Da sieht man wieder einmal, das Leben ist kein Picknick. Wir sind auf dem Weg zur Sonnenfinsternis und stellen fest, die geistige Finsternis ist längst schon da.
Auf dem spiralförmigen Weg zum Birkenkopf unterhalten wir uns über Dryaden und die Verführung durch Baumgeister. Vor uns gehen zwei Männer, der Ältere stumm und entschieden, der Jüngere schweifend und rastlos. Er trägt eine offene Bierflasche in der Linken, eine geschlossene in der rechten Hosentasche und wirkt, als wären sie die letzten Posten einer durchzechten Nacht. In Armreichweite von uns tritt er an einen Baum zum Pinkeln, schließt dann wieder zum Älteren auf, bleibt unmittelbar auf dem Weg stehen, schießt in gekrümmter Haltung ein Foto mit seinem Handy und krakeelt etwas von „Durchnudeln“ auf dem Wasen. Dann lässt er einen Schrei und stürmt seinem Begleiter hinterher, gerade als wir überlegt haben, sein Selbstgespräch heimlich aufzunehmen. Es ist kurz nach 9 Uhr morgens am Tag der Sonnenfinsternis, der Himmel ist strahlend hell.
Am Vorabend suchte ich nach meiner Brille von der totalen Sonnenfinsternis von 1999. Ich wusste, in welches Buch die Brille eingelegt war, und ich wusste den Standort des Buches bis auf zwei Regalbretter genau. Und da war sie auch, die Sonnenfinsternisbrille. Denkt man an die Knappheit der Brillen vor dem aktuellen Ereignis, dann war es vielleicht doch gerechtfertigt, Buch und Brille 16 Jahre lang und durch eine nicht mehr genau rekonstruierbare Zahl von Umzügen hindurch aufzubewahren.
Ein paar Profis in Holzfällerhemden oder Outdoorwesten haben ihre Kameras zwischen den Trümmersteinen des Monte Scherbelino bereits aufgebaut. Der Betrunkene lässt sich längs auf einem Steinblock nieder, die Kälte scheint er nicht zu spüren. Vor uns schnurrt eine Kamera auf ihrem Stativ in einem regelmäßigen Rhythmus. („Das Klacken der Schorsch-Kamera ohne Schorsch hat auch etwas.“) Kinder springen herum, ältere Damen packen Butterbrote aus, neben uns sitzt eine Frau auf dem Schoß ihres Partners (Karohemd, Bart, grauer Bürstenhaarschnitt) und wagt hinter ihrer – normalen – Sonnenbrille gelegentlich einen Blick zum Gestirn empor.
Als wir unsere beiden Brillen austauschen ein „Ah!“ und „Oh!“, denn sie geben einen sehr unterschiedlichen Blick auf das Himmelsereignis: technisch-kühl die eine, bräunlich-gedämpft die andere. „Jetzt sehe ich einen Smiley von der Seite, der weit den Mund aufmacht. Als würde ihm gleich ein Keks hineingestopft werden. Das wäre dann der ultimative Gottesbeweis.“
„Dürften wir vielleicht auch einmal kurz?“, fragt der Bürstenhaarschnitt. „Na klar“, reichen wir unsere Brillen weiter und schon sind wir im Gespräch. Sie ist aus Dortmund, er aus Stuttgart, dort Regen, hier Sonne. „Haben Sie gut gemacht“, kommentieren wir.
Das Vorbild macht Schule. Nun trauen sich auch ein paar junge Leute – hübsche, blonde und vom Leben noch so unglaublich ungezeichnete 20-Jährige, die 1999 noch kleine Kinder waren und kaum Erinnerungen an die Sonnenfinsternis haben – und fragen nach einem Blick durch unsere Brillen. „Kein Thema, kommt einfach nochmals vorbei“, antworten wir auf ihren Dank. Überall wechseln Brillen die Hände, Bittsteller blicken durch die Standkameras der Profis, Biere werden ausgepackt. Ein weißer Hund sitzt am Rand des Abhangs und blickt in die Stadt hinab, als gäbe es dort etwas Fesselndes zu sehen. Eine Krähe landet auf der Wiese und der Betrunkene, bis dahin friedlich mit seinem Bier dahindämmernd, richtet sich auf und krächzt dem Vogel seine Herausforderung entgegen. „Okay, der Kolbentyp ist in Wirklichkeit eine verzauberte Krähe, und die Dryade hatte ihr Zauberwerk schon vollbracht.“
Das Licht beginnt sich zu verändern, es wird cremiger, wie gefiltert, und es wird spürbar kühler. Ein Flugzeug, lange Kondensstreifen im Blau, dreht bei und scheint direkt Kurs auf die Sonne zu nehmen, wie die Motte auf das Licht zusteuert. Alle anderen Flieger am Himmel folgen. Unten in der Stadtmitte leuchtet ein einzelnes Gebäude hell auf, als wäre dorthin das verschwundene Stück Sonne gestürzt, dann zerteilt sich das Leuchten, es zerspringt in kleinere Funken und verteilt sich auf eine Kette von vier oder fünf Gebäuden.
Der Bürstenhaarschnitt bedankt sich fürs Ausleihen mit einem Schluck eines tschechischen Pflaumenschnapses aus einer privaten Brennerei. Auf den Hinweis, noch fahren zu müssen, hat er eine Lösung parat: „Nippen dürfen Sie. Ich bin Polizist.“ Der Schnaps hat mehr Aroma als Schärfe, ein wirklich edler Tropfen, während sich oben der Mond immer weiter über die Sonne schiebt.
Es ist so kalt geworden, dass ich Jacke und Schal wieder überziehe. Im Dämmerlicht scheint die Welt um den Hügel herum die Luft anzuhalten. Es wirkt still und unwirklich und etwas gespannt und für einen Augenblick ist es, als würden gleich unten im Kessel der Stadt die Sirenen losgehen. Es ist ein Licht, wie ich es nur aus zwei Zusammenhängen kenne: von der Sonnenfinsternis 1999, anders als heute einer totalen Sonnenfinsternis, allerdings unter Wolkenbänken und kühlem Regenwetter. Und aus meinen Träumen, auch schon vor 1999, diesen seltenen, aber eindrücklichen Träumen von Landschaften unter einem merkwürdigen Licht, Landschaften, die intensiver und echter wirken als die Wirklichkeit und den Träumer verwirrt in den neuen Tag entlassen, weil unser wissenschaftliches Paradigma solche Welten nicht kennt.
Dieses Mal bringt der Polizist ein Stückchen Wurst: aus Polen, in seinem Keller luftgetrocknet. „Ja, wir sind eine bunte Truppe“, erklärt er und schwärmt von Würsten und Schinken in seinem Keller. Die jungen Leute kommen für den zweiten oder dritten Blick in die Eklipse, in den Händen Plastikbecher mit Weißwein. „Wie auf dem Basar“, lacht der Polizist und steckt sich einen Glimmstengel an.
Ja, interessanter als der unentwegte Blick auf das schwarze Rund, das die Sonne zu einer Sichel schrumpfen lässt, ist das Menschliche um uns herum. Dann kommt ein Müllauto den Weg empor, ein Fremdkörper, drei Männer, dunkle Teints und orange Overalls, leeren Mülleimer und starren herüber. Ein Kind von vielleicht vier Jahren, das über den Hügel hin und herstürmt, nähert sich dem Wagen und reicht einem der Männer seine Brille. Er nimmt sie entgegen, mit einer langsamen, bedächtigen Bewegung seiner starken Hände, er wirft einen Blick in den Himmel, reicht die Brille dann an seinen Kollegen weiter, der sie mit derselben kraftvollen, wortkargen Bedächtigkeit entgegennimmt. „Julia“, ruft das Kind auf dem Rückweg glücklich. „Gut gemacht“, meint die Angerufene. Das finden wir auch.
10.45 Uhr, das Licht hellt sich wieder auf. Einer der Profis schultert bereits sein Kameragestänge, für ihn ist der wissenschaftliche Höhepunkt vorüber, das Wesentliche gelaufen. Das Kino verlässt er vermutlich, wenn der Abspann einsetzt. So schnell kommen wir nicht weg. „Schickes Teil“, meint einer der jungen Leute über eine (gewöhnliche) Sonnenbrille, ein anderer bietet dem Polizisten eine Zigarette an, der erzählt von seiner Arbeit. „Meine Wache ist dort, wo ihr vorglüht“, grinst er. So wechseln die Sätze, über Mode und Spaß, über Schichtarbeit und Fernbeziehungen. „Und ist eigentlich noch etwas von dem tschechischen Wunder da?“
Wir wünschen dem Ruhrpott-Stuttgart-Paar Glück, die Jungs winken, die Mädchen lächeln kokett, dann geht es hinab in den zweiten Morgen. Verzaubert von der Menschlichkeit. So hell kann es sein, wenn Menschen sich begegnen.
Mit einem ganz anderen Aspekt der Sonnenfinsternis am 20. März setzt sich Juna im Netz mit einem kritischen und absolut lesenswerten (Doppel-)Artikel auseinander.