Unsere Städte von Morgen

Bäume binden CO2, das wissen wir alle. Wie weit aber kommt ein SUV mit der täglichen Bindekapazität einer gesunden, fünfzigjährigen Platane? Die Antwort: 300 Meter. Dann hat die beliebte Geländelimousine das Fassungsvermögen des Baumes erschöpft. Damit ist eigentlich alles gesagt. Aber warum ist so etwas, obwohl wissenschaftlich bekannt, nicht Teil des gesellschaftlichen Diskurses?

Ein anderes Beispiel. In den nächsten 16 Jahren wird die Weltbevölkerung um voraussichtlich zwei Milliarden Menschen wachsen. Zwei Milliarden Menschen – das entspricht der Weltbevölkerung von 1930 – werden Wohnraum benötigen, der heute noch nicht existiert. „Wir bauen die komplette Welt von 1930 noch einmal.“ Aber wer tut das? Wie? Wo? Und nicht zuletzt: Womit? (Denn die Welt verfügt über zu wenig Stahl, auch Holz ist begrenzt.) Und welche zusätzlichen Emissionsbelastungen bedeutet das eigentlich? Riesige soziale Verwerfungen stehen uns bevor, für die wir kein Rezept haben.

Das sind zwei Problemfelder, mit denen Werner Sobek, Bauingenieur und Architekt, die Diskussion „Über die Stadt von Morgen“ mit dem Stadtplaner Detlef Kurth im Literaturhaus Stuttgart (im Rahmen der Veranstaltungsreihe des Wirtschaftsclubs „STADT: Heimat oder Wohnmaschine?“) eröffnet. Eines wird dabei ganz schnell klar: Wir werden unsere Städte radikal anders organisieren und bauen müssen.

Energetisches Umdenken

Energie ist dabei kein grundsätzliches Problem, weil anders als so viele Dinge nicht per se Mangelware. Schauen wir in den Himmel: Unsere Sonne liefert der Erde ein Zehntausendfaches der Energie, die wir derzeit benötigen. Selbstverständlich haben wir nach wie vor das Problem der Speicherung solarer Energie nicht zur Zufriedenheit gelöst. Sobek ist zuversichtlich. „Wir arbeiten seit zehn Jahren daran. Das ist nicht viel Zeit. Schauen Sie, Atomkraftwerke betreiben wir seit 70 Jahren, und haben bis heute keine Lösung für die Endlagerung.“

Wie so oft in ernsthaften Debatten heißt es also zu differenzieren. Energie sparen – ja, das müssen wir ganz dringlich in Bezug auf fossile Träger. Energie sparen müssen wir in wenigen Jahren vielleicht nicht mehr, wenn wir neue Lösungen für die Nutzung der Solarenergie gefunden haben. „Wenn wir das gelöst haben, könnten wir auch in Papphäusern leben. Das wäre eine ganz neue ästhetische Dimension!“

Die Diskussion im Literaturhaus schärft den Blick für manch weitere energetische Frage, etwa die trügerische Umrechnung von Energieverbrauch auf Quadratmeter statt Verbrauch pro Kopf, wie es eigentlich sinnvoll wäre; oder das Problem der sogenannten grauen Energie, die beim Bau aufgewendet wird: für die Herstellung von Werkzeugen, die Baumaterialien, Transport, Arbeit. Beim ersten Betreten eines neuen Hauses ist in das Gebäude bereits so viel Energie gesteckt, wie die künftigen Bewohner in 25 bis 35 Jahren verbrauchen werden! Kann es da wirklich in jedem Fall sinnvoll sein, schlecht gedämmte Gebäude abzureißen, um sie durch wärmegedämmte Bauten zu ersetzen? Wir sollten genau hinschauen, ab wann sich so etwas rechnet, indem wir die graue Energie mit in unsere Kalkulation einbeziehen. Und sind unsere Erwartungen an Standards nicht sowieso zu hoch? Weil wir uns unsere Vorstellungen von Wärmedämmung oder Lärmdämpfung gar nicht wirklich leisten können?

Das Prinzip der Schwesterlichkeit

„Wir haben ja alle etwas falsch gemacht“, gesteht Sobek. Nämlich mit der Systemgrenze „Haus“, also einem einzelnen Objekt, losgelöst von seinem Kontext (ein so klassischer Fehler unseres empirischen Spezialistentums). Diese Systemgrenzen müssen wir wieder aufheben. Nicht mehr das aus seinem Zusammenhang gerissene Individuum hat gewisse Bedingungen zu erfüllen, sondern eine Gruppe von Entitäten. Sobek nennt es das Prinzip der Schwesterlichkeit. Neue Häuser sollen also alte mitversorgen können, so das Ziel.

Verwirklicht hat Sobek dieses Prinzip in seinem Haus B10 auf dem Stuttgarter Killesberg, das im Juli 2014 als weltweit erstes „Aktivhaus“ eingeweiht wurde. Ein Haus also, das mehr Energie erzeugt, als es verbraucht, und zwar aus nachhaltigen Quellen. „Mit dem gewonnenen Überschuss werden zwei Elektroautos und das unter Denkmalschutz stehende Haus des Architekten Le Corbusier (seit 2006 Heimat des Weißenhofmuseums) versorgt“, schildert die Projektseite. Um noch effizienter zu werden, kommuniziert das Aktivhaus mit dem Wetterdienst und seiner Nachbarschaft, es ist also ein intelligentes, selbstlernendes Haus, eingebunden in sein Umfeld.

Das Modell der Zukunft? Kurth relativiert. Der Weg, so faszinierend er auch ist, birgt zugleich die Gefahr, zu sehr auf rein technizile Lösungen zu setzen. Und vielleicht wollen wir – denken wir an Datenmissbrauch – gar nicht alle solche intelligenten Häuser.

Du sollst dir kein Bild machen

Stuttgart, da sind sich die beiden Referenten einig, ist die reichste Großstadt Deutschlands – und kann genau das nicht inszenieren. (Das gilt nicht nur für die Stadt: Die Metropolregion zählt zu den innovativsten Europas und es gibt nicht einmal ein „Haus der Region“.) Wie jeder weiß, der sich dieser Stadt von außen angenähert hat, erschließt sich Stuttgart nicht schnell. (Das war ja im Übrigen eine der Grundmotivationen für den Blog Zeilentiger liest Kesselleben.) Kurth macht dafür eine Beliebigkeit im Erscheinungsbild der Stadt verantwortlich und spitzt das Problem zu: Letztlich ist es sogar zweitrangig, welches Bild eine Stadt vermittelt – solange sie überhaupt eines vermittelt.

Daran tut sich Stuttgart offenbar schwer. Beispiele? Bitte sehr: Es wird keine Idee der Innenstadt diskutiert. – Stadtgestaltung findet viel zu wenig in der Öffentlichkeit statt. (Dabei sind die Sitzungen des Städtebauausschusses öffentlich, auch die Architektenkammer hat auf ihrer Website viele Veranstaltungen für die Öffentlichkeit. Wer will, kann sich hier informieren.) – An der Bautafel eines umstrittenen Einkaufszentrums war nicht einmal der Name des Architekten zu lesen. (Hatte er sich geschämt?) – Die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (Kurth ist Stellvertreter der Landesgruppe Baden-Württemberg) hat einen Vorschlag für eine Neugestaltung der Hauptstätter Straße – Stichworte: Stadtautobahn, bundesweiter Spitzenplatz der Feinstoffbelastung und ein Paradebeispiel städtebaulicher Hässlichkeit – vorgelegt. Niemand greift ihn auf. „Warum passiert da nichts?“, klagt Kurth an.

Von der misslungenen Vermittlung von S21 ganz zu schweigen. Eine Parallele aus der Geschichte zeigt, wie Stadtplanung auch gehen kann: Als Baumeister Paul Bonatz den Hauptbahnhof entwarf, war der Widerstand in der Bevölkerung ähnlich groß. Die Reichsbahn reagierte frühzeitig, ließ Modelle des geplanten Bahnhofs in Serie bauen und mit Erklärungen versehen und stellte diese Modelle in den Bäckereien und Metzgereien der Stadt aus – dort, wo täglich Menschen ein- und ausgingen. Der Bahnhof wurde zum Wahrzeichen der Stadt. (Bauverzögerungen und Kostenexplosion hatte das allerdings damals auch nicht verhindert.)

Machen wir uns also ein Bild! Und tauschen uns darüber aus. Mehr Mut fordert Sobek: Ja doch, wir könnten doch sagen, wir wollen etwas, was es noch nie gab – im Wissen des Risikos, dass wir uns dabei eine blutige Nase holen. Auf die Frage nach der Machbarkeit nachhaltiger und verantwortungsvoller Stadtgestaltung hat Sobek eine so lapidare wie treffende Antwort parat. Wirtschaftlichkeit kann unmöglich alleiniger Maßstab für Machbarkeit sein. Was wir vergessen haben, ist, in völliger Selbstlosigkeit für kommende Generationen zu planen und zu handeln. Ein griechisches Sprichwort fasst es zusammen: „Einen Olivenbaum pflanzt man für die Enkel.“

Das Gespräch hatte bereits am 24. März in Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftsclub im Literaturhaus Stuttgart stattgefunden. Die Fragestellungen bleiben aktuell. Einige von ihnen werden uns unser Leben lang begleiten und herausfordern.

Die Links im Text bieten weitergehende Informationen.

Filderstraße 75 – Architekturfotografie und die Häutungen des Lebens

Am Ende eines langgestreckten, hellen Raumes sitzt er an einem Schreibtisch, ein hochgewachsener Mann mit leichter Goldrandbrille und grauem Millimeterhaarschnitt. Ein Blick in das schmale Gesicht zeigt, der da muss ein kluger und gebildeter Mensch sein, doch zugleich ein Mann der Tat. Kein Professor der Philosophie, sagen wir einmal, eher noch Oberarzt in Freizeitklamotten. Ich grüße durch den lichten Raum, er kommt mir entgegen, die Finger an den Gläsern. „Ich habe die Lesebrille auf, da muss ich erst mal näher treten, um zu sehen, wer das ist“, erklärt er. Ich stelle mich vor, mein Name sagt ihm erst einmal nichts, obwohl er mir erst vor ein paar Tagen aus eigener Initiative geschrieben hat, bei meinem Blognamen weiß er mich dann einzuordnen. „Freut mich, dass du kommst. Und ein schönes Hemd, Mensch!“, sagt er und fasst den Saum meines roten Karohemdes.

Ich stehe in der Fotogalerie f75, nur ein paar Schritte weg vom zentralen Marienplatz – man sieht ihn sogar von der Tür der Galerie aus – und doch fast versteckt in einem Hinterhof. Nach links und rechts ziehen sich die Rückseiten der Gründerzeithäuser fünf Stockwerke oder so in den Himmel, die Galerie liegt hinter einer einladenden Glasfront gegenüber der Hofeinfahrt. Vor einigen Jahren war sie noch eine heruntergekommene Töpferei. Dann erwarb Wilfried Dechau den Raum. Zuerst hatte er nur an das Hinterzimmer (ein enger Doppelgang um deckenhohe Archivschränke, vorne eine winzige Küche, Dutzende Gläser für Vernissagen, hinten in Pappe die großformatigen Bildabzüge, Bücher, Zeitschriften, Lichtbilder) als trockenen Stauraum gedacht, am Ende hatte er eine Galerie. „Ein teures Hobby“, erläutert er.

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Revier im Untergrund – Johannes Marburg: BodenHaltung (zum Vergrößern bitte klicken)

Seit dem 13. März sind in der Galerie f75 Werke des Architekturfotografen Johannes Marburg zu sehen: Marburg hatte den Auftrag, die Mensa der Uni Würzburg – 1978 von Alexander von Branca errichtet und nun sanierungsbedürftig – vor dem Umbau fotografisch zu dokumentieren. Unter Fluchten von Rohrsystemen, zwischen labyrinthischen Abluftkanälen stieß Marburg auf kleine Rückzugsorte von Mitarbeitern der Mensa. Sie inspirierten den Fotografen am Rande seiner Auftragsarbeit zu seiner Serie „Das Würzburger Zimmer“: Inseln in einem lebensfeindlich wirkenden Areal, Unterweltaufnahmen, die an die Morlocks aus H.G. Wells „Zeitmaschine“ erinnern und auf den zweiten Blick neben Stereotypen mit unerwarteten Details aufwarten.

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Suchbild mit Tiger – Johannes Marburg: Gewusst wie (zum Vergrößern bitte klicken)

Galerist Wilfried Dechau ist selbst Architekturfotograf. Er hatte einst Architektur studiert, wechselte nach ein paar Jahren an einem Lehrstuhl für Baukonstruktion und Industriebau dann ins Verlagswesen und war lange Chefredakteur einer bekannten Architekturzeitschrift, die damals noch bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart zuhause war. Dann hatte ihm das Leben in die Hacken getreten, wie er es nennt, und er hatte sich selbständig gemacht in einem Alter, in dem manche im Geiste bereits in der nahen Rente dahindämmern. Aus seinen Fotografieprojekten sind zahlreiche Buchpublikationen entstanden, so zuletzt 2013 „Baakenhafenbrücke Hamburg – Fotografisches Tagebuch“ oder 2009 – und mit einer größeren Relevanz als je zuvor – der anregende Band „Moscheen in Deutschland“. In der Stuttgarter Weißenhofgalerie wird Wilfried Dechau demnächst mit Aufnahmen zu „So-da-Brücken“ zu sehen sein, Brücken, die (wegen eines zeitweiligen oder dauerhaften Baustopps) im Nichts enden – funktionslos einfach so da sind.

Betreten habe ich die Galerie f75 aus einer verhaltenen Neugier heraus. Und schließlich wird der Besuch viel mehr als eine Bildbetrachtung oder eine Ortsbesichtigung. Wilfried Dechau scheut das Gespräch nicht, er gibt spannende Einblicke in die Verlagswelt und in Zeitschriftenredaktionen, in Kunstausstellungen und Fotoprojekte und nicht zuletzt in das Leben selbst. Und fragt zurück. Am Ende tauschen wir uns über die Häutungen des Lebens aus. „Gut, in meinem Alter fängt man nichts völlig Neues mehr an“, meint Wilfried Dechau. Er ist 70 Jahre alt und doch: „nichts völlig Neues“, das zeigt doch zugleich den Mut, wäre es angebracht, etwas zumindest irgendwie Neues zu beginnen. Als ich gehe, nehme ich etwas mit aus der Galerie, im Herzen und im Kopf.

Die Eröffnung zu „Johannes Marburg | Das Würzburger Zimmer“ am 13. März hatte ich verpasst. Am 2. April geht die Ausstellung bereits wieder zu Ende – Baumaßnahmen an der Rückwand des Gebäudes machen es notwendig. Donnerstag diese Woche ist also die letzte Gelegenheit, die Fotografien von Johannes Marburg in der Galerie f75 zu sehen. Auf die nächste Ausstellungseröffnung in der f75 freue ich mich.

Ludwigsburg Museum − Von der barocken Idealstadt zum freien Raum schlechthin

ludwigsburg museum_9783899862003Über dem kleinen Städtchen Murrhardt − etwa 40 Kilometer von Stuttgart entfernt zwischen den Hügeln des Schwäbisch-Fränkischen Waldes − thront eine der schönsten und besterhaltensten Jugendstilvillen Deutschlands. Die Villa Franck, benannt nach dem einstigen Ludwigsburger Kaffeefabrikanten Robert Franck, wird dem unbedarften Wanderer zur Epiphanie: der in der ländlichen Idylle unerwarteten Erscheinung eines hochherrschaftlichen Ausdrucks wilhelminischen Großbürgertums.

Die Industriellenfamilie Franck hat nicht nur im beschaulichen Murrhardt bis heute wahrnehmbare Spuren hinterlassen, sondern war an ihrem wirtschaftlichen Wirkungsort Ludwigsburg geradezu sprichwörtlich geworden mit dem „Ludwigsburger Gschmäckle“ − dem Röstaroma der Zichorienfabrik, das bis heute (der Caro-Kaffee ist längst Teil des Nestlé-Konzerns) bei Westwind in Ludwigsburg zu erschnuppern ist. Der Ersatzkaffee steht für eine württembergische Erfolgsgeschichte der Industrialisierung. 1868 in Ludwigsburg angesiedelt, machte Franck den Ersatzkaffee zu einem Massenprodukt mit internationalem Vertrieb und schuf mit seiner Handmühle für den ‚kleinen Mann‘ die erste Schutzmarke der Welt. Als einer der wichtigsten Arbeitgeber vor Ort formte die paternalistische Kaffeemittelfabrik aber auch das neue Gesicht der ehemaligen württembergischen Residenzstadt: Das Stadtbild sollte ‚arbeiterfrei‘ sein, Arbeiterfamilien daher im ländlichen Umland siedeln und als mit „Fersengeld“ ausgestattete Fußpendler täglich in die Fabriken ein- und ausziehen.

Die Bedeutung der Familie Franck für Ludwigsburg ist nur eine von vielen Facetten der noch jungen Stadtgeschichte, die seit 2013 im völlig neu konzipierten Stadtmuseum bzw. seit diesem März in der begleitenden Buchpublikation „Ludwigsburg Museum“ des Verlags avedition nachvollziehbar wird.

Während Stuttgart noch auf sein Stadtmuseum wartet (der Umbau ist in Gange), hatte das benachbarte Ludwigsburg mit dem MIK (Museum Information Kunst) bereits sein modernes Museum innerhalb barocker Mauern erhalten. Ein Grundanliegen ist, dass das MIK mehr als nur ein Museum darstellt. Das städtische Kultur- und Informationszentrum beherbergt neben dem Ludwigsburg Museum den Kunstverein, die Touristinformation der Stadt und ein Café „Zichorie“. Damit holt das Museum die Stadt der Gegenwart in die eigenen Mauern und wird wie diese zum Raum, „in dem Ereignisse und Haltungen aufeinander treffen dürfen“. Es erhebt damit den Anspruch, Stadt und Museum wie Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verschränken, also die Trennung von Innen und Außen, letztlich von Subjekt und Objekt (dafür sprechen auch die ausgestellten Porträtfotografien von Bewohnern Ludwigsburgs) aufzuheben.

Rund 25 000 Sammlungsstücke zur Kulturgeschichte Baden-Württembergs umfassen die Bestände, davon zeigt die Dauerausstellung 500 Stücke aus der 300-jährigen Geschichte der Planstadt Ludwigsburg. Kernstück der Ausstellung sind sechs thematisch konzipierte Räume: „Guter Fürst“ (über die Erbauung von Schloss Ludwigsburg als Keimzelle der Stadt), „Idealstadt“ (die Gründung einer ‚idealen‘ Stadt in der Nähe des Schlosses ab 1709 durch die württembergischen Landesherren), „Musensitz“ (der großen Geister der Stadt wie Friedrich Schiller, Eduard Mörike, Justinus Kerner oder David Friedrich Strauß), „Neuerfindung“ (im Zuge der Industrialisierung und dank vieler mit Ludwigsburg verbundener Erfindungen, die zu Klassikern der Moderne wurden, darunter Aspirin, Botox oder die Handbohrmaschine), „Soldatenstadt“ (von 1737 bis 1994 war der Ort Garnisonsstadt) und „Bürgerstadt“ (in dem das Selbstverständnis der Bewohner von der Zeit des Nationalsozialismus bis heute hinterfragt wird). Die Exponate stehen für sich, Erläuterungen sind von den Ausstellungsstücken räumlich getrennt: Anregung zur Eigeninterpretation − das fordert bereits das „Stadtbild“ im Eingangsbereich des MIK. Das Museum versteht sich damit nicht länger als ein Raum, der dem Bürger als Adressaten Modellentwürfe von Geschichte und Gesellschaft anbietet, sondern den Besucher einbindet und zu eigener Sinngebung anregt.

Die Wahl der avedition, des Verlags für Architektur, Design und Ausstellungsgestaltung, bis vor Kurzem in Ludwigsburg sesshaft, war für die begleitende Publikation naheliegend. Das Buch „Ludwigsburg Museum“ übernimmt im Wesentlichen die konzeptionelle Gliederung des Museums − inklusive des unterhaltsamen „Anekdoten-ABCs“, das über das Haus bzw. das Buch verteilt mit alphabetisch geordneten Schlagwörtern eine andere Möglichkeit des Erzählens von bzw. der Stadtgeschichte anbietet −, angereichert um Texte u.a. von Arno Lederer (stellvertretend für die sanierenden Architekten Lederer Ragnarsdóttir Oei), dem Museumsgestalter HG Merz und der Museumsleitung Alke Hollwedel. Wie im Museum sind alle Texte konsequent zweisprachig (deutsch und englisch) wiedergegeben. Naturgemäß fordert das Medium Buch dabei eine größere Nähe zwischen Text und Bild als Stellvertreter der Exponate bzw. des Raums selbst. (Das Werk zeigt über 150 hochwertige Aufnahmen von Roland Halbe − Architekturfotografien − bzw. kienzle|oberhammer, verantwortlich für die Objektfotografien).

Stilistisch besticht die zurückhaltende Umschlaggestaltung − die hochauflösende Abbildung einer Grundmauer in Grautönen mit minimalistischer weißer Beschriftung. Inhaltlich transportiert sie gleichermaßen Beginn und Historizität, Fundament wie Herausforderung und schafft in Entsprechung zur Fassade, zu den Grundmauern des Museums den Rahmen für seinen reichhaltigen Inhalt. Den spiegelt gestalterisch der Goldton im Innenteil des Buches wider. Während der dezent schmückende Charakter im Textteil (in Titeln, Initialen usw.) elegant unterstreicht, wirkt der goldene Vorsatz (genauer: gold bedrucktes Bilderdruckpapier des Werkes) allerdings doch zu flächig und opulent. Nebenbei ist das Gold anfällig auf Fingerdruck und schlägt sich schnell auf den gegenüberliegenden Seiten nieder − so gesehen kein Buch für die intensive Benutzung.

Nichtsdestotrotz legt avedition mit der Ausgabe eine ansprechende Handreichung zum Ludwigsburg Museum vor. Für den erst im Februar nach Stuttgart umgesiedelten Verlag eine sehenswerte Neuerscheinung und ein viel versprechender Start am neuen Standort. Lassen wir uns also vom Ludwigsburg Museum zu unserer eigenen Deutung von Raum und Zeit verführen.

Ludwigsburg Museum. Herausgegeben von der Stadt Ludwigsburg und Alke Hollwedel. 238 Seiten mit 152 farbigen Abbildungen. Gebunden.  2014, Ludwigsburg Museum, avedition GmbH, Stuttgart.

Darüber hinaus auf zeilentiger liest kesselleben …

Einen Beitrag zu avindependent, des früheren Schwesterunternehmens von avedition, bietet diese Filmpremiere.

Auch das im Werden begriffene Stadtmuseum Stuttgart fand bereits Nennung.

„Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.“

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Ein Sonntagsausflug hatte mich heute wieder in Stuttgarter Außenbezirke geführt, die zwischen mangelndem Charakter und schierer Trostlosigkeit changieren, und auch der Kurzbesucher erlebt, wenn er in Stuttgart-Mitte vorstößt, die Stadt mit ihrer kalten Büroarchitektur nicht von ihrer verführerischsten Seite.

Zu den Juwelen in der Krone der Stadt gehören hingegen die Straßenzüge aus den Zeiten von Historismus und Jugendstil. Von ihnen haben trotz der Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg (Wikipedia spricht von 57,5 Prozent zerstörter oder beschädigter Bausubstanz) genügend überlebt, um sich fast wie ein Ring um das Zentrum zu ziehen. Die abwechslungsreichen, detailverliebten Fassaden sind Fußgängerarchitektur und keine Autofahrerarchitektur, für die Feinheiten geschwindigkeitsbedingt nebensächlich sind, und vielleicht deshalb sprechen sie viele von uns so unmittelbar an. In diese Straßen, durch die ich jeden Tage spaziere, habe ich mich längst verliebt. Sie sind in meinen Augen ein wahrer Schatz.

Wird in die Erhaltung dieser Fassaden nicht investiert, verlieren sie ihren Liebreiz rasch; erst recht, wenn sie (wie es häufig der Fall ist) aus dem auf Umwelteinflüsse empfindlich reagierenden Sandstein sind. Und wirken manchmal, als trügen sie noch immer die Narben des letzten Krieges, wie dieses Haus in der Hauptstätter Straße, Stuttgart-Süd.