Gestern Abend: das Gefühl umfassender Sinnlosigkeit. Heute Morgen: heitere Aufbruchsstimmung. Dazwischen: nicht zu stillender Durst.
Die Schlange vorm Bäcker ist mir zu lang, um mir eine Brotzeit und eine Reservewasserflasche zu kaufen, also verlasse ich Ilmensee nach Westen. Über goldstoppelige Äcker mit gerollten Strohballen geht es auf den Höhenzug, dort einen buschumwachsenen Pfad entlang, an einem Feld vorüber, in den Wald hinein. Das Album „Songs from the Wood“ von Jethro Tull wäre, denke ich mir, die ideale musikalische Entsprechung zu dieser Wegstrecke. Aber ich habe keine Musik bei mir. So unverzichtbar, ja lebensnotwendig Musik für mich im Alltag ist, habe ich sie kaum auf Reisen dabei und gewiss nicht beim Wandern, sicherlich auch deshalb nicht, weil ich Kopfhörer noch nie gemocht habe. Meine Ohren mögen das nicht.
Im Buchenwald ist es ruhig und dämmerig, fast noch verschlafen. Die Sonne fällt flach auf das Blätterdach, manchmal, wenn der Hang zur Linken besonders steil aufragt, verschwindet sie ganz. Die Vögel sind zurückhaltend, gelegentlich gluckert ein Bächlein, ein Reh scheut. Sehr still und sehr flott geht es voran auf diesem Weg auf halber Höhe. Um nicht eintönig zu werden, fällt er gelegentlich über eine Abzweigung ab und steigt wieder empor, wo man vermutlich auch einfach hätte geradeaus gehen können. An den Bäumen hängen Waldreben, die wir als Kinder unter dem Einfluss der Tarzan-Romane von Edgar Rice Burroughs, die der Vater der Familie vorgelesen hatte, Lianen nannten, die aber ansonsten ganz allgemein und wie selbstverständlich „Judenstrick“ hießen. Irgendwann war mir der geläufige Name in seinem Wortsinne gegenübergetreten und schlagartig fürchtete ich eine nicht bösartige, aber in größter Gedankenlosigkeit tradierte antisemitische Bezeichnung und legte mir selbst Etymologien zurecht, schloss auf die einst zahlreichen jüdischen Viehhändler, denen womöglich aus reiner Gehässigkeit unterstellt worden war, die Clematis aus dem Wald zu verwenden statt ordentlicher Kälberstricke. Erst viele, viele Jahre später, tatsächlich erst, als ich nach meiner Wanderung dem Wort nachging, erfuhr ich, dass die Wahrheit eine ganz harmlose ist, der volkstümliche Judenstrick sich vom Jutenstrick nämlich ableitet. War ich hier ein Fall dieser typischen deutschen Selbstvorverurteilung geworden? Keineswegs. In den 80er-Jahren noch gang und gäbe und vermutlich bis heute nicht verschwunden ist in Süddeutschland der „Judenfurz“ als Bezeichnung für den Chinakracher, diesen kleinsten der Sprengkörper für Silvester.
Gleich nachdem mir die ersten Wanderer an diesem – oder gar der ganzen letzten? – Tage entgegenkommen, zeigen sich zum ersten Mal durch den unentwegten Dunst hindurch die Alpen. Dann biegt der Weg scharf ab ins Tal, mitten durch den Hof einer Einöde. An solchen Orten ist mit Hunden zu rechnen – und ich meide Hofhunde, wo es geht, aber was hilft es, ich muss da hinunter –, und tatsächlich, da ist ein freilaufender Hund, der gerade im Stall oder der Melkkammer verschwindet. Erleichtert bin ich, gleich Menschen zu sehen, denn wann immer auf Wanderungen Hunde ernsthaft aufdringlich geworden waren, waren Menschen in der Nähe, die sie zurückpfiffen. Eine krumme, alte Bäuerin muss mich gesehen haben, sie geht zur Tür, hinter der der Hund eben verschwunden ist, und schließt sie mit einer ganz beiläufigen Bewegung. Danke, gute Frau, wir verstehen uns. Ein Traktor versperrt mir die Sicht auf den Weg, bevor ich suchen kann, wie herum ich mich wende, weist mir die Bäuerin die Richtung. Ihr rotbärtiger Sohn schaut grimmig, aber er erwidert meinen Gruß.
Unten im Weiler Ellenfurt rauscht der Bach, die wenigen parkenden Autos haben fremde Kennzeichen, eines ist bis aus Berlin gekommen. Nach Überquerung der Talstraße geht es sofort wieder hoch auf den nächsten Höhenzug. Was bis eben ein milder Sommermorgen war, ist nun drückend und heiß. Ich keuche den gewundenen Weg empor, ein dünner Schweißfilm steht mir auf den Armen, der Gaumen zieht sich vor Durst zusammen. Tränke ich nun, würde sich der Wasserfilm auf meiner Haut binnen Augenblicken vervielfachen. Schön ist der Weg aber, das wissen auch andere, wie die Sprungschanzen von Mountainbikern zeigen, auch Pferdeäpfel liegen da. Oben dann, auf der Ebene, knallt die Sonne auf die Rodung, ein Hase hoppelt, der Geschmack im Mund wird metallisch und ich habe, als ich aus dem Wald trete, zum ersten Mal Sicht auf den Bodensee, seinen nördlichen Ausläufer.
Fast hätte ich eine kleine Abkürzung genommen, um das, was auf der Karte ein paar hundert Meter über die Kuppe führt und dann im spitzen Winkel zurück zum Wald, zu schneiden. Ich hätte einen der lauschigsten Flecken überhaupt verpasst. Erst geht es über das Feld; dann eine Hohlgasse hinab – einen schmalen Pfad für Mensch und Tier, die steilen Böschungen von Haselsträuchern gesäumt, das Licht gedämpft, schöner kann ein Weg kaum sein; und schließlich das Dörfchen Betenbrunn, beherrscht von seiner barocken Wallfahrtskirche, die einen Kreuzweg mit fünfzehn Stationen auf allerengstem Raum unterbringt (ob die Gläubigen auf Knien rutschen, damit er nicht gar zu schnell zu Ende ist?); die Häuser hübsches Fachwerk mit Vorgarten; ein Dorfbrunnen plätschert unter einer ausladenden Baumkrone, eine Frau füllt die Gießkannen für ihren Garten auf; sogar ein Gasthaus hat das Dörfchen und nur die Fahne der Brauerei hält mich davon ab, hier einen Halt für ein alkoholfreies Weizen einzulegen.
Bald geht es steil hinab, sehr, sehr steil, vorbei an einem Alpaka-Paradies mit seinen nervösen Langhälsern, vorbei an einem wachsam-braven Hund, ganz pflichtvergessen und gutmütig zugleich, ein zweiter, kleiner, alter Hund nimmt all seinen Mut zusammen und übernimmt kühn die Aufgabe, mir bellend Geleit zu geben. Durch Lellwangen, irgendetwas erinnert vage an Bilder aus Mexiko, vielleicht nur der Schwung dieser Bögen dort oder die Farbe des Anstrichs, zwischen flimmernden Äckern hindurch zum Pfad mit seinen schwärmerisch-esoterischen, dem „Sonnengesang“ Franz von Assisis nachgeformten Bildstöcken, auf denen der Herrgott und die vier Elemente ihre Verehrung finden.
In der Mittagsglut irre ich durch Untersiggingen, passiere den kleinen Markt in der Hoffnung auf einen Biergarten oder eine Terrasse vor einem Gasthof. Die Gaststätten haben alle zu, ich kehre um, suche den Markt nochmals auf, auch er hat inzwischen geschlossen, nur Autos durchfahren den Ort auf der Suche nach Irgendwo. Am Ende eines Doppelkreisverkehrs finde ich eine Tankstelle, greife gierig nach zwei Flaschen aus dem Kühlregal. Die junge Verkäuferin mit den langen Fingernägeln schaut, als würde sie nicht oft einen Menschen wie mich sehen, ihr Make-up wirkt deplatziert, falscher Glanz auf verlorenem Posten, ich habe Mitleid mit ihr, es muss die Hölle sein hier. Ich fliehe aus dem Ort, keuche einen Berg empor, wie sich das zieht, lasse mich auf der ersten Bank auf dem Höhenzug nieder, wo ich Party mache, ich und die beiden Flaschen und die gierigen Wespen im Fallobst. Eine Flasche leere ich auf einen Zug, die zweite in kleinen Schlucken. Eine halbe Stunde später, als ich durch eine Armee von Apfelbäumen schleiche, habe ich schon wieder Durst.
Den Gehrenberger Aussichtsturm muss man übrigens nicht im ersten Anlauf schaffen. Man wendet der luftigen Stahlfachwerkkonstruktion einfach für ein paar Minuten den Rücken zu, wartet, bis die lärmende Besuchergruppe abgezogen ist, isst einen Fruchtriegel und nimmt dann einen zweiten Anlauf, beide Hände immer schön am Geländer und den Blick nie nach unten gerichtet. Die Belohnung ist ein fantastischer Ausblick – über die Baumwipfel hinweg – über fast den gesamten Bodensee. Das Land unter mir aber ist ein ganz anderes als in den letzten Tagen, es ist eine Ferienlandschaft, das sieht man schon vom Turm aus. Spaziergänger kommen gruppenweise den Berg empor, die Menschen stören mich. Ich spüre, wie ich die einsamen Stunden genossen hatte; und die einzelne Begegnung hatte mehr Gewicht. Hier sind wir alle nur noch anonyme Masse. Mir ist es zuwider. Und ich steige weiter hinab und will doch zurück, dorthin, wo die Menschen rar waren und die Landschaft weit, steige grimmig ab und ein bisschen verwundbar, gerade so, als wäre ich ein Mann aus den Bergen.