Schmollmund und Tattoo im Markt am Vogelsang

Ich steige zum ersten Mal an der Haltestelle Stuttgart-Vogelsang aus und bin sofort für den Stadtteil eingenommen durch den Anblick jener eleganten jungen Frau in Rot, die vor mir die Stadtbahn verlässt. Augenblicklich klemmt sie sich eine Zigarette zwischen den arroganten Schwung ihrer Lippen, ich skaliere ein wenig nach unten und bin dann überrascht, dass sie wie ich den Weg zur Markthalle am Vogelsang einschlägt.

Die berühmte Bauernmarkthalle im ehemaligen Straßenbahndepot gibt es nicht mehr, für sie komme ich zu spät. Seit 2010 können Biowaren dafür im Neubau erworben werden, dem „Markt am Vogelsang“ − einer Art Öko-Mall im Stuttgarter Westen, Halbhöhenlage.

Die Galerie mit Holzgeländer teilt sich das Restaurant Lässig mit einer Verkaufsfiliale des Waschbär-Versands (Mini-Bär für die Kleinsten inklusive). Eigentlich suche ich nach Handtüchern aus Bio-Baumwolle, sie gibt es nicht in der Auslage. Die Hemden und Lederhalbschuhe sind zwar auch verlockend (sie sind es immer) und dazu gerade im Angebot, aber für einen „Ich kaufe aus Spaß und nicht weil ich es brauche“-Einkauf mir doch immer noch zu kostspielig.

Also geht es wieder hinab ins Erdgeschoss, nach rechts und dann katapultiert sich ein Geschäft aus dem Nichts unter die Top drei der Stuttgarter Buchhandlungen. Buch + Spiel. Edition tertium hat eine Menge Spielwaren, etwa ein Drittel der Fläche ist für Bücher reserviert: ein ganz ausgezeichnetes, spürbar handverlesenes Sortiment, das auch und gerade Titel aus unabhängigen Verlagen umfasst.

Bevor ich mich mit hemmungslosen Bucheinkäufen unglücklich mache, rette ich mich hinüber ins Café De Luca − einer Theke mit Backwaren der Eselsmühle (einer Demeter-Holzofenbäckerei im nahen Siebenmühlental) und ein paar soliden Tischen. Der Bobbes ist leider zu trocken, das geht auch anders, und der Kaffee ist aus einem „Knöpfchen-drück-mich“-Vollautomaten und damit (ja, ich weiß, ich wiederhole mich) per definitionem nicht genießbar, aber der über und über tätowierte Kellner ist von ganz perfekter Aufmerksamkeit.

IMAG0588Ein Kaffee im De Luca

Ich knabber an meinem Eselchen und schaue mich um. Draußen wehen Demeterfahnen jenseits der winterlich verwaisten Terrasse mit den Olivenbäumchen und den Markisen von Neumarkter Lammsbräu, der einzigen Brauerei neben Erdinger im Übrigen, der es gelingt, ein köstliches alkoholfreies Hefeweizen zu brauen. Drinnen neben Buch + Spiel der Marktladen, der nicht nur im Namen etwas an den Marktladen in Tübingen erinnert, dem angenehmsten mir bekannten Bioladen, da ihm das Kunststück gelingt, das reichhaltige Angebot eines Biosupermarktes zu führen, ohne als solcher zu wirken. (Und selbstredend auch nichts mehr zu tun hat mit den graugesichtigen, penetrant riechenden Bioläden aus alter Zeit …)

Unter Carnivoren und Flexitarieren ist Boeuf de Hohenlohe hipp. Das Fleisch des Hohenloher Weiderinds gibt es neben anderen Bio-Delikatessen wie vom Schwäbisch-Hällischen Landschwein bei der Bäuerlichen Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall neben dem Marktladen. Das Demeter-Weinsortiment mit Kochbüchern schließlich, in verschwenderischer Raumnutzung, schließt den Reigen ab. Wie die alte Bauernmarkthalle wohl war? Bio war sie auch, aber an einen quirligen Gemüsemarkt auf hartem Depotbeton erinnert hier nichts. Es ist alles sehr adrett und hübsch mit Wohlfühl-Biosiegel. Einer jener Stuttgarter Orte, wo ökologisches Gewissen und die Freiheit vor alltäglichen Geldsorgen eine Ehe eingehen und die Illusion einer schöneren und besseren Welt zaubern.

Als die Stimmung im Café zu betulich wird, steuert der knackige, tätowierte Kellner mit Reggaemusik dagegen. „Ja, wir haben Montag bis Samstag geöffnet“, antwortet er mit entzückendem Akzent. „Heute aber nur bis 18 Uhr. Wir haben Betriebsfeier später, alle zusammen − bis morgen Früh …“

Die Rote habe ich übrigens nicht mehr gesehen. Vielleicht war sie ja doch nicht in die Markthalle gegangen.

Markt am Vogelsang, Stuttgart-West

29 Gedanken zu „Schmollmund und Tattoo im Markt am Vogelsang

  1. Oh wie fein! Die Bäuerliche Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall hat also expandiert. Bis nach Stuttgart hin. Ich weiß noch um die Anfänge, der erste kleine Markt auf der Höh‘ in Schwäbisch Hall. Hach…
    Die alte Bauernmarkthalle habe ich auch ein paarmal besucht. Herrlich unadrett und erfrischend direkt. Schade drum. Aber das heutige Bioklientel mags halt hübsch ordentlich. Dankefein für den erneuten Flash, Herr Zeilentiger, Sie sehen mich entzückt. Herzliche Grüße in den Kessel, Ihre Käthe Knobloch.

    • Ich freue mich immer, Sie geflashed und entzückt zu sehen, liebe Käthe Knobloch. Ist ja ein Ding, dass Sie diese Erzeugergemeinschaft bis zu ihren Wurzeln zurück kennen! Und mir auch noch Eindrücke der alten Stuttgarter Markthalle aus erster Hand liefern können. Jetzt bin ich auch ein bisschen geflashed. Herzliche Grüße in den Norden, Ihr Zeilentiger

      • Gegenseitige Beflashung fetzt ungemein. Weil dadurch verschütt‘ gegangene Eindrücke wieder zum Leben erwachen. Ich weiß gar nicht, wie ich derzeit mit dem Schreiben hinterherkommen soll, bei der Synapsenbepuschelung allerorten. So notatiere ich nur skizzenhaft, um später Geschichtchen zu klöppeln. Hach, sagte ich schon, daß Beflashung fetzt? Entzückt, Ihre Frau Knobloch.

  2. Was ist denn in Stuttgart ein Bobbes? In meiner Heimat ist das ein Synonym für den Allerwertesten – aber bei dem ist es ja durchaus nicht unerwünscht, wenn er trocken ist bzw. bleibt.

      • Bei der Variante ergibt ‚zu trocken‘ gleich einen ganz anderen Sinn.
        Ich glaube, das muss ich irgendwann mal backen, wenn meine Familie zu Besuch kommt. Bei der Vorstellung der Gesichter, wenn ich verkünde, dass es heute Bobbes gibt, muss ich jetzt schon grinsen.

      • Ich verteile viele hessische „Gefällt mir“-Sternchen unter Katjas Kommentaren ; ) Habe in Stuttgart auch schon besagtes Backwerk gekauft, seinen Namen an der Theke aber nicht über die Lippen gebracht, sondern nur draufzeigend „das da, bitte“ bestellt.

      • Haha, immerhin musst du trotz dieses Hintergrunds nicht auf das leckere Gebäck verzichten, das nenne ich doch schon mal eine gute interkulturelle Kompetenz. 😉

      • @das A&O: Na Dankeschön! 🙂
        Ich könnte das wohl auch nicht bestellen, ohne loszuprusten. Tunkt man trockene Bobbese dann eigentlich in Kaffee?

  3. Wenn ich Deine Beiträge so lese, bin ich regelmäßig frustiert über das öde kulinarische Angebot in meiner Provinzstadt: Keine Schmollmünder, keine Volltätowierten, keine „leichten Mädchen“ – das sagte übrigens mein Großvater auch immer und ich hab nie kapiert, woher die Bezeichnung kommt :-).
    Ist der Monster-Lebkuchen bei Deinem neuen FB-Profil auch eine Ausbeute Deiner Kneipengänge?
    So, muss jetzt Essen fassen. Mal sehen, obs Pizza mit Schmollmund gibt 🙂

    • So öde soll es in meiner alten Regierungsbezirkshauptstadt (oder wie immer der korrekte Begriff lautet) zugehen? Kaum zu glauben! Zu den „leichten Mädchen“ wage ich mal keinen Erklärungsversuch. Einfacher ist der sogenannte Monster-Lebkuchen (eigentlich ein Vampir-Muffin) zu erklären: Der war ein Mitbringsel, das man in Stuttgart allerdings leider nicht käuflich erwerben kann, sondern nur über freundschaftliche Bande. Irgendwo muss es aber ein passendes Monsterkochbuch dazu geben.
      Ich wünsche dir auf jeden guten Appetit – und einen gelungenen kulinarischen Genuss drum herum!

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