Beiruter Passage

Die Scheibenwischer arbeiten gegen den Regen an. Fontänen spritzen hoch, wo das Fahrzeug tiefe Lachen durchpflügt. Die Autobahn schneidet sich durch das nächtliche Beirut gen Norden. Links und rechts der Hochstraße ziehen sich hässliche, reduzierte Hochhäuser entlang, roher Beton, manche leer und ausgehöhlt. Vielleicht gehören diese Häuser zur Vorstadt Burdsch al-Baradschne, einer Hochburg der Hisbollah und Rückzugsgebiet für Flüchtlinge aller Couleur der Levante – dort, wo der IS ein paar Tage vor den Pariser Attentaten einen furchtbaren Anschlag verübt hatte. „Wird es schlimmer werden?“, frage ich den Fahrer. Er zögert, denn er will mir ein paar Tage lang beweisen, dass der Libanon sehr viel mehr ist als politische Instabilität und Beiruter Partyszene, diesen beiden Extremen, die es oft als einziges in unsere westlichen Medien schaffen. „Wenn ich ehrlich sein soll: Ja, es wird schlimmer werden.“

Das Regierungsviertel ähnelt einer Stadt im Belagerungszustand. Panzerblockaden engen die Straßen ein, Stacheldraht schirmt die monumentalen Bauten ab, bewaffnete Posten an jedem Eck. Es ist kalt. Das liegt nicht an den Temperaturen an diesem Januarabend.

Technobässe wummern durch die Gassen. Auch im Winter sitzen Menschen auf den Terrassen der Clubs und Restaurants, durch Plastikbahnen vor der kühlen Luft geschützt. Schönheiten, von plastischer Chirurgie getuned, stolzieren über das Pflaster, junge Männer mit akkuratem Kurzhaarschnitt lassen neben ihrem SUV ein Feuerzeug schnappen. Ein Modegeschäft wirbt mit einem riesenhaften schwarzsilbernen Totenschädel in der Auslage. Die fellbesetzten Stiefel kosten läppische 10 000 Dollar.

Wir irren durch Beirut auf der Suche nach der Rausche, dem „Taubenfelsen“. An einer roten Ampel kurbelt mein Gastgeber das Fenster herunter und winkt dem Fahrer des Smarts auf der Nebenspur. Als der Mann seine Scheibe herablässt, entspinnt sich ein Dialog. Blitzschnell fliegen die Sätze hin und her, die Ampel schaltet auf Grün, wir wechseln die Fahrspur und hängen uns an den Smart. „Fahren wir ihm etwa hinterher?“, frage ich. „Ja, er sagte, der übliche Weg sei gesperrt, aber er führt uns über eine andere Route hin. Nette Menschen hier, nicht wahr?“ Zehn Minuten später sind wir an unserem Ziel. Syrische Flüchtlinge verkaufen an mobilen Garküchen Maiskolben und Maronen. Aus der Schwärze des Meeres unter uns erhebt sich turmhoch die Felsformation. An der Steilküste geistert irgendwo das Licht einer Taschenlampe.

2015 fiel der Geburtstag des Propheten Muhammad – ein Feiertag in vielen (nicht allen) islamischen Ländern – auf den 23. Dezember. Auf dem Platz der Märtyrer in Downtown steht ein großer Weihnachtsbaum mit dem Stern der Verkündung auf seiner Spitze. Die Spruchbänder am Baum wünschen einen gesegneten Geburtstag des Propheten und frohe Weihnachten. Auch manche muslimischen Familien, erfahre ich, stellen sich einen Weihnachtsbaum ins Wohnzimmer. Auch das ist Normalität im Libanon.

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Der bedeutende und mutige Publizist und Historiker Samir Kassir, 2005 in Beirut ermordet, mit einem entschieden weniger bedeutenden und mutigen, immerhin noch lebenden Kollegen.