Fluchtgeschichten

Die Lichter im Flugzeug waren auf die Notbeleuchtung herabgedimmt und ich sah durch das Fenster die Welt in ihrer unbegreiflichen Schönheit. Die undurchdringliche Schwärze des Erdengrundes wurde durchzogen von beinahe fossil anmutenden Mustern aus Licht. Dieses Netz aus Licht und Dunkel erstreckte sich bis zum Horizont. Sein Gleichgewicht war das eigentliche Wunder. Manche der Verbindungslinien waren in Bewegung, Lichtpunkte in Fahrt, wo Straßen dicht befahren waren. Andernorts war der Punkt einsam, wie er vorwitzig das Schwarz der Nacht durchmaß. Mir schien, als habe ich nie die Welt von oben so schön erlebt. Dann flackerte die Innenbeleuchtung auf und entriss mir diese Zauberwelt.

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Als wir auf Höhe des steigenden Mondes sind, wird aufgetischt. „Asian vegetarian“ entpuppt sich als belegtes Gurkenbrötchen. Der Mond sieht aus, als wäre ihm schlecht. Kaum „doviđenja“ gelernt, schon umstellen auf Arabisch.

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Wir nähern uns über Ungarn der serbischen Grenze und der Kapitän spricht so stolz von „frontier“, als müsse sich Serbien mit aller Macht gegen die überbordende EU abgrenzen. Der kranke Mond ist längst weiß und über uns und beleuchtet gespenstisch die Wolkendecke unter dem Flieger – ein leeres, kaltes, melancholisches Reich. Täler und Schluchten ziehen sich durch diese Wolkendecke, aber nirgends reichen sie tief genug hinab, um den Widerschein irdischer Lichter zu entlassen. Für einen kurzen Moment gebe ich mich der Frage hin, ob es dort unten womöglich einfach leer und dunkel ist – eine menschenfreie Steppe. Aber ein Stück Europa liegt unter uns, nicht die Äußere Mongolei, und schon senkt sich das Flugzeug, dem bleichen Mondreich zu entkommen.

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Die Flugbegleiterin im Anschlussflug ist umwerfend wie ein Wunder aus der Wüste. Die gestrenge ‚Mutter‘ des Teams hingegen erinnert an ein Wüstenwunder nach 100 Jahren Wüstensonne. Aus der Wüste sind sie beide nicht. Wenn die arabischen Gäste um die Sitzplätze schachern und tauschen, versuchen sie sich in Englisch einzubringen. Eine dritte Stewardess verteilt lachend Kissen, wirft sie nach links und rechts. Als sie mir strahlend mein vegetarisches Essen reicht, als wäre sie nur zu diesem einzigen Zweck ins Flugzeug gestiegen – bin ich eigentlich wieder der einzige mit Sonderwunsch? –, habe ich alle Wüstenwunder vergessen.

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Vor mir in der Schlange ein Beduine, ein dunkler, derber Mann in traditioneller Kleidung und mit Plastiktüten in der Hand; hinter mir eine Kopftuchträgerin mit zwei kleinen Kindern. Es ist sehr spät in der Nacht und die Schlange wandert nur langsam voran. Die junge Mutter schert aus und fragt den Mann vor mir, ob sie mit den Kindern vorbeidürfe. Er ist grob, abweisend. „Tafaddali“, deute ich ihr zwischen ihm und mir. „Schukran“, bedankt sie sich und reiht sich ein. Nur für einen winzigsten Augenblick haben sich unsere Augen getroffen.

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Ich habe die langsamste Schlange gewählt. Die Beamtin lässt sich quälend lange Zeit, die Pässe der Südasiaten vor mir zu prüfen. Dann donnert sie ihren Stempel so angekotzt auf den Pass, dass irgendetwas weit über die Abschirmung hinwegfliegt. Endlich bin ich an der Reihe. Ein angepisst dreinblickendes, grell geschminktes Gesicht schaut irgendwohin, aber gewiss nicht auf mich oder meinen Pass. Es vergehen furchtbar lange Augenblicke, bis die verlängerten Fingernägel nach dem Pass greifen. Dann dauert es nicht mehr ganz so lange, bis der Stempel sein Werk tut. Immerhin ist es (so deute ich ihre Handlung) ein deutscher Pass und nicht der eines dunkelhäutigen Sklavenvolkes irgendwo vom asiatischen Rand. Yallah bye, Beirut.

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Vor dem Start blockiert ein Gepäckstück das Schließen der Klappe. Die schöne Partisanin drückt fester, aber es hilft nichts. Sie beginnt, das Handgepäck der Fluggäste umzuräumen. Eine Kollegin sieht es, will ihr zur Hilfe kommen, da schiebt sie der Flugbegleiter, ein großer, fast Kahlrasierter, männlich entschlossen zur Seite. Er lässt seine Muskeln spielen und stemmt sich gegen die Klappe. Hämisch beobachte ich das Scheitern seines Eingreifens. Ich hoffe, auch die schöne Partisan grinst schadenfroh, innerlich zumindest.

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Auf der Flughafentoilette ziehe ich mir eine zweite Kleidungsschicht über, dann trete ich in das Weiß hinaus. Bald verschwindet der Flughafen hinter mir im Schneetreiben. Die Sicht ist so kurz, dass mir die Karte, die ich mir eigens für diesen Spaziergang besorgt habe, nichts nützt. Schneewehen bilden sich am Straßenrand. Wo der scharfe Wind mein Gesicht erreicht, klebt Eis mir das Augenlid zu. Nach einer Viertelstunde sehe ich meine Torheit ein und drehe um. Meine Fußstapfen sind nur noch zu ahnen im endlosen, alles bedeckenden Weiß.

4 Gedanken zu „Fluchtgeschichten

  1. Stimmig, wie kundig, wie selbst erlebt.
    Was ist ein „angepisstes“ Gesicht?
    Und das Wort „Spaziergang“ im letzten Abschnitt, ist das ironisch gemeint?
    Gruß von Sonja, zum Glück im Warmen sitzend oder rumlaufend

  2. Hunderttausende Kilometer weit sass ich in Flugzeugen in den letzten Jahren. Verbrachte daneben auch wer weiss wie viele Stunden in Flughafengebäuden. So atmosphärisch dicht wie Sie, lieber zeilentiger, möchte ich das beschreiben können.
    Ich danke Ihnen für Ihren Beitrag.
    Morgendlichschöne Grüsse aus dem munteren Bembelland

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