Kleinkönigreiche

„Er stand auf seines Daches Zinnen / Er schaute mit vergnügten Sinnen / Auf das beherrschte Samos hin“, zitiert der Fastachtzigjährige von meinem schmalen Balkon herab. Dann lacht er auf. „Das da ist Samos“, sagt er und deutet auf den abgewrackten Reisebus meiner Nachbarin unter dem Balkon. Der grüne Lack weist handtellergroße Lücken auf, die Kuppel vor dem Oberlicht ist von einer Unterführung halb herabgerissen, die dunklen Flecken wirken beinahe moosig.

Was sie dazu sagen würde, die scheidende Intendantin in der Ruhestandskrise? „Der Bus ist meine Freiheit, meine Heimat, mein alles“, würde sie sagen zu ihrem Königreich. Der innere Friede Samos’ aber ist in steter Gefahr, die gute Policey von Mäusen bedroht. Sie nisten sich ein in dem Bus und treiben die Herrscherin zur Verzweiflung. „Wie wäre es mit einer Katze?“, schlug ich einmal vor. Die Nachbarin war begeistert, doch eine Gestreifte ernannte sie trotzdem nicht zur Statthalterin ihres Reiches. Schade eigentlich. Gerne hätte ich diese von meinem Balkon herab gelockt − „whwhwhwh, tststststs“ − und wenn sie sich gezeigt hätte, wäre ich von meinem eigenen Kleinkönigreich hinabgestiegen zu einem Staatsbesuch. Und Friede würde blühen, bis der Scharfmacher des westlichen Reiches (ein paar Olivenhaine kleiner als meines), Nachbars Pudel also, zum Angriff bliese oder ein Keifen von ganz oben die Eintracht störte und all die Taifas wieder in Aufruhr brächte.

„Gestehe, dass ich glücklich bin“, hebt der Fastachtzigjährige noch einmal an. Er kippt den letzten Schluck aus dem Whiskeyglas hinab − die Flasche auf dem Regal ist inzwischen seine −, verstaut zwei weitere Romane von Graham Greene, die er in ein paar Wochen (inschallah) zurückbringen wird, und macht sich auf zu seinem Fahrrad, Samos im Rücken.

7 Gedanken zu „Kleinkönigreiche

  1. (Notat an mich: „…and the mouse police never sleeps“ (Jethro Tull))
    Ich mag Ihre kurzen silbenwortsatzgewebten Streiflichter. Was gezeigt werden soll ist beleuchtet, anderes verhält sich im Halbschatten oder bleibt gar ganz im Dunkel. Mit wenigen Sätzen eine Geschichte: Chapeau!
    Abendruhfröhliche Grüsse vom Schwarzen Berg

    • Haben Sie gestern noch „Heavy Horses“ aufgelegt? Es ist ja erstaunlich, dass auf dem Album gleich zwei Songs Mäusen gewidmet sind. „One Brown Mouse“ würde ich gerne einmal selbst spielen können, mit anderen zusammen meine ich, aber das führt jetzt zu weit ab.

      Ich danke Ihnen! Gut ist’s, wenn ein solches Streiflicht es schafft, eine kleine Geschichte zu sein. Ob mir das auch mit Längerem gelänge? Ich zweifle. Aber halt, auch das führt zu weit.

      Abendbrütende Grüße über die Sieben Berge

      • Vorgestern Abend? Ja, sicher doch: Heavy Horses. Von Zeit zu Zeit immer wieder gerne gehört.

        Geschichten aus Längerem? Sie zweifeln? Zwei-feln? Na, immerhin sehen Sie da doch schon zwei Möglichkeiten offen vor sich liegen. Entscheiden Sie sich einfach für die Richtige.
        Durchwachsensommermorgendliche Grüsse vom Schwarzen Berg

  2. Neben den Mäusen spielen auch Motten, Pferde, Katzen und ein Wetterhahn eine Rolle – jedenfalls bei Ian Anderson. Und vielleicht auch im Reisebus?
    LG von Rosie

    • Ah, eine Kennerin, wie schön! Pferde würden in den Bus wohl nicht passen (und einen Topf voll Gold am Ende des Regenbogens erwarte ich dort auch nicht), aber Motten, das könnte sein. Wobei die gerade sicherlich aus dem Wagen geweht werden, denn keine zwei Tage, nachdem ich vom Bus erzählte, ging der auf Sommerfahrt. – Ich freue mich auf die nächste Skizze aus dem Hochgebirge! Herzliche Grüße

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