Newton in Sibirien

„Ah, Physik!“, schüttelt der alte Mann mit den dunklen Augen seinen Kopf, als er beim Anfahren der Stadtbahn fast auf mich stürzt. Er schafft es, sich auf dem Platz gegenüber niederzulassen, rückt seinen Stock und sein Wägelchen zurecht, dann schaut er mich an. „Njuten.“

Ich schaue verdutzt. Der alte Mann klopft sich mit der Rechten aufs Haupt. „Apfel auf Kopf.“

„Ach so, Newton!“, lache ich.

Das Eis ist gebrochen und der Mann beginnt zu erzählen, in kurzen Sätzen, mit starkem Akzent. Er komme aus dem Leuze: „Schwimmen.“ Und rudert mit den Armen. Dann: „Sauna.“

Als er merkt, dass ich nicht peinlich berührt das Gesicht abwende, beugt er sich vor und holt weiter aus. „Aber Sauna im Leuze primitiv“. Vielleicht spricht er es auch primitivo aus. „Ba-sic“, ergänzt er jedenfalls, weil er Zweifel in meinem Gesicht erkennt.

Ich verstehe wohl die Worte, aber nicht den Sinn. Das Mineralbad Leuze am Neckarufer, gleich neben dem ehrwürdigen Mineralbad Berg, wo die wahren Stuttgarter an eisigen Wintermorgen ihre Freiluftbahnen ziehen und wo aus Rohren aus dem städtischen Untergrund das Mineralwasser so rein ins Becken sprudelt, dass man getrost daraus trinken kann (aus dem Rohr jedenfalls, nicht unbedingt aus dem Becken), hat einen guten Ruf. Primitiv?

Und dann erfahre ich warum. Weil es dort keine Reisigbündel gibt, mit denen man sich den Rücken auspeitschen könnte. „Gibt es das denn überhaupt irgendwo in Stuttgart?“, wage ich einen Zweifel einzuwerfen. Oh ja, aber sicher! Zumindest im Umland und der alte Mann zählt auf: Ludwigsburg, Fellbach … Und Berlin. Gleich viermal in Berlin. Ich lächle.

„52 Jahre gehe ich in Sauna“, meint der alte Mann zufrieden. Die Sauna stamme ursprünglich aus Sibirien und sei von dort nach Finnland gekommen, doziert er. Er selbst war schon saunieren in Estland, Litauen, Ungarn, auf Kreta, in Spanien, sogar in der Dominikanischen Republik und in ein paar anderen Ländern, die ich vergessen habe. Am besten sei aber die in Sibirien gewesen.

Die Sauna halte ihn am Leben, erklärt mir der Mann. Der Schock zwischen der Hitze und der Kälte des Wassers halte sein Herz am Laufen. Zum Doktor gehe er nicht, Pillen schlucke er keine, die Pharmaindustrie bekäme nichts von ihm. „Der Mensch hat im Grunde alle Kraft in sich, um gesund zu werden, da braucht man nicht für jeden Mist Pillen schlucken, Tabletten hier, Tabletten dort“, so führt er, nur in weniger Worten, aus. Ich widerspreche nicht. Bei Kopfschmerzen oder Migräne habe ich schon lange keine Tabletten mehr genommen.

Und dann steht der alte Mann auf, Stock, Wägelchen, gebeugter Rücken.

„Seien Sie gesund!“, wünscht er mir zum Abschied und meint natürlich, bleiben Sie gesund.

„Sie auch!“, winke ich ihm nach. „Und gehen Sie noch viele Jahre lang in die Sauna.“

24 Gedanken zu „Newton in Sibirien

  1. Wieder so eine wundervolle Geschichte – und ein beeindruckender Mensch, von dem Du erzählst! Ich verabschiede mich aus gegebenem/angenommenen Anlass auf Jiddisch mit einem herzlichen געזונט זײַ / Zay gezunt!

    • Danke sehr. Es gibt da noch ein Geschichtchen zum Geschichtchen. Ich hatte mir vor jener Fahrt von der Arbeit nach Hause vorgenommen, einmal nicht im Smartphone zu versinken, sondern nach außen gerichtet und offen zu sein. Und schwupps, da war die kleine Geschichte. Auch eine Lektion.

  2. Eine wirklich schöne Geschichte. Über das Mineral Bad Berg habe ich schon einiges gehört aber als „Warmduscherin“ verschlägt es mich eher ins Heslacher Hallenbad.

  3. Vielen Dank! Das Heslacher Hallenbad ist aber auch ein sehr charaktervoller Ort. Wobei ich das nur aus zweiter Hand bzw. aus der Außenansicht habe. Im Bad Berg war ich allerdings auch noch nie – das kommt dann, wenn ich noch ein bisschen länger in Stuttgart gelebt haben werde. 😉

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