Fast Karma

Als ich aus der Stadtbahn aussteige, um die Linie zu wechseln, kommt mir ein einziger Fahrgast entgegen: ein Mann mittleren Alters mit MS, die Finger startbereit am Steuerhebel seines elektrischen Rollstuhls. Ich bin bereits an ihm vorüber, als er etwas sagt. Gedankenversunken reagiere ich nicht. Erst als er seinen Satz wiederholt, drehe ich mich um. Ja, er schaut mich an, er spricht noch einmal zu mir. Ich verstehe kein einziges Wort.

In diesem Augenblick völliger Strukturlosigkeit im eigenen Kopf suche ich mit meinen Augen nach einer Deutung und finde nichts: Die Tür zur Bahn ist offen, der Einstieg ebenerdig, der Zugang unverstellt, nichts liegt am Boden. Was soll ich tun? Ein Teil von mir will sich bereits wieder umdrehen und einfach den Weg fortsetzen – aber er schaut mich doch direkt an! –, da kommt ein Mann, der schneller begriffen hat als ich, aus der Bahn. „Soll ich Sie reinschieben?“, fragt er und tut’s. Die Türen schließen sich und ich komme mir dumm und rüpelhaft vor. Leute auf dem Bahnsteig schauen mich an. Bin ich nun geächtet?

Zwei Minuten später fährt der nächste Rollstuhl ein. Der Fahrer, wieder ein Mann mittleren Alters, bittet mich um eine Zigarette. Auch er hat keine volle Kontrolle mehr über seine Stimme, aber sein Lallen kann ich glücklicherweise deuten. Eine Zigarette habe ich trotzdem nicht. Er fährt weiter, parkt und ruft doch noch einmal zu mir herüber. Ob ich ihm in die U1 helfen könne? – Aber klar doch. – Ist halt schwierig über die Kante. – Kein Thema, grinse ich und schiebe den Wagen an.

Zwei Begegnungen innerhalb weniger Minuten. Ich kann mich nicht erinnern, auf dieser Linie jemals zuvor von einem Rollstuhlfahrer angesprochen worden zu sein. Mir kommt die Koinzidenz nur gelegen: immerhin vielleicht die schnellste Möglichkeit zur Wiedergutmachung in meinem Leben. „Danke“, sagt der Rollstuhlfahrer und zufrieden setze ich mich.

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