines tschechischen Pflaumenschnapses aus einer privaten Brennerei. Auf den Hinweis, noch fahren zu müssen, hat er eine Lösung parat: „Nippen dürfen Sie. Ich bin Polizist.“ Der Schnaps hat mehr Aroma als Schärfe, ein wirklich edler Tropfen, während sich oben der Mond immer weiter über die Sonne schiebt.

Es ist so kalt geworden, dass ich Jacke und Schal wieder überziehe. Im Dämmerlicht scheint die Welt um den Hügel herum die Luft anzuhalten. Es wirkt still und unwirklich und etwas gespannt und für einen Augenblick ist es, als würden gleich unten im Kessel der Stadt die Sirenen losgehen. Es ist ein Licht, wie ich es nur aus zwei Zusammenhängen kenne: von der Sonnenfinsternis 1999, anders als heute einer totalen Sonnenfinsternis, allerdings unter Wolkenbänken und kühlem Regenwetter. Und aus meinen Träumen, auch schon vor 1999, diesen seltenen, aber eindrücklichen Träumen von Landschaften unter einem merkwürdigen Licht, Landschaften, die intensiver und echter wirken als die Wirklichkeit und den Träumer verwirrt in den neuen Tag entlassen, weil unser wissenschaftliches Paradigma solche Welten nicht kennt.

Dieses Mal bringt der Polizist ein Stückchen Wurst: aus Polen, in seinem Keller luftgetrocknet. „Ja, wir sind eine bunte Truppe“, erklärt er und schwärmt von Würsten und Schinken in seinem Keller. Die jungen Leute kommen für den zweiten oder dritten Blick in die Eklipse, in den Händen Plastikbecher mit Weißwein. „Wie auf dem Basar“, lacht der Polizist und steckt sich einen Glimmstengel an.

Ja, interessanter als der unentwegte Blick auf das schwarze Rund, das die Sonne zu einer Sichel schrumpfen lässt, ist das Menschliche um uns herum. Dann kommt ein Müllauto den Weg empor, ein Fremdkörper, drei Männer, dunkle Teints und orange Overalls, leeren Mülleimer und starren herüber. Ein Kind von vielleicht vier Jahren, das über den Hügel hin und herstürmt, nähert sich dem Wagen und reicht einem der Männer seine Brille. Er nimmt sie entgegen, mit einer langsamen, bedächtigen Bewegung seiner starken Hände, er wirft einen Blick in den Himmel, reicht die Brille dann an seinen Kollegen weiter, der sie mit derselben kraftvollen, wortkargen Bedächtigkeit entgegennimmt. „Julia“, ruft das Kind auf dem Rückweg glücklich. „Gut gemacht“, meint die Angerufene. Das finden wir auch.

10.45 Uhr, das Licht hellt sich wieder auf. Einer der Profis schultert bereits sein Kameragestänge, für ihn ist der wissenschaftliche Höhepunkt vorüber, das Wesentliche gelaufen. Das Kino verlässt er vermutlich, wenn der Abspann einsetzt. So schnell kommen wir nicht weg. „Schickes Teil“, meint einer der jungen Leute über eine (gewöhnliche) Sonnenbrille, ein anderer bietet dem Polizisten eine Zigarette an, der erzählt von seiner Arbeit. „Meine Wache ist dort, wo ihr vorglüht“, grinst er. So wechseln die Sätze, über Mode und Spaß, über Schichtarbeit und Fernbeziehungen. „Und ist eigentlich noch etwas von dem tschechischen Wunder da?“

Wir wünschen dem Ruhrpott-Stuttgart-Paar Glück, die Jungs winken, die Mädchen lächeln kokett, dann geht es hinab in den zweiten Morgen. Verzaubert von der Menschlichkeit. So hell kann es sein, wenn Menschen sich begegnen.

Birkenkopf_Monte Scherbelino_Stuttgart

Unter dem Birkenkopf

Mit einem ganz anderen Aspekt der Sonnenfinsternis am 20. März setzt sich Juna im Netz mit einem kritischen und absolut lesenswerten (Doppel-)Artikel auseinander.

Der kurze Traum vom Stromer

Stuttgart_Feuersee_Johanneskirche_Frühling_Sonne

Am gestrigen Tag des Frühlingsbeginns an einem windstillen Plätzchen zu sitzen – wie hier an der Johanneskirche am Feuersee – und in die Sonne zu blinzeln: Da reduzieren sich die Bedürfnisse wie von Zauberhand auf ein Minimum. Und man träumt von einem verantwortungsfreien Leben als Herumtreiber (wie in einem Roman von Jack London oder John Steinbeck vielleicht). Zumindest bis zum nächsten Hunger lang.

Grüß Gott in Haifa

Ein Zeppelin fliegt vor tiefhängenden Wolkenbänken über eine pittoreske Stadtkulisse. An Bord sind Graf Zeppelin und der damalige württembergische Staatsminister, bei der Stadt unter ihrem Luftschiff handelt es sich um Jerusalem. Diese Schwarzweißfotografie aus dem Jahre 1929 begrüßte die Besucher bei der Ausstellungseröffnung „Deutsche im Heiligen Land“ in der Stuttgarter Leonhardskirche.

Eine Panne des Aufzugs im Landeskirchlichen Archiv hätte die Eröffnung beinahe verhindert, aber dann wurde doch noch alles rechtzeitig fertig. Zahlreiche Schautafeln und rund 500 historische Ausstellungsstücke dokumentieren im Vorraum der Kirche den „deutschen christlichen Beitrag zum kulturellen Wandel in Palästina“.

„Ich würde gerne mit einer Statistik beginnen“, eröffnete der Historiker Jakob Eisler seine historische Einführung ins Thema. 1799, als Napoleon im Zuge seines (politisch gescheiterten, kulturell höchst folgenreichen) Ägyptenfeldzugs auch Palästina eroberte, hielten sich den Quellen zufolge gerade mal ein Dutzend Europäer im ‚Heiligen Land‘ auf. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren es 5000. Davon waren 3000 Deutsche und von diesen kamen wiederum 2500 aus dem ‚Ländle‘. Du meine Güte: Jeder zweite in Palästina lebende Europäer ein – württembergischer und protestantischer – Schwabe.

Wobei die pietistischen Auswanderer nicht nur aus Württemberg kamen. Ein Foto zeigt eine sehr humorbefreit dreinblickende Personengruppe aus dem Bergischen Land. Im Revolutionsjahr 1848 waren Gustav Thiel und seine Familie aus dem Westfälischen nach Palästina ausgewandert, um die Wiederkunft des Messias zu erwarten. Thiels Ehefrau war die Schwester des Großvaters von – John Steinbeck. (Was nicht erzählt wurde: Auch Steinbecks Großvater selbst war Teil dieser Auswanderergruppe. Die Geschichte nahm ein tragisches Ende. In einem nächtlichen Überfall wurde die Siedlung ausgelöscht, Familienmitglieder wurden ermordet oder vergewaltigt, alles Hab und Gut geplündert.)

Haifa an der Küste war ein Siedlungsschwerpunkt der deutschen Einwanderer, andere zogen gleich nach Jerusalem, wo sie als Handwerker oder Händler arbeiteten (und das erste Kaufhaus des Nahes Ostens gründeten), als Pädagogen oder Missionare wirkten. Das erste Kinderhospital im „Orient“ (wie Eisler diesen Raum auch immer definiert wissen will) wurde etwa vom mecklenburgischen Landesherrn gegründet. Der Lehrer Ludwig Johann Schneller richtete das sogenannte Syrische Waisenhaus in Jerusalem ein. Es wuchs zu einer wichtigen Institution der Stadt und nahm um 1900 mehr Fläche als die Altstadt ein.

Ein anderer prägender Charakter war Conrad Schick aus Bitz im Zollernalbkreis. Er ging als Mechaniker ins Heilige Land und blieb 50 Jahre dort bis zu seinem Lebensende 1901. Die ersten Zeichnungen, die der junge Mann an seinen Studienort Basel schickte, zeigten bei aller Offenheit gegenüber der neuen Heimat noch eine gewisse Unbeholfenheit. „Die Tiere vor dem Haus sind keine Hunde“, muss er in seinem Brief erklären, „sondern Kamele“. Solche hatte er auf der Schwäbischen Alb natürlich nie gesehen. Schick hinterließ als Architekt ein reiches Erbe: Ganze Quartiere hatte er in Jerusalem erbaut. Nicht umsonst gehört zu den schönsten Ausstellungsstücken ein Miniaturmodell der Altstadt. Aus dem Fundament eines schickschen Stadtmodells ließen sich Schubladen herausziehen, die den Blick freigaben auf die Kanalisation, die Schick geplant hatte.

Erst ein Lacher für das Stuttgarter Publikum deutete in der Ausstellungseröffnung, die problematisierende Fragen dezent ausklammerte, eine kulturimperialistische Fragestellung an. Als sich das deutsche Kaiserpaar 1898 auf Pilgerreise im Heiligen Land befand, war die Kaiserin Auguste Victoria nicht gerade angetan von dem entsetzlichen „Lärm“ der türkischen Militärkapelle. Was für ein Glück, notierte sie, dass der Kaiser eine Blaskapelle aus Cannstatt im Gefolge hatte!

Den Bogen schlug gewissermaßen die musikalische Umrahmung durch die Brasserie Cannstatt, ein Buffet rundete die Eröffnung ab. 180 Anmeldungen waren eingegangen, die Kirche gut gefüllt – umso erstaunlicher, dass ich (eine halbe Stunde vorher noch von nichts gewusst) unversehens in die erste Reihe eingeschleust wurde. Spontaneität kann sich auszahlen.

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Bastelbogen des Syrischen Waisenhauses in Jerusalem

Wer den Ausstellungsbesuch lieber plant: Vom 14. März bis zum 25. Mai 2015 ist die Ausstellung des Landeskirchlichen Archivs Stuttgart und des Vereins für württembergische Kirchengeschichte in der Leonhardskirche Stuttgart zu sehen. Vorträge flankieren die Ausstellung, so am 18. März um 18.30 Uhr mit dem provokativen Titel „Es gibt ‚zwei gelobte Länder in der Welt‘. Württemberg und Palästina (1850-1920)“ von Prof. Dr. Sabine Holtz, Historisches Institut, Abt. Landesgeschichte der Universität Stuttgart.

Meta mit Frühling

Beim Abstieg zur U-Bahn flackern die Lichter, sie ersterben, springen dann zitternd wieder an. Sofort sind sie da, die Bilder von der Zombie-Apokalypse.

Nach einer berauschenden Woche, in der alles möglich schien, folgen ein paar Tage der Stasis und der Erschöpfung und nachts träumen sich Glassplitter in den Mund. Erst war alles ganz viel, dann kommt das Wellental. Die Geschichten zu fassen – das Horchen und das Schauen – kam dabei etwas kurz. Daher heute ausnahmsweise nur ein paar knappe Hinweise.

Menschen aus dem Süden – unter dieser Rubrik wurde ich mit meinem Blog am letzten Freitag in der Stuttgarter Zeitung vorgestellt. Danke an Ina Schäfer für das Interview.

Am Abend des gleichen Tages hatte ich gemeinsam mit Stephan Trinkl die angekündigte Lesung in Ratzer Records Schallplattencafé. Es wurde eine gemütliche, unterhaltsame Veranstaltung. Das Mikrofon vermisste ich erst am Folgeabend, als ich an einem ganz anderen Ort auf einer Bühne stand und merkte, wie viel Kraft ein Mikro doch aufsparen kann für andere Aspekte des Ausdrucks. Für die Lesung danke an Brigitte und Karl-Heinz Ratzer, Stephan (mit Verspätung und direkt aus dem Feierabendstau in die Lesung zu starten und trotzdem gelassen zu lächeln ist eine respektable Leistung) und allen, die kamen, um uns zuzuhören! Dem Hund inklusive.

Heute (also Freitag) wird auf der Leipziger Buchmesse um 18 Uhr aus „Tausend Tode schreiben“ gelesen – einem Projekt der Verlegerin Christine Frohmann, von tausend Menschen kurze Texte über den Tod zusammenzutragen. #1000Tode (so der Hashtag des Projekts) bietet ebenso viele Perspektiven auf die große Unvermeidlichkeit unserer Existenz wie Stimmen. Mein Blogbeitrag „Requiem für eine Fremde“ ist (minimal bearbeitet) als Text 307 vertreten. Übrigens sind die 1000 Texte noch nicht vollständig – die Gelegenheit, sich für dieses Projekt noch einzubringen! Die Erlöse aus dem E-Book-Verkauf gehen als Spende an das Kinderhospiz Sonnenhof in Berlin-Pankow.

Und der Frühling tänzelt …

Geht man in der Straße der Sonne entgegen, ist es, als würden die Kastanien bereits knospen. Man reckt die Nase, man streckt den Hals. Unversehens kommt hinter dem Eck dann die Ohrfeige des Windes, dafür, dass man dem Frühling schon zu tief ins Mieder blicken wollte. Man fährt zusammen, senkt den Kopf, verlegen nestelt die Hand am Schal.

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Und was ist das da bitte?

Twitterrausch bei Adrienne Braun. Eine Lesung

Und das ist erst die eine Hälfte.

Freitagabend Literaturverkehr. Ich wollte wieder einmal zur zwischen/miete – der Lesung junger Literatur in Stuttgarter WGs. Jens Eisel war aus Hamburg angereist, um aus seinen Erzählungen „Hafenlichter“ zu lesen. In der „Leuchtenden WG“ in der Böheimstraße. Daher habe ich auch (gleich mehrmals) bedauernd abgelehnt, mit auf die Eröffnung der Sammlung Lucius „Buch – Kunst – Objekt“ im Kunstmuseum Stuttgart zu gehen. Nur um am Ende auf einer Lesung in der Schiller Buchhandlung in Vaihingen zu landen. (Die „Leuchtende WG“ würde ich übrigens trotzdem gerne mal sehen. Wer öffnet Zeilentiger die Türen?)

Schuld war das A&O. Das war gerade auf Besuch in der zeitweiligen Wahlheimat Stuttgart und zum Buchbistro Extra in die Schiller Buchhandlung auf dem Kesselrand angereist, um bei Häppchen und Getränken Adrienne Braun zu hören. Unvergessen zwar deren Urteil über das „IKEA-Buffet“, wurde die Journalistin und Kolumnistin (besonders bekannt für ihre Kolumne in der Stuttgarter Zeitung) trotzdem gerne wieder in der Schiller Buchhandlung willkommen geheißen.

Zu Käsebrötchen, Sekt und Wasser wurde schon gekichert, die Twittermaschine angeworfen, Buchtipps erteilt von der liebenswürdigen Kati Fraentzel (@catchkati) der Schiller Buchhandlung und bibliophile Eigenheiten ausverhandelt. In Bücher malen? Umstritten! Der Trend geht zum Zweitbuch …

Wahr. „@blauschrift: Der @zeilentiger mag auch signierte Bücher nicht. Das ist nur konsequent.“

Als sich das Buffet allmählich leerte, zeigte Adrienne Braun mit ihrem Buch „Mittendrin und außen vor“ Stuttgarts stille Ecken, bekannte und durchaus auch weniger bekannte Orte der Erholung und des Innehaltens im täglichen Kesseltreiben. Ein Seitenhieb auf Gerber und Milaneo durfte dabei, wie es sich für Stuttgarter Kulturbürger gehört, nicht fehlen. Und wir folgten der Autorin zu Proserpinas prallen Brüsten ins Lapidarium, die Trümmer dort „verströmen wohlige Ruhe, weil sie nichts mehr beweisen müssen“. Da erschreckt dann auch die Erkenntnis über dieses Freilichtmuseum zum Betatschen und Angrapschen nicht mehr: „Genau genommen lernt man hier gar nichts.“

Pragmatischer geht es an Adrienne Brauns Lieblingsort Tritschler am Marktplatz zu, der 3. Stock zwischen Eierteiler und Eierstückler ein herrlicher Ort, um stundenlang zu flanieren – das „vielleicht schönste Geschäft der Welt“. „Stuttgarts stille Ecken“ wollen keine topographische Beschreibung sein, sondern spiegeln den Menschen: Wie erlebe ich diese Orte. (Daher gibt es auch keine Routenbeschreibungen im Anhang. Wer einen der etwas versteckteren Orte nicht findet, darf getrost die Autorin fragen.)

Zum Schreiben aber, das verrät Adrienne Braun, reichen Stuttgarts stille Ecken doch nicht aus. Dazu müssen es dann noch ruhigere Orte sein. Zum Bücherschreiben kommt die Autorin nur im Urlaub – in der Berghütte oder in der Klause in der Mecklenburgischen Seenplatte.

Noch heiterer wurde es mit den Texten aus Adrienne Brauns zweitem Buch, aus dem sie an diesem Abend las. „Von den Niederungen des Seins“ (2011 erschienen) verhandeln ganz alltägliche Probleme wie rutschende oder sich drehende Socken. An Absurditäten fehlt es dabei nicht, man denke an den Wettstreit der Faserbürsten, den die Kolumnistin mit den 35 Millionen Fasern ihres Nanohandschuhs gewinnt – die Freundin verstummt geschlagen. Fast unglaublich die Patenschaft über Hundekotbeutelbehälter, bitterkomisch die Verslein zu Adolf Hitlers Besuch im ungeliebten Stuttgart („Lieber Führer sei so nett / Zeig dich doch am Fensterbrett“) … Bedarf bietet das ganz normale Leben jedenfalls genug für Adrienne Brauns Kolumnen: „Wir sind halt alle Mängelwesen“, wie wir seit Arnold Gehlen wissen.

Und irgendwann eskalierte alles. Nicht in der Lesung, nicht in den anschließenden Gesprächen vorne mit der Autorin. Sondern in der letzten Reihe am Stehtischchen.

„Übrigens waren es 36 Leute, falls du nicht gezählt hast.“ Danke, @blauschrift, das hatte ich tatsächlich nicht.

Die Leseparty rockt. Jetzt schnüffeln wir an Büchern.

”…ich hab schon wieder einen Reflex, das zu twittern.” – ”Es hört erst auf, wenn der Akku leer ist.” Hab noch 13% und du, @zeilentiger?

Twittern bis zur Erschöpfung mit dem A&O.

Überhaupt, das A&O. Diese Tigerzeilen sind nur die eine Hälfte. Die andere gibt es auf dem  buchstabenbunten und lebenswortfrohen Satzsitz von A&O als schöne Fotostrecke zum Buchbistro Extra mit Adrienne Braun. Bitte sehr, hier entlang und gerne immer im Kreis herum.

Mehr! Links!

Jens Eisel, „Hafenlichter“

zwischen/miete – Lesung mit Jens Eisel

Buch – Kunst – Objekt. Sammlung Lucius in Text und in Bild und Wort

Website von Adrienne Braun

Adrienne Braun in der Stuttgarter Zeitung

Mittendrin und außen vor. Stuttgarts stille Ecken

Von den Niederungen des Seins

Und last not least die Schiller Buchhandlung in Stuttgart-Vaihingen