Still ist es auf dem Berg. Unten im Tal läuten die Glocken zum Hochfest der Geburt des Herrn. Danach schlägt ein Hund an, irgendwo, dann legt sich wieder Stille über den Gipfel. Die Sonne scheint an diesem 25. Dezember, als würde sie den ganzen Winter über nichts anderes tun. Schneeschuhe haben wir nicht gebraucht für den Aufstieg.
Unter uns liegt Wertach, die höchstgelegene Marktgemeinde Deutschlands, aber warum fange ich jetzt damit an, da muss ich nur erklären, was das ist, eine Marktgemeinde, denn das hatte schon für Verwirrung gesorgt, als ich fürs Studium in ein anderes Bundesland gezogen war, Verwirrung auf beiden Seiten, weil die Dame auf dem Bürgeramt nicht wusste, was es mit diesem „Markt“ auf sich hat, und ich wiederum nicht wusste, dass es sich dabei in Deutschland um eine bayerische Eigenart handelt.
In Wertach also, und darum geht es mir, ist der Schriftsteller W. G. Sebald geboren und aufgewachsen. Dass ich seine „Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt“ jetzt erst lese, erscheint mir im Nachhinein unglaublich, und je unglaublicher, je weiter ich in dem Buch komme und mich in immer größeren Maße begeistern lasse. Drei Menschen haben mich im letzten Jahr auf dieses Buch gebracht, das ich längst gekannt und geliebt haben sollte, zwei davon sind Blogger, und allen drei danke ich. Es ist ja, und das kann ich mit umso mehr Überzeugung von mir geben, als ich es heute im Zug zu Ende gelesen habe, nicht nur ein unerhörter Gewinn, sondern zugleich Verlust. Würden sich die Ringe des Saturn doch nur in die Unendlichkeit des Raums erstrecken, um ihnen ein Leben lang zu folgen!
Es bleibt nur ein Trost, nämlich das andere große Buch meines Jahres wieder aufzugreifen, in das sich der Sebald dazwischengeschoben hatte, nämlich Christoph Ransmayrs „Atlas eines ängstlichen Mannes“, ebenfalls ein Reisebuch und ebenso viel mehr als nur das. Zwei kluge und aufmerksame und sehr menschliche Beobachter, das eine Buch ein fast traumartiger Gesang des Verfalls, das andere ein immer wieder aufgreifendes Staunen der Menschlichkeit in unserer so flüchtigen Existenz. Beide Autoren sind mir zu literarischen Helden geworden, zu meinem Glück – und (hoffentlich) zum Stachel, der mich anspornt.
Brotzeit wird auf der Bank unterm Gipfelkreuz ausgebreitet. Earl Grey und heißer Ingwer, belegte Brote, liebevoll kleingeschnittenes Obst und Gemüse, ein Schälchen mit einem bunten Nuss-Beeren-Gemisch, ein gerecht in Stücke gebrochener Bioschokoladenriegel. Das ist die zivilisatorische Handschrift der Frauen, könnte man vermuten, denn ich hätte mich, wäre ich allein aufgestiegen, mit einer Flasche Wasser, einer Packung Cashews vielleicht und einer Banane begnügt. Aber so einfach ist es nicht, die Grenzen verlaufen anders. Das Essen jedenfalls ist ein von allen begrüßtes Fest und der Earl Grey schmeckt besser, als er es je an einem Schreibtisch tun könnte.
Hebe ich den Blick, liegt das Illertal ausgebreitet unter mir bis dorthin, wo sich im Unterland die Eiszeitmoränen im Dunst verlieren. Links ziehen sich Höhen ins westliche Allgäu hinüber, rechts reicht der Blick ins flacher werdende Ostallgäu, inmitten des Panoramas liegt die Stadt Kempten. Von all diesen Höfen, aus diesen Weilern und Dörfern, die ich da vor mir sehe, denke ich mir, waren 1525 Bauern und Handwerker zusammengeströmt, um gegen die Unterdrückung und Ausbeutung durch die weltlich-geistlichen Herrschaften zu protestieren. Immer wieder hingehalten von den Mächtigen, setzten die Wortführer des Allgäuer Haufens gemeinsam mit denen der beiden anderen großen schwäbischen Bauernaufgebote in der Reichsstadt Memmingen – dort am Rande meiner Sicht – zwölf Artikel auf. Manche sehen in dieser Versammlung die erste verfassungsgebende Versammlung in Deutschland, und die „Zwölf Artikel“ sind so etwas wie die erste Aufzeichnung von Menschenrechten in Europa.
Zu(o)m dritten ist der brauch byßher gewesen, das man vns für jr aigen leüt gehalten haben, wo(e)lchs zu(o) erbarmen ist, angesehen, das vns Christus all mitt seynem kostparlichen plu(e)tvergu(e)ssen erlo(e)ßt vnnd erkaufft hat, Den || hyrtten gleych alls wol alls den ho(e)chsten, kain außgenommen. Darumb erfindt sich mit der geschryfft, das wir frey seyen vnd wo(e)llen sein.
Die Antwort der Mächtigen erfolgte mit dem Schwert.
Die Eisplatten knacken unter den Schritten; wo die Sonne den gefrorenen Schnee erweicht, knirscht er wie fein geklopftes Crushed Ice in einem Glas. Schattseitig trägt die Schneeschicht (ein Einsinken bis zu den Knien bleibt die Ausnahme), die Sonnenhänge sind schneefrei: kurz das gelbbraune Wintergras, die Pfade von Silberdisteln gesäumt. Es sind die schönsten Wegstrecken. Nur am Aufstieg zum benachbarten Gipfel darf gelegentlich die Hand zuhilfe genommen werden. Der Geist ist ruhig, das Herz weit offen. Es ist die letzte Bergwanderung in diesem Jahr.
Die Weihnachtstage liegen zurück, der Jahreswechsel rückt näher. Vorher noch werde ich einer Einladung in den Nahen Osten folgen. Ich wünsche allen ein erfülltes, glückreiches neues Jahr! Und freue mich, uns in einigen Tagen wieder zu lesen, inschallah.
Ein gesundes, erfülltes neues Jahr wünsche ich Ihnen und mir noch viele Ihrer Beiträge.
Herzlichen Dank, Ihre Wünsche schätze ich sehr!
Beide Bücher, „Der Atlas“ und die „Ringe“ zählen mittlerweile zu meinen Stammlektüren. Immer wieder zu Hand genommen und darin gelesen.
Zu Sebald: In der Erzählungssammlung „Die Ausgewanderten“ macht er sich nochmals auf um die Städten seiner Kindheit und Schulzeit zu besuchen, meist zu Fuß. Die Erzählung heißt „Paul Bereyter“. Wobei das ganze Buch mich sehr beeindruckt hat . Das Buch „Nach der Natur“ das zu einem Drittel in Wertach spielen soll, kenne ich leider noch nicht.
Auch Dir die besten Wünsche für das neue Jahr.
Man liest sich – und wandert gerne mit (zumindest in Gedanken)
Erich
Wie schön! Und vielen Dank für die Tipps, denn ich freue mich natürlich schon, bald mehr von Sebald zu lesen und hatte diesen beiden Titel noch nicht auf dem Schirm.
Herzliche Grüße
Holger
Also gut, wenn keiner fragt, dann frage ich: Einladung in den Nahen Osten? 🙂
Liebe Andrea, dazu mehr, wenn ich wieder zurück bin. 😉
Lieber Zeilentiger, mit der Aufzählung der Orte Ihrer letzten diesjährigen Wanderung erinnern Sie mich an die Winterorte meiner Kindheit. Hindelang etwa oder Sonthofen. Dort ging W.G. Sebald zur Schule und einer seiner Schulkameraden war Jan Peter Tripp. (Schauen Sie sich unbedingt seine Gemälde an, gell).
Ich wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche, aber vor allem sichere Reise und eine ebensolche Rückkehr und dazwischen einen glänzenden Übergang ins neue Jahr.
Abendschöne Grüsse aus dem leuchtenden Bembelland, Ihr Herr Ärmel
Sie dort im Winter, sieh an. War es schlimm oder verbinden Sie Gutes damit? Danke für Ihren interessanten Hinweis auf Jan Peter Tripp. Ich werde dem gerne nachgehen. Und auch für Ihre guten Wünsche meinen allerbesten Dank.
Abendliche Grüße zurück!
Guten Abend Herr Zeilentiger, ich verbinde mit meinen Erinnerungen nur sehr Gutes. Oberjoch, der Iseler. Schuss fahren. Irgendwann nicht mehr aus dem Lift gefallen zu sein als Kleinärmel, der Pistenschreck. Übernachtungen im Gästezimmer in einer Konditorei und morgens der Duft von frischen Backwaren ~~~ hach ~~~
Sehen Sie, da haben Sie Erinnerungen aus meiner Heimat, die ich nicht habe. 🙂
Sie sind ja auch noch ein junger Mann. Welcher Bäcker backt denn heute noch wirklich selbst ohne vorgefertigte Backmischungen und chemische Beigaben? Das ist der Vorteil des Alters, man kann sich freudig erinnern, zumindest an die schönen Dinge des Lebens 😉
Und wie Sie auch hier wieder elegant alles ins Gute wenden. Waren Sie eigentlich einmal Diplomat? 😉
Ich hoffe nicht, denn dann wäre meiner Sprache nicht zu trauen 😉
Morgendlichschönenachfrühstücksgrüsse aus dem klaren Bembelland
Lieber Holger, danke für diese letzte Bergwanderung. Ich muss sagen, ich habe mich mit den „Ringen“ schwergetan – es war mir ein bisschen zu viel Verfall. Vielleicht bin ich ja noch (im Herzen) zu jung für das Buch. 🙂 Ich wünsche Dir jedenfalls auch einen guten Start ins neue Jahr und freue mich, bald wieder von Dir zu lesen.
Ach diese schöne, unbeschwerte Jugend! 😉 Liebe Peggy, ich hoffe, ihr seid gut ins neue Jahr gekommen!
Oh, lieber Herr Zeilentiger, weiterhin gute Wege, glückliche Reisen, nicht minder glückliche Heimkehr und Himmel, der kein Ende nimmt! Ich freue mich derweil auf und über Tigerzeilen.
Zur Soziologie der Butterbrotdosen: die Füllung hat meiner Erfahrung nach nicht viel mit Mann oder Weib zu tun. Ich zähle zu den Puristen: Stück Speck, Tafel Schokolade, Flasche Leitungswasser; die letzten Male Kuchen, Eier, Obst, Heißgetränke und belegte Brote verdankte ich meinem Wanderbegleiter.
Zu „Leserinnen, die Sebald und Ransmayer lieben, mögen auch“ würde ich sagen: Robert Macfarlane, Nicolas Bouvier und natürlich Wolfgang Büscher. Aber da ich wohl offene Türen einrennte, sag ich nix. ,)
Und nochmals so wunderschöne Zeilen, auf die ich spät erst (und nach glücklicher Rückkehr) reagiere. Liebe Lakritze, herzlichen Dank, Ihnen soll’s nicht minder gehen in diesem Jahr, hoffe ich! Die Puristin hatte ich ja beinahe vermutet. Und bloß gut, dass Sie eben doch was gesagt haben, sonst wären mir zwei verheißungsvolle Autoren womöglich entgangen. (Büscher kenne ich, von den beiden anderen habe ich noch nichts gelesen.) Also bitte nie verfrüht schweigen!
Ach, ich habe ja doch einen Robert Macfarlane im Regal, nur noch nicht gelesen.
Welchen denn?
„Karte der Wildnis“. Eben aus der Folie befreit. Gleich im Zug anlesen.
Ah, das wird „The Wild Places“ sein. Ich kenn’s nur auf Englisch; eine Einschätzung zur Übersetzung würde mich interessieren. (Noch ein heißer Tip — wird vermulich nicht übersetzt –: „The Garden in the Clouds“ von Antony Woodward. Ganz wunderbare Geschichte.)
Danke für diesen weiteren Tipp. Ist festgehalten.
Lieber Zeilentiger, habe mit großer Freude Deinen wundervollen Text gelesen…ich frage mich auch, warum ich bis jetzt brauchte, um endlich zu beginnen „Austerlitz“ zu lesen, aber jetzt bin ich auch schon ganz sehnsuchtsvoll nach den „Ringen des Saturns“ und an den „Atlas“…weiß noch nicht, ob ich mich da rantraue… Wünsche Dir das Allerbeste im Neuen Jahr und freue mich sehr drauf, weiter bei Dir lesen zu dürfen! Chodâ hâfez, lieber Wildkatzenbruder!
Salam, liebe Wildkatzenschwester, sind das schöne Zeilen, auf die ich dir erst jetzt etwas verspätet antworte. Auf „Austerlitz“ freue ich mich und wüsste nicht, weshalb du dich an die beiden anderen genannten Bücher nicht herantrauen solltest. (Vielleicht nur aus meiner eigenen Leseerfahrung: Falls dich das erste Kapitel von den „Ringen des Saturns“ irritiert, überspringe es – unter uns gesagt, hatte ich es ganz so gemacht.)
Auch dir ein wunderbares Jahr!
Ach, das Allgäu. Jeden Sommer fahre ich dorthin um mein Herz zu lüften. Dank Dir, dass Du es zum Jahreswechsel mit Deinen Worten noch einmal tust.
Komm gut ins neue Jahr und beglücke uns auch weiterhin mit Deinen wunderbaren Texten!
Herzlich, Kat
Ganz herzlichen Dank, Kat, das freut mich alles wirklich sehr. Ich wünsche dir zum guten Jahr auch schöne, künftige Entlüftungen! Herzliche Grüße aus Schneetreiben (nicht im Allgäu), Holger
Hallo Holger, dir auch ein schönes neues Jahr!
Morgengrüße vom Lu
Danke sehr, Lu, ich hoffe, du bist gut ins neue Jahr gekommen!
Ja, Holger, prächtig, trotz dichtem geheimnisvollen Nebel in der Neujahrsnacht…
Morgengrüßle vom Lu
Im RansmayrBuch lese ich immer wieder. In aller Ruhe eine Geschichte, meistens in der Dämmerstunde. „Ich sehe…“!
Wie Du Landschaften, Dinge und Geschehnisse beschreibst, wirkt so angenehm bisschen aus der Zeit gefallen auf mich. Somit wunderbar! Neujahrsgruß von Sonja
„Ich sehe …“, ja, das finde ich auch ganz großartig.
Danke, Sonja, fürs Gernelesen. „Angenehm bisschen aus der Zeit gefallen“ – das lässt mich schmunzeln und ich bin ich froh, dass Du nicht altmodisch geschrieben hast, das hätte mir dann doch zu denken gegeben. Ein erfülltes neues Jahr!
Haha, habe ich doch tatsächlich rechts und links vertauscht. Herzlichen Dank für die telefonische Korrektur!
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