JazzJam und Stuttgarts erste Party

Die Fenster des Hinterzimmers sind mit Konzertplakaten abgeklebt, die Bar ist unbesetzt und tot wie ein aufgelassenes Spinnennetz, bedient wird man aus der Gaststube vorne. Einige Spanier, kein Gramm Fett unter den breiten Gürteln, drängen sich hinten um den Billardtisch, vorne auf der Bühne stehen ein paar junge − erschreckend junge − Musiker und spielen Jazz. Es ist wieder einmal JazzJam im Arigato und wir finden Platz gleich hinter der Zwischentür an dem Tisch mit der Spendenbox und dem Ofen im Rücken.

Die meisten Gäste sind deutlich jünger als wir, mittendrin aber sitzt ein älterer Mann − irgendetwas an ihm lässt mich vage an Michael Caine denken − mit Rotwein und Batatas bravas vor sich, die Aufmerksamkeit ganz auf die Bühne gerichtet, ein echter Jazzliebhaber, denke ich. (Aber nein, ein paar Wochen später sitzt er am Hard‘n‘Heavy-Abend an genau demselben Platz, Rotwein und wilde Kartoffeln mit Aioli vor sich und die Augen gen Bühne, als wäre nichts geschehen seither.)

„Probier mal, ist das wirklich ein Radler? Ich schmecke nur Bier“, zweifelt mein Cousin aus München. Ich nehme einen Schluck und schmecke Radler, kein Zweifel. „Wie ist das Radler in München denn?“, spotte ich und frage mich, ob sich unsere Geschmacksgewohnheiten − beide stammen wir aus einem Landstrich, der sich Schwaben nennt und (einst sehr wichtig) doch zu Bayern gehört − durch die Umsiedlung in verschiedene Landeshauptstädte unterschiedlich entwickelt haben.

Die Musik bricht ab, sofort nimmt das harte Klicken vom Billardtisch den Raum ein und das akzentuierte Spanisch der jungen Männer drum herum, eifrig diskutierend, ihre Sprache Tanzpartnerin der Billardklicks. Die Musiker gruppieren sich um, der Boden knarzt, neue Gesichter betreten die Bühne, alle jung, alle männlich. Vermutlich studiert der eine oder andere den Studiengang Jazz/Pop an der Musikhochschule Stuttgart − die Jazzabteilung der Stadt ist nach der Kölns immerhin die zweitälteste Deutschlands −, deren Ende 2013 von der Landesregierung beschlossen worden war, was von der Initiative „Stuttgart braucht Jazz“ vorerst erfolgreich abgewehrt wurde. Ein Glück für die Musikszene der Landeshauptstadt, ein Glück vielleicht auch für diese jungen Musiker dort vorne. Aber warum spielen eigentlich keine Frauen hier? Ja, warum eigentlich nicht?

Die Heizung holpert und wärmt uns an dem Tisch am Eingang und wir erinnern uns an unsere erste Begegnung mit Stuttgart. Damals, als wir noch fast Kinder waren, war die Stadt uns ein fremder Ort, mit dem wir nicht mehr verbanden als mit der Muttermilch aufgesaugte Vorurteile. Ein Onkel von uns wohnte damals hier, er war an den Theaterbühnen tätig, und einmal, zu einer WG-Party, lud er Verwandtschaft ein. Tatsächlich machte sich eine Tante auf den Weg nach Stuttgart, sie packte uns Buben ein und so kamen wir zum ersten mal in diese Stadt. Wo das Haus mit der Party genau lag, haben wir keine Ahnung, auch unser Onkel weiß es nicht mehr, „irgendwo am Hang“ blickte er ratlos umher, als er mich hier besuchte. Von der Party der Schauspieler jedenfalls waren wir Jungen noch überfordert − zu jung, um uns unter den ausgelassenen Erwachsenen zu bewegen, zu jung, um später mitzutanzen. Wir lagen irgendwann oben in einem der Zimmer und versuchten zu schlafen, halb sehnsüchtig lauschend, halb gepeinigt von dem Lärm. Noch heute, stellen wir fest, rufen unsere Erinnerungen an unseren ersten Besuch, unsere erste Party in Stuttgart die gleichen Gefühle wach.

Pause. Wieder erobern die spanischen Worte und das Klickklack den Raum. Ein paar Momente tuscheln die Musiker auf der Bühne, dann ertönt der Ruf „Schlagzeuger!“. Zögern, Zaudern, Füßescharren, dann erbarmt sich endlich ein junger Bursche, als seine Kumpels auf ihn zeigen. Und das nächste Set an Oldschool Jazz wird eröffnet. Der schlanke, empfindsame Tastenspieler hinter dem Yamaha-Keyboard rückt den Schal zurecht, der Besen streichelt das Schlagzeug, gekrümmte Finger tanzen über die Saiten des dunklen Kontrabasses wie die Beine einer balzenden Tarantel, Saxophon und Trompete liefern sich ein Duett aus Klage und Triumph. Alle Nervosität ist längst abgelegt, die Musiker vergessen sich, Solo um Solo rollt ab, die Zeit ist aufgehoben. Es fehlt nur noch der Rauch zur perfekten Illusion, wirbelnde Schwaden unter den stummen Ventilatoren. Und dann würde vielleicht Philip Marlowe dort stehen, in Hut und Anzug, an den Tresen oder an den Türrahmen gelehnt, die melancholischen Augen verschleiert hinter dem Zigarettendunst.

Aber nein, geraucht wird im Hinterzimmer nicht, geraucht wird vorne in der Gaststube. Dort, wo sich Herren mit schulterlangen weißen Haaren um den Kachelofen drängen, junge Leute über ihr Bier hinweg lachen und disputieren und wo an der Türe, eifrig in ein Gespräch vertieft, eine Muslima mit Kopftuch sitzt, Zigarette und Schnaps zur Hand. Das Arigato − ein bisschen Studententum, ein bisschen Nachbarschaft, leicht alternativ und ziemlich bodenständig.

Arigato Music-Club: Kolbstr.2 − 70178 Stuttgart (Haltestelle Marienplatz)

Der JazzJam findet einmal im Monat, üblicherweise am dritten Donnerstag, statt.

Die Initiative „Stuttgart braucht Jazz“ engagiert sich auch nach dem Erhalt des Studiengangs Jazz/Pop für den Jazz in der Landeshauptstadt Stuttgart.

8 Gedanken zu „JazzJam und Stuttgarts erste Party

  1. Phantastisch geschrieben. Man möchte gleich aufbrechen, um sich einzureihen in das Sammelsurium der menschlichen Facetten. Ich würde dann auch bis zum Hard‘n‘Heavy-Abend bleiben…

    • Ich ahnte, dass Sie bis zum Hard’n’Heavy-Abend bleiben würden. Möchte aber nicht unerwähnt lassen, dass die Selbstvergessenheit beim JazzJam besser zu gelingen scheint, da – hm – weniger Karikatur. Andererseits, manche ließen sich davon ihre Freude gar nicht verderben. Last not least: Herzlichen Dank. Solch einen Reiz weitergeben zu können, beglückt.

      • Oh mein Lieber, haben Sie je die innige Selbstvergessenheit einer Langlode beim Mattenschütteln begleitend zur bonfortionösen Krachmusikke beobachtet?! Mein Herz fängt schon beim Gedanken daran an zu hüpfen. Wobei natürlich ein JazzJam auch immer fetzt. Krachmusikke kommt am oberallerbesten außerhäusig. Was freue ich mir auf den Sommer! Vorfrohe Grüße in’s Ländle, herzlichst, Käthe Knobloch.

      • Verehrte Käthe, ziehen Sie hoffentlich nicht den Schluss, ich würde über Krachmusik die Nase rümpfen. In jenem speziellen Fall war es allerdings eine recht traurige, ich fürchte unfreiwillig parodistische Veranstaltung.

      • Aber nein, diesen Gedanken hatte ich nicht. Krachmusikke braucht ihren eigenen Ort, um sich bassschlagzeugig zu entfalten. Sonst wird’s wirklich schnell ’ne Parodie. Ich persönlich finde ja zum Beispiel Wacken mittlerweile sehrsehrsehr überschätzt. Da wimmelts von Unfreiwilligparodisten.

      • Das mit Wacken muss und will ich Ihnen glauben, mir mangelt es da an Erfahrungen aus erster Hand. Will sagen, ich habe bei Krachmusik dann doch meist irgendein Dach über dem Kopf. Herzlich grüßt in den Norden der Z.

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