‚Falestin auf Hebräisch einritzen‘ – Ayman Sikseck, „Reise nach Jerusalem“

Eine Gruppe palästinensischer Israelis demonstriert gegen einen militärischen Schlag Israels in Gaza. Die jungen Araber bereiten ein Plakat vor und stoßen auf eine simple Schwierigkeit: „Ich habe die Parolen so draufgeschrieben, wie ihr es haben wolltet, auf Arabisch, Hebräisch und Englisch. Allerdings habe ich vergessen, was ‚Transfer’ auf Arabisch heißt.“

Sikseck_9783716026878Es ist eine archetypische Situation in Ayman Siksecks kleinem Roman „Reise nach Jerusalem“. Jeder fünfte israelische Staatsbürger ist Araber. Und wie bei diesen jungen Demonstranten oszilliert ihre Identität zwischen zwei Welten, zu denen beiden sie nicht wirklich gehören. Sikseck, Jahrgang 1984, ist selbst einer dieser palästinensischen Israelis (oder Palästinenser in Israel, wie die Nomenklatur auch lautet). Er schreibt auf Hebräisch Kolumnen für Tageszeitungen und legt mit „Reise nach Jerusalem“ (treffender der Original-Titel: El Yafo, also Jaffa, der arabische Teil von Tel Aviv, woher Sikseck stammt) seinen ersten Roman vor.

Der Erzähler und seine Schwester versuchen sich im palästinensisch geprägten Jaffa zu emanzipieren: durch ein Studium, durch Arbeit im jüdisch-arabischen Gemeindezentrum, gegen die patriarchalisch-konservativen Strukturen ihrer Familie, gegen die – absichtlichen oder unabsichtlichen – Bevormundungen durch die hebräische Gesellschaftsmehrheit. Der Erzähler lebt in einem dauerhaften Zustand der Hin- und Hergerissenheit. Seine arabische Freundin Scharihan darf er nur heimlich treffen, solange er nicht offiziell um ihre Hand anhält. Ihre romantischen Spaziergänge vollziehen sich mit weitem räumlichen Abstand zwischen sich, um nach außen ja nicht den Eindruck irgendeiner Verbindung aufkommen zu lassen (sehr begehrt deshalb der Marktbesuch, weil man sich in dem Gedränge unweigerlich körperlich näher kommt), und endet „an der bröckelnden Rückwand eines alten Restaurants“, wo sie unter dem Abluftgebläse der Küche einen Moment der Intimität erleben können, wenn sie nicht ihr schwieriges Verhältnis über den Umweg der „Antigone“ und anderer klassischer (abendländischer) Literatur klären. (Ja, sie kennen Dostojewski oder Proust besser als Ghassan Kanafani, diese wichtige literarische Stimme der Palästinenser des 20. Jahrhunderts.) Und auf der anderen Seite steht seine israelische Freundin Nitzan, eine lebensoffene Soldatin, mit der er die Premiere des neuen Films der Coen-Brüder besucht und die ihn in Discos entführt und ihn erst mit Alkohol abfüllen muss, um ihn irgendwann abzuschleppen.

Die Kinder im palästinensischen Viertel feiern auch die jüdischen Feste – genauso wie ein längst globalisiertes Weihnachtsfest unter der Ägide von Santa Claus – und Jugendfreund Said grübelt über das Laubhüttenfest: „In der Grundschule gab es einiges, von dem wir dachten, es würde uns gehören, und dann war’s doch nicht so.“

Manchmal erhält dieses Leben zwischen den Identitäten etwas geradezu Unwirkliches. Wenn sich palästinensische Israelis außerhalb ihres heimischen Viertels begegnen, suchen sie bisweilen verlegen nach der sprachlichen Form – Arabisch, Hebräisch? – für ihr Gespräch; trifft der Erzähler Palästinenser mit dem Akzent der Besetzten Gebiete („ein militantes, krachendes Arabisch“, wie er es empfindet), wird er selbst wachsam und – ein Höhepunkt – auf den Busfahrten findet er sich von der gleichen Angst, der gleichen Paranoia vor Selbstmordattentaten gefangen wie die jüdischen Israelis, wenn er unruhig die Taschen der arabischen Mitreisenden mustert.

Die jungen Leute schauen Shrek II oder die Bourne-Trilogie, sie gehen zu IKEA, um sich einzurichten, und beugen sich zuhause dann doch dem Diktat der frommen Väter und Onkels und den Ehen, die ihre Eltern gegen ihre Herzenswünsche arrangieren. Während der Erzähler durch die Stadt irrt, immer sein geliebtes Notizbuch bei sich, um sich darin selbst zu vergewissern, sich darin immer wieder neu zu greifen versucht und doch scheitert, nimmt es seine Schwester Samaher gelassener: „Auch wenn’s nicht echt ist […] es kommt in diesem Fall der Echtheit so nahe wie möglich.“ Und fasst die Lage einer Millionenbevölkerung so zusammen: „Manchmal muss man auch das Unechte akzeptieren. […] Weil nichts anderes übrig bleibt.“

Es gibt Bücher, bei denen es sich lohnt, zuerst das Nachwort zu lesen. Sikseck gehört dazu, andernfalls bleiben womöglich zu viele Andeutungen enigmatisch. Der Form nach spürt man, dass der Roman aus Zeitungskolumnen hervorgegangen ist. Stilistisch präsentiert sich Sikseck recht einfach – er ist kein Poet, auch kein Romancier, eher ein junger, zwar fehlerfreier, aber doch noch nach einem literarischen Ausdruck suchender Essayist. So besteht der Roman im Grunde aus vielen kleinen Episoden, die sich aneinanderreihen und die alle – oft etwas aufdringlich – in einer Pointe oder Moral enden. Überhaupt ist das eine der größten Schwächen des Buches: das bisweilen Konstruierte, Künstliche. Erst gegen Ende verliert sich dieser Zug zunehmend und unverfälscht lässt Sikseck den Schmerz sprechen. Es sind erzählerisch die stärksten Seiten des Buches.

Ein spannendes, unbedingt lesenswertes Thema, wenn auch nicht eine immer überzeugende Form. Schön auf jeden Fall, dass es aller Widrigkeiten in der Verlagswelt zum Trotz noch unabhängige Literaturverlage wie Arche gibt, die mit Reihen wie Arche Paradies – von Denis Scheck herausgegeben – Autoren aus aller Welt ein Forum bietet.

Ayman Sikseck, Reise nach Jerusalem. Roman. Mit einem Nachwort von Hanan Hever. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. (Originalausgabe 2010 unter dem Titel El Yafo.) Gebunden mit Schutzumschlag, 155 Seiten. © Arche Literatur Verlag AG, Zürich – Hamburg, 2012.

Helon Habila, „Öl auf Wasser“

„In der Flussmitte war das Wasser klar, näher an den Ufern stand es brackig, eingeschlossen von den Mangroven, in deren Zweigen der Dunst in Klumpen hing wie Baumwollbällchen.“ Seit Stunden und Tagen kämpft sich das Boot durch das unüberschaubare Delta flussaufwärts, hindurch durch eine endzeitliche Landschaft. Ölschlieren treiben auf den Wellen, ein abgetrennter Arm kündet stumm von erbarmungsloser Gewalt, verlassene, aufgegebene Dörfer säumen die Ufer, Rauch und Dunst und Fieberschwaden hängen in der Luft und immer wieder die apokalyptisch aufschießenden Flammensäulen der Ölförderanlagen.

Es ist eine Reise ins moderne Herz der Finsternis, die die beiden nigerianischen Reporter Rufus und Zaq auf der Suche nach den Entführern einer Europäerin auf sich nehmen. Das Land verendet an der Ausbeutung durch die internationalen Ölkonzerne, eine enthemmte Armee und Rebellen liefern sich in den Dschungeln Gefechte und die einfachen Fischer und Bauern fliehen in die Großstadtslums, wenn sie nicht den Rebellen und Banden zulaufen oder in den Konflikten zerrieben werden.

In einem ganz moralinfreien, aber nicht emotionslosen Ton und in zahlreichen Rückblenden, unüberschaubar wie die Arme des Nigerdeltas und zeitlos wie Fieberattacken, lässt der Autor den Nachwuchsjournalisten Rufus von der Irrfahrt ins dunkle Herz des globalisierten Afrikas berichten – mehr als nur ein Polit- und Umweltkrimi.

Von britischen und deutschen Medien hochgelobt, mehrfach preisgezeichnet und mit Joseph Conrad und Graham Greene verglichen (Habila dürfte weniger lakonisch, aber auch weniger routiniert sein), ist „Öl auf Wasser“ nicht der ganz große, runde literarische Wurf, aber ein durchaus packender, lesenswerter Roman des 21. Jahrhunderts.

Der schmale Pappband mit dem ansprechenden Cover (ohne Schutzumschlag) kostet 24,80 Euro – schlichter Realismus eines Kleinverlags mit Nichtmainstreamprogramm. Als Fußnote sei trotzdem angemerkt, dass bei einem solchen Preis gewisse Schwächen der Ausgabe wie eine nicht vorbildgebende Typographie, Mängel im Lektorat (Kommasetzung) oder ein augenscheinlich willkürlich unvollständiges Glossar afrikanischer Begriffe doch einen kleinen Wermutstropfen bilden.

Nichtsdestotrotz – „Öl auf Wasser“ ist eine schöne verlegerische Leistung (die erste deutsche Übersetzung eines Habilatitels) und ein Gewinn für den deutschsprachigen Buchmarkt. Denis Scheck („Druckfrisch“) darf in seinem Urteil über die im Frühjahr 2010 gestartete Reihe zeitgenössischer afrikanischer Literatur freimütig zugestimmt werden: „eine wunderbare neue Buchreihe, die heißt AfrikaWunderhorn“.

Helon Habila, Öl auf Wasser.
Roman. Aus dem Englischen von Thomas Brückner.
© 2012 Verlag Das Wunderhorn

http://www.wunderhorn.de/wunderhorn/content/buecher/pool/978_3_88423_391_7/index_ger.html