Filderstraße 75 – Architekturfotografie und die Häutungen des Lebens

Am Ende eines langgestreckten, hellen Raumes sitzt er an einem Schreibtisch, ein hochgewachsener Mann mit leichter Goldrandbrille und grauem Millimeterhaarschnitt. Ein Blick in das schmale Gesicht zeigt, der da muss ein kluger und gebildeter Mensch sein, doch zugleich ein Mann der Tat. Kein Professor der Philosophie, sagen wir einmal, eher noch Oberarzt in Freizeitklamotten. Ich grüße durch den lichten Raum, er kommt mir entgegen, die Finger an den Gläsern. „Ich habe die Lesebrille auf, da muss ich erst mal näher treten, um zu sehen, wer das ist“, erklärt er. Ich stelle mich vor, mein Name sagt ihm erst einmal nichts, obwohl er mir erst vor ein paar Tagen aus eigener Initiative geschrieben hat, bei meinem Blognamen weiß er mich dann einzuordnen. „Freut mich, dass du kommst. Und ein schönes Hemd, Mensch!“, sagt er und fasst den Saum meines roten Karohemdes.

Ich stehe in der Fotogalerie f75, nur ein paar Schritte weg vom zentralen Marienplatz – man sieht ihn sogar von der Tür der Galerie aus – und doch fast versteckt in einem Hinterhof. Nach links und rechts ziehen sich die Rückseiten der Gründerzeithäuser fünf Stockwerke oder so in den Himmel, die Galerie liegt hinter einer einladenden Glasfront gegenüber der Hofeinfahrt. Vor einigen Jahren war sie noch eine heruntergekommene Töpferei. Dann erwarb Wilfried Dechau den Raum. Zuerst hatte er nur an das Hinterzimmer (ein enger Doppelgang um deckenhohe Archivschränke, vorne eine winzige Küche, Dutzende Gläser für Vernissagen, hinten in Pappe die großformatigen Bildabzüge, Bücher, Zeitschriften, Lichtbilder) als trockenen Stauraum gedacht, am Ende hatte er eine Galerie. „Ein teures Hobby“, erläutert er.

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Revier im Untergrund – Johannes Marburg: BodenHaltung (zum Vergrößern bitte klicken)

Seit dem 13. März sind in der Galerie f75 Werke des Architekturfotografen Johannes Marburg zu sehen: Marburg hatte den Auftrag, die Mensa der Uni Würzburg – 1978 von Alexander von Branca errichtet und nun sanierungsbedürftig – vor dem Umbau fotografisch zu dokumentieren. Unter Fluchten von Rohrsystemen, zwischen labyrinthischen Abluftkanälen stieß Marburg auf kleine Rückzugsorte von Mitarbeitern der Mensa. Sie inspirierten den Fotografen am Rande seiner Auftragsarbeit zu seiner Serie „Das Würzburger Zimmer“: Inseln in einem lebensfeindlich wirkenden Areal, Unterweltaufnahmen, die an die Morlocks aus H.G. Wells „Zeitmaschine“ erinnern und auf den zweiten Blick neben Stereotypen mit unerwarteten Details aufwarten.

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Suchbild mit Tiger – Johannes Marburg: Gewusst wie (zum Vergrößern bitte klicken)

Galerist Wilfried Dechau ist selbst Architekturfotograf. Er hatte einst Architektur studiert, wechselte nach ein paar Jahren an einem Lehrstuhl für Baukonstruktion und Industriebau dann ins Verlagswesen und war lange Chefredakteur einer bekannten Architekturzeitschrift, die damals noch bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart zuhause war. Dann hatte ihm das Leben in die Hacken getreten, wie er es nennt, und er hatte sich selbständig gemacht in einem Alter, in dem manche im Geiste bereits in der nahen Rente dahindämmern. Aus seinen Fotografieprojekten sind zahlreiche Buchpublikationen entstanden, so zuletzt 2013 „Baakenhafenbrücke Hamburg – Fotografisches Tagebuch“ oder 2009 – und mit einer größeren Relevanz als je zuvor – der anregende Band „Moscheen in Deutschland“. In der Stuttgarter Weißenhofgalerie wird Wilfried Dechau demnächst mit Aufnahmen zu „So-da-Brücken“ zu sehen sein, Brücken, die (wegen eines zeitweiligen oder dauerhaften Baustopps) im Nichts enden – funktionslos einfach so da sind.

Betreten habe ich die Galerie f75 aus einer verhaltenen Neugier heraus. Und schließlich wird der Besuch viel mehr als eine Bildbetrachtung oder eine Ortsbesichtigung. Wilfried Dechau scheut das Gespräch nicht, er gibt spannende Einblicke in die Verlagswelt und in Zeitschriftenredaktionen, in Kunstausstellungen und Fotoprojekte und nicht zuletzt in das Leben selbst. Und fragt zurück. Am Ende tauschen wir uns über die Häutungen des Lebens aus. „Gut, in meinem Alter fängt man nichts völlig Neues mehr an“, meint Wilfried Dechau. Er ist 70 Jahre alt und doch: „nichts völlig Neues“, das zeigt doch zugleich den Mut, wäre es angebracht, etwas zumindest irgendwie Neues zu beginnen. Als ich gehe, nehme ich etwas mit aus der Galerie, im Herzen und im Kopf.

Die Eröffnung zu „Johannes Marburg | Das Würzburger Zimmer“ am 13. März hatte ich verpasst. Am 2. April geht die Ausstellung bereits wieder zu Ende – Baumaßnahmen an der Rückwand des Gebäudes machen es notwendig. Donnerstag diese Woche ist also die letzte Gelegenheit, die Fotografien von Johannes Marburg in der Galerie f75 zu sehen. Auf die nächste Ausstellungseröffnung in der f75 freue ich mich.

Eine Kunstvermeidung

„Hab mir den einen Tag eingebildet, täte verrückt werden“
(Oskar Schlemmer)

Mal ehrlich, diese Ballettfiguren von Oskar Schlemmer waren mir noch nie geheuer. „Gleich kommt das Beste!“, rief die Einstige, als wir uns in der Staatsgalerie den Kostümen des Triadischen Balletts näherten, und ich dachte mir nur: „Gruselig.“ Und: „Als wir mit der Schule hier waren, war‘s schon langweilig, aber die Figuren vom Schlemmer waren toll, die waren halt auch was für Kinder“, weiß ich von mehreren Eingeborenen. „Aber doch gerade die nicht!“, will ich entgegnen. Ich weiß nicht, was mich da traumatisiert hat.

Heute Abend begegnete Oskar Schlemmer in der Staatsgalerie Stuttgart auf eine ganz neue Weise. Denn zum ersten Mal wurde der Große Staatspreis für Bildende Kunst des Landes Baden-Württemberg als Oskar-Schlemmer-Preis vergeben. Er versteht sich als wichtiger Baustein der Kunstförderung durch die grün-rote Landesregierung und ist zugleich Zäsur. Der bisherige Hans-Thoma-Preis – Staatspreis des Landes Baden-Württemberg –, hat es nämlich einfach nicht mehr gebracht. Zu betulich und altbacken wirken die Landschaftsmalereien des Schwarzwälder Künstlers inzwischen. Dass zudem die Nazis die Werke des 1924 verstorbenen Malers schätzten, wäre als Totschlagargument vielleicht ein wenig zu schlicht gestrickt (das räumte Staatssekretär Jürgen Walter auf seine Begründung hin selbst gleich ein). Zukunftsweisend jedenfalls gilt das Werk Thomas heute nicht.

Die Programmhefte dienten an diesem (fast) ersten sommerlichen, jedenfalls bisher heißesten Tag des Jahres eher zum Fächeln als zur Lektüre. Es folgten die üblichen Etappen einer Preisverleihung. Dank an die Honoratioren. Abgelesene Reden. Eine kulturpolitische Rahmenabsteckung.

Kurze lokale Irritation: Eine Frau hat eifrig mitgeschrieben, dann schiebt sie ihr Notizbuch über zwei leere Sitze ihrer Nachbarin hinüber. Diese betrachtet die Seite, liest wohl die Sätze und gibt das Buch regungslos zurück. Was war denn das?

Suggestive Politik auf der Bühne: ein Akt, den ein Außenstehender (ich) wohl als plumpe Nötigung verstehen muss, dessen Resultat dann aber das Publikum zu lautem Applaus veranlasste, schließlich erhielt die Stuttgarter Staatsgalerie die Zusicherung, zwei Kunstwerke der Preisträgerin finanziert zu bekommen.

Die mitschreibende Frau wird wieder aktiv, dieses Mal reicht sie ihr Handy einem Mann in der Reihe hinter ihr. Er liest die Worte auf dem Display, reicht das Telefon zurück, die Frau lächelt, der Mann sagt, zeigt, deutet nicht viel. Rätselhaft.

Anstelle eines musikalischen Rahmenprogramms wurde aus Tagebüchern und Briefen Oskar Schlemmers gelesen, eine bunt gefächerte, hübsch zusammengestellte Auswahl – leider mit den diversen Redebeiträgen zusammen zu viel Text.

Die Frau verlässt ihren Platz, kommt nach einer Vietelstunde mit ihrer Tochter zurück, setzt sich an einen anderen Platz, schreibt wieder emsig mit, zu Sätzen der Rede, die mir wenig substantiell erscheinen.

Dann die Würdigung von Katharina der Großen: der Preisträgerin Katharina Grosse, 1961 in Freiburg geboren, Berlin, Düsseldorf, und ihrer Technik: der Eroberung des dreidimensionalen Raums mit der Spritzpistole.

Ich beobachte die Schreiberin und bin hin und hergerissen zwischen präventiver Abwehr und der stillen Hoffnung, ich möge der nächste sein, dem sie etwas zuschiebt.

Dann wird endlich der Preis übergeben, die Künstlerin steht mit verschränkten Armen auf der Bühne, Direktorin Lange der Staatsgalerie schiebt sie nach vorne, Blumen, Händeschütteln des Staatssekretärs, Wangenküsschen des Kurators Kittelmann, ein Plädoyer der Preisträgerin, Dank an die Öffentlichkeit, ans Publikum, denn kein Werk ohne Betrachter – und kein Betrachter ohne Werk?

Und dann ist es vorbei. Die schreibende Frau ist vergessen, die Menge strömt hinüber in den Nachbartrakt, wo ein Kunstwerk von Katharina Grosse zu sehen ist, wir hingegen bleiben irgendwo hängen, dann das rettende Glas Wasser und feine Häppchen auf Zahnstochern, von denen man sich nur zwei zu nehmen traut, obwohl es mindestens fünf verschiedene Varianten gibt, schließlich eine Erklärung, warum ich über die Preisverleihung keinen Blogartikel schreiben werde, und dann …

„Wie, wollen wir uns nicht verabschieden?“, stutze ich, als wir uns heimlich aus dem Gespräch schleichen. „Nein, nein, nicht nötig. Ich sehe das als Zeichen der Bescheidenheit, es nicht zu tun.“

Und so lassen wir den guten Geist Oskar Schlemmers zurück. Der Staatssekretär war da schon längst gegangen.

Design, Kunst und Mode am Feuersee – Stuttgarts letztes Sommerfest

Die Knirpse von der Wah Wah West Musikschule lassen „Highway to Hell“ krachen und stehen dabei auf der Bühne, als ginge sie das alles nichts an. Tut es irgendwie ja auch nicht: Die Songs, die sie auf dem Feuerseefest spielen, gehören ihrer Elterngeneration. Und die hat an der Vorführung der Buben sichtlich Spaß.

Stuttgarts letztes Sommerfest rund um die neugotische Johanneskirche mit ihrem charakteristischen gestutzen Kirchturm (im Zweiten Weltkrieg zerstört und nicht wieder vollständig aufgebaut) freut sich über herbstlich-graues Wetter. Unübersehbar ist auf dem Fest die Handschrift des Westens, Stuttgarts beliebtestem Bezirk mit seinen Mutter-Kind-Ladencafés, seinem Parkplatzmangel und seinen historischen Altbauten – immerhin trotz Fliegerangriffen und späterer Bausünden eines der größten erhaltenen, zusammenhängenden Gründerzeitviertel Deutschlands. Alles ist hier ein bisschen alternativ, aber wohlsituiert, auffallend viele schöne jüngere Menschen und Familien tummeln sich auf dem Platz – hipp, glücklich und grün, so könnte die Formel lauten.

IMG_1603Slacklining über den Feuersee

Zum ersten Mal bereichern die kreativen Macher der DEKUMO das Fest mit ihrem Kunsthandwerk. Die Stuttgarter Initiative für Design, Kunst und Mode war vor einigen Jahren als Verkaufsplattform ins Leben gerufen worden, um die oft kleinen und versteckten Geschäfte und Werkstätten der Stadt präsenter zu machen. „Ich möchte alles kaufen“, schwärmt eine Freundin beim Gang zwischen den Ständen.

Ja, es ist ein Frauenmarkt, ohne Frage: Kleidung für Frauen und Kleinkinder aus Fair Trade-Materialien, Handtaschen – vom unvermeidlichen Filz über zartes Leder, rosa Rüschenstoff mit Totenkopfmotiv bis hin zu umgeschneiderten Textilien wie dem Rock aus Schottenkaro oder dem Tigerkunstfell –, Schmuck in den verschiedensten Variationen, bunte Stoffknöpfe oder Schlüsselbretter mit filigranen Mustern, handgearbeitete Notizblöcke, Postkarten mit den etwas anderen Fotomotiven aus Stuttgart („Esst mehr Brokkoli“), Kunstgegenständen wie die in transparentes Plastik eingegossenen Drucke zum Aufhängen („Der Kerl am Bass“).

IMG_1600Designerin Anna Bánkuti („anzu„) mit ihrer Schmuckauslage aus Silber und einem speziellen, ausbrennbaren Kunststoff, den sie einzeln per Hand bezeichnet – in der nächsten Ausgabe der britischen Vogue (Oktober) wird sie als Newcomer vorgestellt werden

Der Macher von 2un° recycelt typische Dachbodengegenstände und schafft so besonders erstaunliche Unikate: Tassenlampen, Seifenschalen aus Porzellantassen mit aus Gabeln gebogenen Haltern, Schreibkladden aus bunten, alten Jugendbucheinbänden, in die neue Papierbogen eingehängt werden – die Meinungen darüber sind, nun, disparat.

Selbst bei der Stärkung mit Fastfood muss man auf ein bisschen Stil nicht verzichten: Crepes holt man sich im „Heimathafen West“, Pommes und Currywurst (wahlweise Biofleisch oder vegan) gibt’s bei „Feinwerk`s ImBiobiss“, wo hinter einem Dutzend Kartoffelkisten stoisch drei Mitarbeiter die Kartoffeln für die frisch gemachten Pommes schälen – drunter macht es der Stuttgarter Westen nicht.

Und natürlich gibt es auch ein wenig Spektakel für die Kleinen: Mitmachmärchen, die „Hosenboje“, eine Seilrutsche über den Feuersee (leider nur bis 16 Jahre), oder ein Seiltanz über die 60 Meter des Feuersees. Ob der Slackliner beim Balancieren über der appetitlich trüben Brühe ein Atemgerät übergezogen hat? Wir wissen es nicht, wir haben ihn leider verpasst.

IMG_0637Es gibt tatsächlich Leben im Feuersee

Das 3. Feuerseefest fand vom 13. bis 15. September statt.

Endlich einmal Heizer auf der Titanic – Kunstverein Oberwelt e.V.

Wie verschafft man sich den witzigsten Ostermontagabend seines Lebens?

Das könnte etwa so aussehen: Man macht sich irgendwann im Vorfeld einen schönen Abend in Ratzers Schallplattencafé und steckt den Flyer einer abgefahrenen Kunstaktion ein, in diesem Fall: „Rillenrauschen“, einer multimedialen Ausstellung zum Thema Schallplattenläden, bei Oberwelt e.V.

Man versichert sich einer angenehmen Begleitung und spaziert bei endlich halbwegs linden Abendtemperaturen zur Öffnungszeit um 21 Uhr (!) zu Oberwelt in den Stuttgarter Westen, schaut sich alles mit einem Bier in der Hand an, plaudert mit dem einzigen anderen Besucher, einem nicht mehr jungen Urberliner (sein Eindruck von Stuttgart: „ick sach mal gruselich“), und lässt sich dann gemeinsam im herrlich chaotischen Vereinsraum (falsch, die von Oberwelt-Vorstand Jens Hermann als freiem Künstler zum öffentlichen Treff ausgebaute Abstellkammer) „Dein Klub“ im Hinterhof mit ein paar Vereinsmitgliedern nieder.

Dort spürt man dann nicht nur eine ganze Reihe von unerwarteten Querverbindungen auf (Stuttgart, du Dorf der Kunst), sondern übernimmt spontan für ein, zwei Szenen eine Rolle in einer lippensynchronen Nachverfilmung von „Titanic“ – abgedreht mit sechs, sieben Leuten und einem gerahmten Damenporträt als Kate Winslet (weil heute keine Frau anwesend) in den sechs Quadratmetern des Vereinsraums. Und bekommt dafür nicht nur einen kleinen Platz in der Ahnenreihe der Neuverfilmung, sondern auch noch die DVD des ersten Nachdrehs des Klubs, „Wotørwoerld“ zugesteckt.

Da bleibt nur eines zu sagen: Ich freue mich auf den nächsten Dreh.

http://www.oberwelt.de/