Ismaels friedliebende Enkel – Philip Hoare, „LEVIATHAN oder Der Wal“

Hoare_LeviathanSeit 15 Jahren ist der mareverlag nicht nur Synonym für Bücher über das Meer (im konkreten wie im übertragenen Sinne), sondern auch für schöne, auch in der Ausstattung hochwertige und ansprechende Printtitel – und erfüllt alle Kriterien, um das Faszinosum (gedrucktes) Buch am Leben zu erhalten in einer Zeit, in der viele Verlage immer mehr Eingeständnisse am Printbuch machen. Frei nach Goethe darf man über den mareverlag also sagen: Hier bin ich Buch, hier darf ich‘s sein.

Seine über 500 Seiten starke Studie über Wale – eine „Suche nach dem mythischen Tier der Tiefe“ (2009 ausgezeichnet mit dem Samuel Johnson Prize for Non-Fiction) – eröffnet der englische Journalist Philip Hoare mit einem sehr persönlichen Eingeständnis: seinen ungeheuer plastisch beschriebenen Urängsten vor dem Meer und seiner undurchschaubaren Tiefe – ein mutiger und gelungener Einstieg.

„Erst nachdem wir die Erde von Raumschiffen im Weltall aus betrachtet hatten, wurde der erste frei schwimmende Wal unter Wasser fotografiert.“

Gerade weil die wissenschaftliche Erforschung des Wals noch so jung ist, zieht Hoare seine Geschichte der Cetaceen auf als Geschichten der Begegnung zwischen Wal und Mensch. Ein blutiges Erdenkapitel, da über Jahrhunderte fast ausschließlich über die menschliche Jagd nach Fleisch und Tran definiert.
Akribisch spürt Hoare den literarischen Niederschlägen dieser Begegnungen nach. Im Mittelpunkt steht selbstverständlich Melvilles „Moby Dick“ als Ariadnes Faden bei der Suche nach dem Leviathan, einer „Art Bibel, ein Buch, von dem man nur zwei Seiten am Stück las, ein transzendentaler Text. Wenn ich es lese, ist es immer wie zum ersten Mal. Beim U-Bahn-Fahren studiere ich meine Taschenbuchausgabe so konzentriert wie die verschleierte Frau neben mir ihren Koran“ (S. 51).

Hoare folgt Ismaels Spuren in New Bedford, er klappert alle wesentlichen Walfahrerhäfen Neuenglands ab, schlendert über den Strand von Cape Cod, an dem Henry David Thoreau strandenden Walen beim Sterben zugesehen hatte, er studiert die alten Stiche niederländischer Künstler, stapft durch Yorkshire auf der Suche nach einem Walgerippe, besucht selbst noch das kleinste Walfangmuseum und interviewt ehemalige Walfänger auf den Azoreninseln – eine ungeheure Materialfülle über die oft schmerzhafte Begegnung von Wal und Mensch, seinem Jäger.

Statt diese Vielfalt in der Besprechung nachzeichnen zu wollen, stellvertretend nur drei winzige Schlaglichter auf Details, die mich besonders beeindruckt haben:

– Vor der weitgehenden Ächtung des Walfangs wurden im 20. Jahrhundert Rinder mit Walfleisch gefüttert, ganz nach der kalten industriellen Logik, die noch kranke Schafe zu Futtermehl für Pflanzenfresser verarbeitete.

– In „ozeanisch“ ausgerichteten Ländern wie Großbritannien waren Walprodukte allgegenwärtig – kaum ein Bereich der Konsumwelt, der bis in die frühen 1970er nicht auf Walprodukte zurückgriff, von Bremsflüssigkeiten und Seifen über Fotofilme und Schreibmaschinenbänder bis zu den Mittagessen der Schulküchen und anderes mehr.

Ray Bradbury hatte den Roman „Moby Dick“ für die Erstellung des Drehbuchs neunmal gelesen, ein Skript von 1500 Seiten aufgesetzt, das er natürlich wieder einzudampfen hatte, und wäre über diese Arbeit (nachvollziehbarerweise) beinahe depressiv geworden.

Hoares Lust an der Materie ist zugleich seine Achillessehne, denn sie wird irgendwann des Lesers Last. Die Studie wird gar zu detailreich, zu weitschweifend, zu unsystematisch. Erleichtert – und dann bereits wieder gerührt – ist man, wenn Hoare am Ende vor den Azoren im tiefsten Atlantik frei mit den Pottwalen schwimmt: ein Zwerg unter Riesen in einem Meer weit wie das Weltall, die „zusammen schwammen, Auge an Auge, Flosse an Flosse. […] Ich hatte keine Angst mehr.“

Philip Hoare, LEVIATHAN oder Der Wal. Auf der Suche nach dem mythischen Tier der Tiefe. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring. (Originaltitel: Leviathan, or, The Whale, 2008.) 522 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen.  2013 mareverlag, Hamburg.

Eine dreifache Apokalypse

Der Container war gewaltig. Wir klammerten uns an die Metallsprossen, wuchteten die Bananenkisten über die Kante und kippten sie aus. Ein ganzer Kofferraum voller Bücher landete so in dem Papiercontainer, sie flatterten leise wie sterbende Vögel zu Boden oder donnerten trotzig gegen die Containerwand. Die Kisten nahmen wir wieder mit. Sie waren zu wertvoll, um sie dem Altpapiercontainer zu überlassen. Wir fuhren zurück ins Antiquariat, ich saß schweigsam neben meinem Chef, das Gemetzel hatte mir die Worte genommen. Nach Feierabend schnappte ich mir mein Studentenrad und fuhr schnurstracks zurück ins Industrieviertel. Der Container lag einsam da, kein Mensch weit und breit. Also stieg ich die Sprossen empor, vergewisserte mich, dass mir der Rückweg gelingen würde, und sprang hinab in die Bücherflut. Ich wühlte in den Druckwerken, klappte Einbände auf, strich Eselsohren glatt. Und plötzlich begriff ich. Was hier lag, war wertlos, absolut wertlos. Niemand interessierte sich mehr für diese Bücher, nicht einmal ich. Als letzte Geste der Pietät griff ich nach einer alten Auflage von H.G Wells „A Short History of the World“, das ich bereits in einer antiquarischen Ausgabe besaß. Der Rest war – Müll. Bereit für eine neue Inkarnation als Kartonage oder Klopapier. Ich kletterte aus dem Container, schnappte mir das Rad vom Boden und strampelte zurück in die Stadt. Ein Bann war gebrochen, der Tempel entweiht. Seither habe ich Aberdutzende Bücher ohne jede Scheu ins Altpapier geworfen.

Wenn du drei Bücher vor der Apokalypse, die alle anderen Bücher auf dem Planeten zerstört, retten könntest, fragt der Kaffeehaussitzer – welche wären es? Erläuterungen in (maximal) 140 Zeichen.
1. „Handbuch für den gewitzten Stadtkrieger“: Voller auch und gerade in apokalyptischen Zeiten nützlicher Ratschläge. Überlebensführer. Das Schönste: Es nimmt sich selbst nicht ernst.

2. Peter Fleming, „Brasilianische Abenteuer“: Der ältere Bruder Ian Flemings. Weil ich es gerade lese. Und ein wahnwitziger Meister des guten alten britischen Stils – brilliantly witty.
3. „Handwörterbuch Englisch“. Für eine lingua franca unter den Überlebenden der Apokalypse von Nutzen. Zur Not tut es auch irgendein anderes Wörterbuch – Hauptsache dick.

Durch die geöffnete Ofentür beobachte ich, wie die Seiten Feuer fangen. Das Papier sträubt sich. Augenblicke lang scheint es der Glut des Holzofens trotzen zu können, dann bricht der Widerstand, das Glanzpapier des Umschlags wellt sich, zieht sich in Agonie zusammen und geht in blauen und grünlichen Flammen auf, dann lodern die Seiten hell in der Majestät von Gelb und Rot. Ein Heft nach dem anderen schiebe ich in den Ofen. Ein Jahr lang war ich wie besessen gewesen von ihnen. Nun war Schluss damit, für immer. Ich war 13 und Westernheftchen waren keine Bücher.

Da ich selbst um vier weitere Blogstöckchen im Rückstand bin, ermuntere ich niemanden zu weiteren Bücherrettungstaten. Wer mich zum Teufel wünscht und sich trotzdem noch schnell ein paar Bücher unter den Arm klemmen will, bevor die Welt untergeht, findet die Regeln sehr übersichtlicht hier beim Kaffeehaussitzer.

Inspektor gibt’s kaan? Doch! − Gary Victor, „Schweinezeiten“

schweinezeiten„Ihr Gejammer interessiert mich nicht, Colin. Ich will verstehen.“

Dieuswalwe Azémar stolpert durch den Vorhof der Hölle. Die Tropensonne Haitis brennt ihm das Hirn heraus, den von Hunden und Schweinen freigelegten Gräbern entströmt Leichengeruch und unentwegt ruft der Geist des Zuckerrohrschnapses, den der Inspektor in rauen Mengen in sich hineinschüttet. So taumelt also der Polizist, munter wie ein frisch erweckter Zombie, hinter einer Frau her, die von einem Voodoomeister für 15 000 haitianische Gourdes die Seele ihrer Tochter zurückkaufen will. Wie zu erwarten, laufen die Verhandlungen in der Sumpfhütte aus dem Ruder, der Inspektor zieht seine Waffe und schießt die ganze Bande kurzerhand nieder. Nur einer entkommt, ein „Wesen, halb Spinne, halb Mensch“, zurück bleiben drei Leichen und der Ekel des Inspektors. Ekel vor seinem Leben aus Alkohol und gelegentlichen Nutten und Ekel vor diesem Land, das vor Korruption, Gier und Angst in die Knie, vor die Hunde geht. Ja, Inspektor Dieuswalwe Azémar, Alkoholiker und einer aus der einsamen Zahl der Unbestechlichen, ist es zum Kotzen, aber er bekommt nichts heraus und so knallt er eben Gauner ab.

„Heute hatte er die Leute in der Hütte nicht ertragen können. Diese Hütte war das Land im Kleinformat. Und er hatte geschossen. Das war eine Art, sich zu übergeben.“

Mit dieser Einleitung ist der Rahmen des Haitikrimis „Schweinezeiten“ − Gary Victor, einer der populärsten Schriftsteller der Insel, hatte ihn noch vor den katastrophalen Erdbeben 2010 verfasst − abgesteckt. Ein rasanter, schmaler Kriminalroman, von erfrischender Freiheit der Fantasie (später wird ein Werwolf in Schweinegestalt − ein Wereber, könnte man wohl sagen − eine zentrale Rolle spielen), der uns in halb verbittertem, halb komischem Tonfall in eines der ärmsten und zu oft vergessenen Länder der Welt führt. Erzählerisch und stilistisch mit ein wenig Luft nach oben, ist Gary Victors „Schweinezeiten“ ein schnelles, doch ungewöhnliches Leseabenteuer, in dem der moralische Zeigefinger gegenüber den gesellschaftlichen Gebrechen des Landes sich reibt mit der erstaunlich unreflektierten Ermächtigung des Protagonisten, alle, die ihm im Weg stehen, niederzuschießen. Vielleicht musste Gary Victor ja auch etwas auskotzen.

„Vergiss nicht: So etwas lebt von unserer Angst und unserer Unwissenheit.“

Und die Handlung? Kann man wunderbar knapp und bündig den Rezensionen von Danares.mag und KrimiLese entnehmen, denen ich für ihre Leseempfehlung herzlich danke.

Gary Victor, Schweinezeiten. Ein Voodoo-Krimi. Aus dem Französischen von Peter Trier. (Originaltitel: Saison de porcs, 2009.) Broschur, 130 Seiten.  litradukt: Trier 2013.

Buch(messe)sorgen II

„Wissen Sie, was mich diesen Winter bey allen Widerwärtigkeiten, die mir zustoßen, tröstet? Daß ich kein Buch auf die Leipziger Messe fertig zu machen habe! Es ist sonderbar, in welchem Grade ich dies als eine Wohltat empfinde; oft – ich lüge nicht – bis zum Aufspringen für Freude.“

(Friedrich Heinrich Jacobi in einem Brief vom 23.12.1789)

Diese Sorge teilen vermutlich auch heute noch manche Autoren. Daneben gibt es natürlich noch Buch(messe)sorgen anderer Art. Interessanter sind aber meist doch die Buchmessefreuden. Viel Erfolg und Freude jedenfalls allen Messebesuchern in der kommenden Woche! Zeilentiger hingegen bleibt beim Kesselleben. Jacobi hätte sich gefreut.

Die Poesie einer Sandrose − Jamil Ahmad, „Der Weg des Falken“

9783455403947Ein Achtzigjähriger debütiert mit einem Roman, der fast 40 Jahre lang in der Schublade lag − und wird prompt für eine Reihe wichtiger Literaturpreise nominiert. Wer vor einem Jahr zum Erscheinen der deutschen Ausgabe von Jamil Ahmads „The Wandering Falcon“ die Feuilletons verfolgt hat, kennt die unglaubliche Geschichte vielleicht bereits.

Nicht nur diese Begebenheit aber klingt, als entspränge sie selbst literarischer Fiktion, das Leben des pakistanischen Autors böte manch weiteren Stoff für eine Geschichte: Ahmad, in Britisch-Indien geboren und seit 60 Jahren mit einer deutschen Frau verheiratet, erlebte als pakistanischer Botschaftsangehöriger die sowjetische Invasion in Afghanistan. Davor war er jahrelang als Staatsbeamter in den ungezähmten, gebirgigen Grenzprovinzen Pakistans tätig. Es sind genau jene Räume, an denen die Ansprüche moderner Staaten bis heute schmählich an uralten tribalistischen Strukturen scheitern, es sind die brandaktuellen Schauplätze des postmodernen Drohnenkriegs und eine Zerreißprobe für Pakistan, einer Atommacht am Abgrund zum failed state.

Diese Landschaft − von der wüstenhaften Provinz Belutschistan im Süden Pakistans bis zum Hindukusch im Norden −  ist der Schauplatz von Ahmads Roman. „In der Wirrnis von zerbröckelnden, schartigen und verwitterten Hügeln, in der sich die Grenzen des Irans, Pakistans und Afghanistans berühren“, so hebt der Roman an, beginnt die Geschichte von Tor Baz, dem Schwarzen Falken. Ein junges Liebespaar flieht durch das Ödland. In einer Gesellschaft, in der die Regeln so unbarmherzig sind wie die Wüstenberge unter dem Hundertzwanzig-Tage-Wind, ist die Tat der beiden jungen Leute absolut todeswürdig. Und natürlich scheitern sie, die Liebenden. Sie sterben auf grausamste Weise, ohne ein Wort der Klage, sofort zerstreiten sich die Rächer und weiteres Blut fließt −  in einer lakonischen Zwangsläufigkeit der Gewalt, wie sie einer isländischen Saga würdig wäre. Zurück bleibt ein kleiner Junge, Tor Baz (wie er später genannt werden wird), die Frucht der verbotenen Liebe.

Der Spähtrupp eines Nomadenstammes rettet den Jungen vor dem Verdursten. Es sind Rebellen im Ringen mit der Zentralmacht des jungen pakistanischen Staates. Das Kind reist mit diesen Männern und wird Zeuge ihres bitteren, fast absurd anmutenden Scheiterns gegen die bürokratischen Ansprüche eines modernen Staates gegenüber seinen Bürgern −  einer Welt, in der eine nomadische Kultur keinen Platz hat. Und so wird Tor Baz weitergereicht, der Junge wächst in einer Kaserne auf, wird von einem wandernden Mullah in Obhut genommen, geht schließlich seine eigenen Wege, ein Heimatloser im eigenen Land.

„Der Weg des Falken“ ist kein Roman im herkömmlichen Sinne, sondern ein Reigen an Geschichten, Momentaufnahmen aus dem Leben Pakistans, in denen die Figur des Tor Baz als loses Bindeglied dient: Selbst in den ersten Kapiteln ist er nur eine beobachtende, eine ‚erleidende‘ Figur; später taucht er in manchen Szenarien nur am Rande auf, wie ein Wanderer, der kurz durch das Bild läuft. Der eigentliche Protagonist des Buches hingegen ist das Grenzland zwischen Afghanistan und Pakistan selbst, es sind die Stammesgebiete und ihre Menschen zwischen Grausamkeit und Würde. Ohne zu beschönigen, doch mit feiner Liebe beschreibt Ahmad die Menschen zwischen Stammesbräuchen und Staatsmacht, erzählt von Menschenhandel und Eheschicksalen, Entführungen und Stammesversammlungen, Edelsteinschürfern und Sherpas, Almosen und Verrat.

Nicht nur der Blick in eine uns verschlossene, scheinbar längst untergegangene und doch noch bis heute fortwirkende Welt macht die Kostbarkeit von Ahmads ‚Reigen‘ um den Schwarzen Falken aus, sondern auch seine eigentümliche Stilistik. Besonders die ersten beiden Kapitel sind in einer gleichermaßen poetischen und schlichten Sprache bis zur Perfektion ausgearbeitet, schön und erschreckend und schmerzhaft wie ein scharfkantiger Stein im Sonnenlicht. Später, wenn das Episodenhafte, Flüchtige stärker in den Vordergrund rückt, erinnert Ahmads Poesie eher an eine Sandrose, jenes merkwürdige Kristallgebilde aus der Wüste: eine arabeske Schönheit, von ganz leichter Hand zu unbarmherzigen Formen aufgetürmt. Jamil Ahmads Debüt ist ohne Frage eine Bereicherung für die Weltliteratur; man mag sich gar nicht vorstellen, wie wenig möglicherweise gefehlt hätte, dass das papierene Bündel in ein paar Jahren, nach dem Tod des Autors, unerkannt auf einer Mülldeponie gelandet wäre.

Jamil Ahmad, Der Weg des Falken. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. (Original: The Wandering Falcon, 2011). 186 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag oder als E-Book.  Hoffmann und Campe, Hamburg 2013.

P.S. Zeilentiger liest Kesselleben gibt es nun auch auf facebook – mit zusätzlichen Features wie Minirezensionen, Kürzestgeschichten, Veranstaltungshinweisen usw.

Schmollmund und Tattoo im Markt am Vogelsang

Ich steige zum ersten Mal an der Haltestelle Stuttgart-Vogelsang aus und bin sofort für den Stadtteil eingenommen durch den Anblick jener eleganten jungen Frau in Rot, die vor mir die Stadtbahn verlässt. Augenblicklich klemmt sie sich eine Zigarette zwischen den arroganten Schwung ihrer Lippen, ich skaliere ein wenig nach unten und bin dann überrascht, dass sie wie ich den Weg zur Markthalle am Vogelsang einschlägt.

Die berühmte Bauernmarkthalle im ehemaligen Straßenbahndepot gibt es nicht mehr, für sie komme ich zu spät. Seit 2010 können Biowaren dafür im Neubau erworben werden, dem „Markt am Vogelsang“ − einer Art Öko-Mall im Stuttgarter Westen, Halbhöhenlage.

Die Galerie mit Holzgeländer teilt sich das Restaurant Lässig mit einer Verkaufsfiliale des Waschbär-Versands (Mini-Bär für die Kleinsten inklusive). Eigentlich suche ich nach Handtüchern aus Bio-Baumwolle, sie gibt es nicht in der Auslage. Die Hemden und Lederhalbschuhe sind zwar auch verlockend (sie sind es immer) und dazu gerade im Angebot, aber für einen „Ich kaufe aus Spaß und nicht weil ich es brauche“-Einkauf mir doch immer noch zu kostspielig.

Also geht es wieder hinab ins Erdgeschoss, nach rechts und dann katapultiert sich ein Geschäft aus dem Nichts unter die Top drei der Stuttgarter Buchhandlungen. Buch + Spiel. Edition tertium hat eine Menge Spielwaren, etwa ein Drittel der Fläche ist für Bücher reserviert: ein ganz ausgezeichnetes, spürbar handverlesenes Sortiment, das auch und gerade Titel aus unabhängigen Verlagen umfasst.

Bevor ich mich mit hemmungslosen Bucheinkäufen unglücklich mache, rette ich mich hinüber ins Café De Luca − einer Theke mit Backwaren der Eselsmühle (einer Demeter-Holzofenbäckerei im nahen Siebenmühlental) und ein paar soliden Tischen. Der Bobbes ist leider zu trocken, das geht auch anders, und der Kaffee ist aus einem „Knöpfchen-drück-mich“-Vollautomaten und damit (ja, ich weiß, ich wiederhole mich) per definitionem nicht genießbar, aber der über und über tätowierte Kellner ist von ganz perfekter Aufmerksamkeit.

IMAG0588Ein Kaffee im De Luca

Ich knabber an meinem Eselchen und schaue mich um. Draußen wehen Demeterfahnen jenseits der winterlich verwaisten Terrasse mit den Olivenbäumchen und den Markisen von Neumarkter Lammsbräu, der einzigen Brauerei neben Erdinger im Übrigen, der es gelingt, ein köstliches alkoholfreies Hefeweizen zu brauen. Drinnen neben Buch + Spiel der Marktladen, der nicht nur im Namen etwas an den Marktladen in Tübingen erinnert, dem angenehmsten mir bekannten Bioladen, da ihm das Kunststück gelingt, das reichhaltige Angebot eines Biosupermarktes zu führen, ohne als solcher zu wirken. (Und selbstredend auch nichts mehr zu tun hat mit den graugesichtigen, penetrant riechenden Bioläden aus alter Zeit …)

Unter Carnivoren und Flexitarieren ist Boeuf de Hohenlohe hipp. Das Fleisch des Hohenloher Weiderinds gibt es neben anderen Bio-Delikatessen wie vom Schwäbisch-Hällischen Landschwein bei der Bäuerlichen Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall neben dem Marktladen. Das Demeter-Weinsortiment mit Kochbüchern schließlich, in verschwenderischer Raumnutzung, schließt den Reigen ab. Wie die alte Bauernmarkthalle wohl war? Bio war sie auch, aber an einen quirligen Gemüsemarkt auf hartem Depotbeton erinnert hier nichts. Es ist alles sehr adrett und hübsch mit Wohlfühl-Biosiegel. Einer jener Stuttgarter Orte, wo ökologisches Gewissen und die Freiheit vor alltäglichen Geldsorgen eine Ehe eingehen und die Illusion einer schöneren und besseren Welt zaubern.

Als die Stimmung im Café zu betulich wird, steuert der knackige, tätowierte Kellner mit Reggaemusik dagegen. „Ja, wir haben Montag bis Samstag geöffnet“, antwortet er mit entzückendem Akzent. „Heute aber nur bis 18 Uhr. Wir haben Betriebsfeier später, alle zusammen − bis morgen Früh …“

Die Rote habe ich übrigens nicht mehr gesehen. Vielleicht war sie ja doch nicht in die Markthalle gegangen.

Markt am Vogelsang, Stuttgart-West

„For tigers everywhere“ − Peter Brown, „Mr Tiger Goes Wild“

mr.-tiger-jacket-from-FB-page-298x300Konventionen können so quälend sein. „Everyone was perfectly fine with the way things were. Everyone but Mr Tiger.“ Er leidet an den gesellschaftlichen Normen, an dem Korsett aus Höflichkeit und Zurückhaltung, an seiner Zwangsjacke aus Frack, Fliege und Zylinder. Alles ist graubraun, das bisschen Orange, das hie und da aus dem Innersten von Mr Tiger hervorschimmert, hat keine Chance in dieser wohlgeordneten, braven Welt. Es ist so deprimierend!

Und dann hat Mr Tiger eines Tages eine Erkenntnis, er wagt einen Schritt und noch einen − und steht am Ende aller Kleidung, aller Normen entblößt, da, stolz und strahlend. „Ist er nicht schön?“, fragt eine Freundin die andere, als sie gemeinsam das Buch durchblättern. Ihre Hand streicht zärtlich über den leuchtenden Körper des Tigers.

Schließlich lässt Mr Tiger alles zurück, er rennt in die Wildnis, „where he went completely wild“. Und weil es schließlich ein Kinderbuch ist und kein tragischer Roman, gibt es am Ende einen heiteren Ausgleich zwischen Individualismus und Gemeinsinn, Freiheit und Gesellschaft. Machen wir es also wie Mr Tiger − „everyone should find time to go a little wild.“

Peter Brown, preisgekrönter amerikanischer Kinderbuchautor und -illustrator, hat mit „Mr Tiger Goes Wild“ ein wunderbares, leichtes Buch zum Anschauen, Vorlesen oder Selberlesen (nicht nur) für Kinder vorgelegt. Die gebundene britische Ausgabe, im September 2013 bei MacMillan erschienen, war innerhalb weniger Monate ausverkauft, seit Januar ist eine Broschurausgabe im Handel. „Ich brauche das unbedingt für meinen Sohn!“, meint die gute Freundin, als sie das Buch zuklappt. Ich glaube, ich hätte den ganzen Stapel Restposten aus London mitnehmen sollen.

Peter Brown, Mr Tiger Goes Wild. Amerikanische Originalausgabe September 2013 bei Little Brown Books. Gebunden mit Schutzumschlag, 44 Seiten.

Strandgut, gebunden und geleimt

Eine Stöckchengeschichte, zugeschoben von Danares

Welches Buch liest Du momentan?

Ich bin ein miserabler Leser. Ich fange ein Buch an, lasse es liegen, beginne das nächste, vergesse es, greife nach dem dritten, lege es nach ein paar Seiten auf den Stapel, ziehe das erste unten wieder hervor, nur um dann doch ein viertes in die Hand zu nehmen. Im Grunde geht das endlos so weiter. Habe ich sechs oder zwölf Monate gar nicht in einem Buch gelesen, wandert es wieder ins Regal, bis zum nächsten Versuch. Das ist der einzige Grund, weshalb die Stapel nicht irgendwann umfallen.

Innerhalb der letzten vier Wochen habe ich, so scheint mir, in acht Büchern gelesen, die ich noch nicht zu Ende gebracht oder aber aussortiert habe. (Bücher oder Manuskripte, die ich aus rein beruflichen Gründen lese, sind ausgenommen.) Einige davon sind schon seit Jahren in meinem Besitz, nur zwei der acht habe ich mir selbst innerhalb des letzten Quartals gekauft. Wer sich je gefragt haben sollte, weshalb zeilentiger liest kesselleben niemals ein Literaturblog sein könnte, hat hier ein paar Gründe parat.

Warum liest Du das Buch? Was magst Du daran?

Ivan Vladislavić, „Johannesburg. Insel aus Zufall“ (A1 Verlag 2008). Keine Neuerscheinung mehr, trotzdem eine Bestellung von der letzten Frankfurter Buchmesse. Ein Stadt- und Alltagsporträt, was ich als Genre gerne mag, wenn die Ausführung stimmt. Die von Vladislavić tut es.

Ariel Dorfman, „La muerte y la doncella“ aus Reclams roter Reihe Fremdsprachentexte mit Worterklärungen unter jeder Seite. Die benötige ich auch. Und nein, bislang haut mich das Bühnenstück nicht von den Socken. Weil ich zu wenig von dem Spanisch verstehe? Die Verfilmung von Roman Polanski habe ich übrigens noch nicht gesehen. Ich hatte mir irgendwann einmal vorgenommen, zuerst das Buch zu lesen.

Franz Innerhofer, „Schattseite“ (Suhrkamp 1979), der Nachfolgeroman des Erstlings „Schöne Tage“, die kompromisslose Aufarbeitung einer Kindheit auf einem Salzburger Bauernhof – in einem vollkommen rohen Milieu, an dem der junge Innerhofer in den 50er Jahren schier zugrundegegangen wäre. Ein sehr beeindruckender literarischer Befreiungsakt. Dass Innerhofer später trotzdem dem Suff und schlussendlich dem Suizid erlegen ist, verwundert nach der Lektüre trotzdem nicht.

Rabindranath Tagore, „Der Gärtner“ (Kurt Wolff Verlag 1921). Irgendwie ist mir der alte Tagore ja sympathisch, aber mal ehrlich, seine „Liebes- und Lebensgedichte“ treffen dann doch einfach keinen elementaren Nerv. Nicht hier, nicht heute. Am besten gefällt mir an der Ausgabe der Geruch des alten Papiers – wie ein Hauch von Bourbonvanille.

Martin Schäuble, „Zwischen den Grenzen. Zu Fuß durch Israel und Palästina“ (Hanser 2013). Ein Spontankauf im Stuttgarter Literaturhaus. Ich liebe Reisebücher, ich interessiere mich für den Nahen Osten, ich schätze schön gestaltete Hardcover. All das rettet das Buch trotzdem nicht. Schäuble kommt mir bisher als ziemlich fader Möchtegern-Büscher vor, eine Hohlmenschreportage. Eigentlich würde ich ja gerne mal wieder eine Neuerscheinung auf dem Blog über den grünen Klee loben, aber mit diesem Buch wird das nichts, fürchte ich.

Peter Fleming, „Brasilianische Abenteuer“ (Rowohlt 1958). Ein Weihnachtsgeschenk von unerwarteter Seite. Wieder ein Reise-, genauer ein Expeditionsbericht – in dem es im Übrigen um das Schicksal genau jenes Colonel Fawcetts geht, dem der Berenberg Verlag 2013 eine Neuerscheinung widmete – aus der Feder eines echten Briten. „Es gibt, nehme ich an, solche Expeditionen und solche. Ich muß sagen, daß es während dieser sechs Wochen in London so aussah, als würde sich die unsere in keine der beiden Kategorien einordnen lassen.“

Anita Moorjani, „Heilung im Licht. Wie ich durch eine Nahtoderfahrung den Krebs besiegte und neu geboren wurde“ (Arkana 2012) ist, wie soll ich sagen, eines jener gewissen Weihnachtsgeschenke eines Menschen, der es nur ganz und gar gut mit einem meint. Immerhin muss ich zur Rettung des Buches anführen, dass ich gestern einen Satz darin gefunden hatte, der mir wichtig genug erschien, aufzustehen und ihn mehrmals laut aufzusagen. Und bin ansonsten nur aus tiefstem Herzen dankbar, dass es keinen aktuellen biographischen Anlass gibt, mich derzeit an dem Thema Krebs abzuarbeiten.

Reza Haidari Kahkesh und Babak Haidari Kahkesh, „Gaumenfreuden aus Persien“ (Regura Verlag 2004), ein sehr hübsches, sehr sympathisches und sehr brauchbares persisches Kochbuch. Die einzige Zweitlektüre unter den genannten Büchern, da ich demnächst wieder einmal Gäste persisch bekochen möchte. Erst recht nach einem Besuch vor ein paar Tagen in einem entsprechenden Restaurant vor Ort, der uns alle überaus unbefriedigt gelassen hat. Da kann man unter der Anleitung der beiden Haidari-Brüder selber wirklich Besseres leisten.

Wurde Dir als Kind vorgelesen? Kannst Du Dich an eine der Geschichten erinnern?

Ja. In bester, wenn auch sehr, sehr verschwommener Erinnerung ist mir, wie unser Vater der ganzen Familie die Tarzan-Romane von Edgar Rice Burroughs vorgelesen hatte. Aus Ausgaben, die er von seinem Vater hatte, noch in Frakturschrift. – Weil ehrlichgesagt auf diese Frage den „Kleinen Hobbit“ genannt hatte: Das ist das Buch, das ich selbst bereits am häufigsten vorgelesen habe, das mein Bruder gerade eben seinen Kindern vorgelesen hat und das selbst nochmals vorzulesen ich hoffentlich noch Gelegenheiten in meinem Leben bekommen werde.

In welchem Buch würdest Du gern leben wollen?

Ich würde gerne Jorkens für seine Lügengeschichten im Club einen Drink spendieren (Lord Dunsany, „Jorkens borgt sich einen Whisky“), mit munteren Freunden die Themse hinabrudern (Jerome K. Jerome, „Drei Mann in einem Boot“), John Steinbeck auf seiner „Reise mit Charley“ quer durchs Land begleiten, mit Ray Bradbury, Tom Drury („Die Traumjäger“) oder Dan Simmons („Monde“) durch eine sommerglühende abendliche Kleinstadt spazieren und überhaupt gerne jeden Sommer genießen, dort wo sich an mehr oder weniger sorgenfreien Tagen die Schultern bronzen färben. Und ich wäre gerne H.G. Wells gewesen, wenn das als Antwort gilt.

Gibt es einen Protagonisten oder eine Protagonistin, in den/die Du mal regelrecht verliebt warst?

Juna im Netz und Danares haben recht, das ist eine Mädchenfrage. Ich würde jetzt trotzdem gerne einen Namen nennen. Aber es fällt mir leider keiner ein. Zumindest eine platonische Männerfreundschaft kann ich nennen: Ich beneide Calvin glühend um seinen Hobbes.

Welche drei Bücher würdest Du nicht mehr hergeben wollen?

Das „Handbuch für den gewitzten Stadtkrieger“ vom Barfußdoktor, um nur eines zu nennen. Obwohl, eigentlich würde ich das Buch sogar gerne und immer wieder hergeben (wenn auch nicht unbedingt mit dem blöden Cover der derzeitigen Taschenbuchausgabe, daher setze ich hier auch keinen Link). Solange ich irgendwoher ein anderes Exemplar auftreiben kann.

Ein Lieblingssatz aus einem Buch?

Es gibt ja so Bücher, die einen immer wieder regelrecht aufschreien lassen, weil da Sätze drin stehen, die … einfach zum Schreien gut sind. Leider fällt mir jetzt partout keines ein. (Da fragt man sich jetzt wahrscheinlich schon, wofür ich eigentlich lese, nicht wahr?) Also suche ich nach einem guten letzten Satz und finde das: „Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.“ (Christian Kracht, „1979“).

Wer Spaß daran hat, darf das Stöckchen gerne aufgreifen und dabei Fragen weglassen oder hinzufügen, doch besonders neugierig wäre ich auf die Antworten von Mikkoon und Zonenmädchen. Und nein, keiner meiner Vorsätze fürs neue Jahr hat irgendetwas mit Büchern zu tun. Strandgut, Stapelbauen, Zitatevergessen – das alles wird einfach so weitergehen wie bisher.

Inselmonologe – Carola Saavedra, „Landschaft mit Dromedar“

9783406647093_cover_SaavedraÉrika, eine Künstlerin in ihrer ersten Lebenshälfte, flieht auf eine namenlose Atlantikinsel, mutmaßlich eine der Kanaren. Sie flieht vor einer Dreiecksbeziehung mit ihrem erfolgreicheren Künstlerkollegen und Liebhaber Alex und dessen Schülerin Karen. Oder besser gesagt, sie flieht vor dem Scheitern ebendieser Beziehung durch den Krebstod Karens. Das Sterben dieser jungen Frau hatte Érika noch kaltherzig zu verdrängen versucht. Der Tod und das Vakuum, das er nicht zuletzt in der Partnerschaft hinterließ, konnte sie nicht mehr verdrängen. In der relativen Zurückgezogenheit der Insel versucht die Künstlerin nun in imaginären Gesprächen mit Alex, brennende und zu lange unterdrückte Fragen für sich zu beantworten. Was als Kunstprojekt beginnt – Tonaufnahmen von Wellen, Wind, den Inselgeräuschen – gewinnt so schnell den Charakter einer Rechenschaft vor sich selbst, für die „Alex“ nur ein Spiegel darstellt. Es sind Fragen nach der Autonomie des Ichs; nach Érikas Selbstverständnis als Mensch, Frau, Partnerin und Künstlerin; nach ihrer Beziehung zu Alex; zum Wesen der Kunst und dem Schöpfungsprozess; zu Leben und Tod. Dass Érika ihre Aufnahmen, wiewohl bis zuletzt Alex immer angesprochen und ins Gespräch einbezogen wird, nie abschickt, ist da nur folgerichtig.

Diese in Schrift gegossene Tonaufnahmen geben dem Roman seine eigene Form. Die birgt allerdings, gleich in mehrfacher Hinsicht, auch Schwächen. Das beginnt auf der materiellen Ebene der Typographie. Dass Absätze, in denen nicht Érika spricht, sondern Hintergrundgeräusche zum Tragen kommen, in einer Grotesken gedruckt sind, die ästhetisch nicht mit der Grundschrift des Buches harmonisiert (und zudem noch in einer Graustufe gehalten ist), erscheint mir nicht nur als eine unnötige Spielerei, sondern als eine typographische Sünde. (Bin ich da Purist?) Ganz inkonsequent ist dabei auch, dass kurze Einsprengsel von Geräuschen und Handlungen im Hintergrund kursiv und in Klammern in die Grundschrift der Monologe eingebettet sind. Kursivierung wäre auch für die genannten Absätze die einfachere und naheliegendere Wahl gewesen.

Auch für den Erzählfluss erweisen sich diese Absätze als ein gescheitertes Experiment. Sie durchbrechen die Rede der Protagonistin, ohne im Gegenzug allerdings irgendetwas zu bieten. Oft genug erhält dieser vorgeblich dokumentarische Charakter daher eine gekünstelte, unglaubwürdige Note. Besser hätte die Autorin ganz darauf verzichtet.

Gerettet wäre der Roman damit allerdings nicht, denn die Schwächen – kommen wir über Umwege zu des Pudels Kern – betreffen auch die Monologe selbst. Hatte ich je zuvor ein Buch mit so vielen aneinandergereihten Fragen vor Augen? Fragen, die oft nur vordergründig tiefsinnig, eigentlich einfach banal sind und – das Todesurteil – nichts bewirken. Zwischen diesen Fragen und der Entwicklung der Protagonistin klafft eine Lücke auf und auch die Begegnungen mit Personen, die im Laufe des Romans neu ins Spiel kommen, tragen wenig zu einer organischen Entwicklung bei: Érikas Gastgeber, das Galeristenehepaar Vanessa und Bruno, die einheimische Haushälterin Pilar, der Arzt Adrian, der die Möglichkeit einer neuen Liebe, eines neuen Lebensentwurfes in den Raum stellt – sie wirken bisweilen wie in den Raum geworfen und so sind erscheinen auch Érikas Reaktionen. Die Entwicklung der Hauptfigur bleiben nur aneinandergereihte Etappen, es gelingt Saavedra nicht, sie zu einer glaubwürdigen Linie zusammenführen. Beim Lesen von „Landschaft mit Dromedar“ hat man eine Autorin vor Augen, die konstruiert – nicht eine Geschichte, die abläuft, die sich erzählt.

Carola Saavedra, 1973 in Santiago de Chile geboren und seit ihrem dritten Lebensjahr in Brasilien verwurzelt, gehört zu den aufstrebenden jungen Autorinnen Brasiliens. Mehrfach wurde sie mit Preisen ausgezeichnet, so auch für ihren dritten Roman „Landschaft mit Dromedar“. Und das culturmag ist geradezu euphorisch über „die Entdeckung des Jahres“. Vielleicht habe ich ja etwas ganz Entscheidendes an diesem Roman nicht begriffen. Denn für mich war es das langweiligste, ja ärgerlichste Buch, das ich dieses Jahr bis zum Ende gelesen habe. Keine Entdeckung des Jahres, sondern ein großer Reinfall der diesjährigen Frankfurter Buchmesse.

Und die Dromedare? Spielen nur eine Nebenrolle. Bleibt zu hoffen, dass sich C.H. Beck nicht inzwischen darauf versteift hat, Belletristik mit Kamelen als misslungenen Metaphern zu verlegen.

Carola Saavedra, Landschaft mit Dromedar. Roman. Aus dem Portugiesischen von Maria Hummitzsch. (Originaltitel: Paisagem com dromedário, 2010). 174 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag oder als E-Book. © C.H. Beck, München 2013.

Löffelbieger in der Pampa – Juan José Saer, „Die Gelegenheit“

9783803126382_SaerWenn nur die Positivisten nicht wären! Vor den Angriffen der Pariser Wissenschaft entflieht der berühmte Bühnenzauberer und Gedankenleser Bianco Mitte des 19. Jahrhunderts nach Argentinien. Wie er auf Europas Bühnen mit der Kraft seines Willens Löffel verbog, so schafft sich Bianco nun zielstrebig eine neue Existenz im argentinischen Hinterland – ein Triumph des Geistes über die Materie. Doch eines entzieht sich Biancos Beherrschung: Hat seine Frau eine Affäre mit seinem besten Freund? Wer ist wirklich der Vater seines ungeborenen Kindes? Die Eifersucht zehrt Bianco auf, völlig hilflos sieht er sich seiner ungreifbaren Ehefrau gegenüber und das Ungeborene wird zum Schreckbild der Ungewissheit und der Unbezähmbarkeit der Welt – einer Verschwörung der Materie gegen Biancos Geistesmacht.

Juan José Saer, 1937 als Sohn syrischer Einwanderer in der argentinischen Provinz geboren und 2005 im französischen Exil gestorben, gilt als postmoderner Erbe des großen Borges und ist – anders als der blinde Bibliothekar – ein Musterbeispiel für jene sprachliche Unbarmherzigkeit, die vielen Lateinamerikanern und (wie mir scheint) ganz besonders den jüngeren argentinischen Generationen zu eigen ist. Saers Roman biedert sich, obgleich von überschaubarer Länge, nicht als schnelle Lektüre an. Er zwingt dem Leser den Rhythmus der Pampa auf, eines beharrlichen, ruhigen Rittes. Die Eindrücke der Krisen (im ursprünglichen Wortsinne) sind dafür umso mächtiger.

Wagenbach – der „Verlag für wilde Leser“ – wagte anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2010 (Gastland Argentinien) eine kleine Taschenbuchreihe „Argentinien bei Wagenbach“ – Lizenzausgaben in auffallend hübschen, bunten Umschlägen. Ein gelungener Blickfang und wahrlich eine Gelegenheit.

Juan José Saer, Die Gelegenheit. Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Erich Hackl. (Originaltitel: La ocasión, 1988, deutsche Erstausgabe 1992 im Piper Verlag). 208 Seiten, Broschur. © für diese Ausgabe Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010.