26.
Kaum trete ich aus dem Gebäude, höre ich wieder die gellenden Polizeisirenen. Sie sind untrennbarer, beinahe permanent präsenter Teil dieser Großstadtsinfonie. Überrascht bin ich, wie oft Zivilfahrzeuge Blaulicht und Sirene haben.
Auf in die City
27.
Liverpool Street, die City of London liegt vor mir. Die Gehwege werden voller, das Tempo der Menschen nimmt zu. Ich muss achtgeben, mit niemandem zu kollidieren. Wenn ich mir Notizen in mein Büchlein schreibe, drücke ich mich in kleine Winkel, um nicht überrannt zu werden. Kulissen aus glitzernden, glatten Bürobauten, dazwischen neogotische Kirchen und Backsteingebäude. Ja, die Anzugträger häufen sich, die Schlagzahl der Passanten erhöht sich − der Rhythmus der City, vielleicht ist auch die Uhrzeit verantwortlich −, dazwischen Ausrufer, Seelenfänger, Sektierer in sauberen Kostümen und Anzügen, dort ein junger Mann am Boden, halb in einem abgewirtschafteten Schlafsack, er hält den Passanten ein Schild entgegen. Er richtet es für die Fußgänger immer wieder neu aus, sein Blick zuckt lebhaft hin und her, auf seinem Gesicht liegt ein Lächeln, sacht, aber unübersehbar, freundlich, vielleicht mit einer kleinen Prise Ironie. Wie kann der junge Mann in seiner Situation solch ein Gesicht zur Schau stellen? Ist es die Haltung eines Neulings auf der Straße, der die noch nicht eingeschliffene Bettelroutine durchbricht mit seiner Mischung aus Freundlichkeit und Ironie?
28.
Haltestelle Monument. Berge an kostenlosen Zeitungen stapeln sich am Eingang zur Underground, im Vorbeigehen greifen sich die Büromenschen ein Exemplar. Die himmelhohe Säule − The Monument to the Great Fire of London erinnert an den großen Brand von 1666, als der größte Teil der City niedergebrannt war − ist ein merkwürdiges Überbleibsel einer anderen Zeit: 17. Jahrhundert zwischen Bürogebäuden. An einer Absperrung neben der dorischen Säule wieder − groß, rot − der Warnruf des Großstadtdschungels: „Not EVERYONE is as nice as YOU“. Unser Gepäck, unsere Sicherheit ist in steter Gefahr.
29.
Bus Clapham Junction 344, unbestimmte Verheißung. Erst später füllt sich die Leerstelle im Kopf: verkehrsreichster Bahnhof Großbritanniens; ein fürchterliches Eisenbahnunglück in den späten Thatcher-Jahren; ein Schwulendrama auf Channel 4.
30.
Einen Steinwurf entfernt warten vor der Kirche des Märtyrers St. Magnus gutgekleidete Menschen im vorgerückten Alter auf die Messe. Das Gotteshaus, dessen Wurzeln ins 11. Jahrhundert zurückreichen, ist noch weit mehr Relikt als das Monument to the Great Fire of London, bis zur Atemnot eingezwängt, die Reste einer (obgleich zur Church of England gehörend) katholisch anmutenden Ehrwürdigkeit wie ein Gewand um sich gerafft in einer feindlichen, verständnislosen Umgebung.
31.
Von der London Bridge habe ich einen freien Blick auf The Shard, 310 Meter hoch. Der Wolkenkratzer wurde 2012 fertiggestellt und war damit bei meinem letzten Besuch noch nicht da. Die Reaktion ist unmittelbar: ein absurder Tempel, ein wahnwitziger Kultbau des Kapitalismus. Zu meiner Linken im Fluss treibt ein herrenloser Rettungsring langsam am Ufer entlang.
An der Themse
32.
Auf der anderen Seite der Themse erneut Gotik. Hinter den Bleiglasfenstern der Southwark Cathedral scheinen Lichter, der Vorplatz aber liegt im Halbdunkel. Erst spät sehe ich die Reihe von Menschen, eine lange Schlange, die geduldig im Regen auf Einlass wartet, viele mit Regenschirmen, einige mit Wintermützen, andere barhäuptig. Nur langsam rückt die Schlange − 100 oder mehr Menschen − voran. Ich drücke mich an den Wartenden vorbei zur gegenüberliegenden Straße, als ein Schwarzer mit Rastamütze um Kleingeld bittet. „Only for coffee, Sir“ wiederholt er melodiös, lachend, rau, als ich verneine. Er hat Charme, ich krame nun doch nach Münzen. Viele habe ich noch nicht seit heute Mittag. Was ist das? 10 Pence glaube ich im Halbdunkel zu erkennen, zu wenig jedenfalls, ich würde mich schämen. Also taste ich mich weiter, ich finde eine Pfund-Münze, eigentlich mehr als ich geben wollte, aber noch weiter suchen wäre kleinlich, also überreiche ich die Münze. „Enjoy the coffee.“ Dunkles Lachen. Der Mann geht weiter, versucht seinen Charme an der Warteschlange. Wie viel diese Menschen wohl für ihren Eintritt zahlen?
Die nächste Brücke
33.
Gleich ums Eck wartet die Golden Hind − das Kaperschiff von Francis Drake, das im Auftrag von Königin Elizabeth den schier unendlichen Silberfluss aus der Neuen Welt nach Spanien umlenken sollte, ein bisschen davon zumindest − auf ihre nächste Weltumsegelung. Im Dock ruht sie, in beinahe unpassend kräftig wirkenden roten und gelben Farben bemalt, auf ihrem Deck wird ein Sektempfang ausgerichtet. Daneben im Old Thameside Inn sitzen die Menschen im Freien unter Schirmen, unbeeindruckt von Regen und Dezemberluft. Der Blick auf die London Bridge und die glitzernden Bürobauten dahinter, zwischen denen ich auf dem Nordufer meinen Weg gefunden hatte, ist fantastisch. Diese kalten Phalli des 21. Jahrhunderts und die bunte Golden Hind, sie passen nicht zusammen, sie beißen sich − und doch gehören sie in einen Kontext. Beide sind sie Ausdruck einer gewalttätigen Wirtschaftspotenz, von Raubtierkapitalismus.
Nochmals ein Blick auf die City
34.
An den teils mittelalterlichen Ruinen von Winchester Palace traben Jogger vorbei, viele in kurzen Klamotten, alle mit einem eng an den Rücken geschnallten Rucksack − Effizienz pur. Was wohl darin ist? Bürokleidung? Eine Jacke gegen die Kälte auf dem Heimweg?
35.
Aus einer Straßenunterführung locken irritierende musikalische Klänge. Es ist, meine ich, ein Saiteninstrument, heiser, scharrend, fremd. Ich weiß bereits, dass ich stehenbleiben werde, bevor ich Einblick in die erleuchtete Unterführung habe. Dort steht ein hochgewachsener Schwarzer mit ergrautem Bart, er streicht nicht die einzelne Saite des Instruments, sondern klopft sie mit einem leichten Stab an, begleitet von einem Rasseln, denn im Griff des Stäbchens ist ein wohl mit Kerne gefüllter Hohlraum. Die Tonfolge ist einfach, aber fesselnd, fast hypnotisch. Ich bleibe lange am entgegengesetzten Ende der Unterführung stehen. Niemand außer mir hält an und lauscht. Als ich meinen Weg schließlich wieder fortsetze, bin ich erneut ein Pfund los. Ich habe eine Schwäche für Straßenmusik, so wie ich eine eingefleischte Abneigung gegen professionelles Betteln habe. Gerne hätte ich den Mann gefragt, wie sein Instrument heißt, woher es kommt. Wir tauschen einen kurzen Blick, als ich die Münze in den Bastkorb zu seinen Füßen werfe − meine ist die größte, die gerade darin liegt −, der Mann dankt einzig mit seinem Blick, nicht einmal mit einem Zucken des Mundwinkels: zurückhaltend, stolz und schweigsam. Dieser Mann will nicht reden, das wird mir klar. Ich schlage die Augen nieder und gehe weiter und lausche, bis die Klänge zu einem Flüstern werden. Es fällt schwer loszulassen.
36.
Ich will nicht weitergehen. Mir ist, als verlöre ich etwas, als ich die Klänge des exotischen Musikinstruments zurücklasse. Ein Hubschrauber knattert hart und unbarmherzig über den Nachthimmel und ich bin plötzlich in einer ganz, ganz anderen Welt.
37.
Low tide. Es sind Spuren da unten im Sand des Themseufers, das Tor aber zum Treppenabstieg vom Uferweg ist abgesperrt, verschlossen, der Betrachter vom Geheimnis dort unten ausgeschlossen.
Spuren im Sand
38.
Dann passiere ich die Tate Modern. Die Ausstellernamen an der Außenfassade des Kunstmuseums klingen deutsch: Paul Klee, Mira Schendel − unerwartet und beinahe falsch auf diesem Weg.
39.
Ein Weihnachtsmarkt, Buden halten Händchen oberhalb des Themseufers, „Mexican Streetkitchen“, „Glühwein“, „Pizzeria“ auf ihren Schildern. Soul erklingt an einem Stand, Punk an einem anderen, „It‘s a Christmas Time“ singt die Band zu scheppernden Gitarren. Ist der Song womöglich von dem gerade erschienenen Weihnachts-Album von Bad Religion? Ich weiß es nicht. Gegenüber, unter einer Unterführung aus Beton und Platten, alles harte Flächen und Kanten und Graffiti liegt ein Skateplatz. Immer und immer wieder knallt es, wenn ein Skater mit den Rollen seines Boards wieder Kontakt mit dem Boden aufnimmt. Es sind aggressive Töne in einer ganz und gar lebensfeindlichen Umwelt. Der Punksong wird von einem stupiden Folklied abgelöst. Die Skatetöne der vollkommen in ihrem Tun versenkten Jungs sind wie Schläge gegen die falsche Weihnachtsidylle der Buden. Ein monströses Potpourri.
40.
Ein Paar, wieder auf der anderen Seite der Themse, er im Anzug, sie im kurzen Rock, aber gleich zweifach anders als alle übrigen Menschen auf den Dezemberstraßen: Es ist ein beblumter Sommerrock und ihre Beine tragen keine Strümpfe. Mit diesen in der Jahreszeit verirrten Blumen und den schutzlosen, blassen Beinen gewinnt die Frau − keine Schönheit, allenfalls auf eine ländliche, etwas derbe Weise hübsch − eine ungeheure Zartheit. Wie ein kurzer Schmetterlingsschlag an einem Herbsttag.
41.
Der Bus nach Wood Green 29 biegt ab. Ein entgegenkommender Kollege lässt ihm die Vorfahrt. Für einen Augenblick taucht die zum Dank erhobene Hand des Fahrers im Scheinwerferlicht auf, dann versinkt der Mann wieder vollständig im Dunkel seiner Fahrerkabine, nichts mehr von ihm ist zu sehen, so als würde der Doppeldeckerbus von Geisterhand gefahren.
Around Covent Garden
42.
Am weitläufigen Canada House am Trafalgar Square hängt die belaubte Nationalflagge in stattlicher Zahl, ein Ehrenspalier für das riesenhafte Porträt von Alice Munro, der letzten Literaturnobelpreisträgerin. Eine Demonstration imperialer Größe. Muss das ehemalige Dominion hier etwas beweisen? Oder ist es ein Vorausblick darauf, dass die High Commission of Canada in London aus dem erst vor drei Wochen verkauften MacDonald House womöglich bald wieder hierher an den zentralsten Platz der Stadt ziehen wird?
43.
Auch an einem Montagabend tauchen am Trafalgar Square die ersten Horden feierlustiger junger Menschen auf. Ein paar Schritte weiter ist dann schon Soho. Zwischen den Restaurants und den Cappuccinetti, den Pubs und Table Dance Bars, Thai Massagen und Musicalbühnen finde ich die Kinos nicht wieder, wo ich vor ein paar Jahren „Shutter Island“ gesehen hatte. Ich bin zu müde vom stundenlangen Fußmarsch durch die Stadt, um mich durchzufragen, und streiche den Kinogang aus dem heutigen Programm. Ich würde so oder so am nächsten Abend wiederkommen, um im Tiger Spice, einem der besten indischen Restaurants, die ich kenne, zu essen. Erst später am Abend stelle ich bei einem Blick ins Internet fest, dass Tiger Spice geschlossen hat. Ich hatte mich Jahre gefreut, umsonst.
44.
Stattdessen schlage ich den Heimweg ein: vorbei am Tottenham Court (einer Baustelle noch über Jahre hinaus, um die völlig überlastete U-Bahn-Station zu vergrößern), durch Bloomsbury, bereits deutlich ruhiger (ein aufgeräumtes Antiquariat, die Swedenborg Society), Holborn … Da erkenne ich auf der anderen Seite einen Aushang wieder: Alps Restaurant in der Theobald‘s Street. Hier war ich, in gleicher Richtung, heute schon einmal gegangen. Also hatte ich meine Abzweigung nach Norden verpasst und war bereits wieder auf der Route nach East London. Ich mache kehrt und bin unsicher, wo ich abbiegen muss. Doch ich habe Glück. Die Intuition führt mich exakt den Weg zurück, den ich heute Nachmittag gekommen war.
45.
Ich korrigiere mich. Manchmal schmerzen die Augen doch. Fremdschämen im Hostel für kurzberockte Mädchen, die meine Töchter sein könnten.
46.
„110 Pfund hat gestern Abend jeder von uns liegengelassen“, prahlen die beiden feierlustigen Burschen aus Münster, bevor sie nochmals in die Nacht aufbrechen, während die zwei jungen Oberbayern einzig als Zuschauer zu einem internationalen Dartwettkampf angereist waren. „Dabei haben wir extra auf die U-Bahn verzichtet, weil die in London so teuer ist.“ Jeder erobert sich London auf seine Weise. Die Weltstadt hat für alle Platz.
Dezember 2013. Fortsetzung folgt.