Krokodile auf der Sandbank, Sonnenschein, kurz vor Weihnachten

Der Wolf Andreas ist schuld. Aber dazu später.

Eigentlich hatte ich eine Winterreise geplant, aber wenn ein Satz schon mit eigentlich beginnt. Eine winterliche Heimreise – entschleunigter als Heines Kutschfahrt (weniger politisch vermutlich, gewiss nicht in Reimform) und hoffentlich nicht so düster wie Schuberts Liederzyklus –, eine Wanderung nämlich, um im Morgengrauen aus der eigenen Haustür zu treten und ein paar Tage später in der Dämmerung des Heiligen Abends anzuklopfen bei meinen Vorfahren auf dem Hügel. Die Idee gefällt mir seit Jahren, heuer habe ich zum ersten Mal ernsthaft darüber nachgedacht, aber dann in der Detailplanung – auf den letzten Drücker natürlich – gemerkt, dass mir die fünf Tage nicht reichen für den Weg von Stuttgart ins Allgäu.

Stattdessen bleibt mir nun Zeit für ein paar andere Dinge, Grübeln über gesundheitliche Unpässlichkeiten etwa, die sich in letzter Zeit bemerkbar gemacht haben. (Sind sie ein Symptom des Älterwerdens? Ein Aufruf zur Umkehr, wohin auch immer?) Weihnachtspost ist eingetrudelt, die zwei schönsten – und überraschendsten – lustigerweise aus derselben Stadt von zwei Bloggerinnen, die einander, wenn ich mich nicht irre, nicht persönlich kennen. Herzlichen Dank, Lakritze und das A&O, für diese Freude! Gleichzeitig habe ich ein bisschen ein schlechtes Gewissen; das Gefühl für ein Gebot der Reziprozität ist ja auch in unserer postmodernen Gesellschaft nicht gänzlich ausgestorben. (Am wenigsten übrigens in älteren schwäbischen Haushalten, wo für ein geborgtes Pfund Mehl aber auch wirklich die korrekte Menge zurückgebracht wird, als könne man nicht leben in dem Wissen, jemandem ein Gramm schuldig zu bleiben.) Ich nämlich habe dieses Jahr niemandem Weihnachtspost geschickt, wirklich niemandem außer ein paar Professoren beruflicherweise, was etwas ganz anderes ist. Tatsächlich ist es das erste Jahr, dass ich selbst den Vorsatz, Weihnachtsmails zu schreiben an Menschen, bei denen ich mich lange nicht gemeldet habe, erst gar nicht aufgegriffen habe. Eine Kapitulation?

Vielleicht keine Kapitulation, aber jedenfalls eine Unterlassung ist die zweite Neuerung, eine Übereinkunft mit den Brüdern: Wir Erwachsene werden uns dieses Jahr nichts schenken. Aber den Nichten und Neffen natürlich, das lässt sich ein Onkel nicht gern nehmen. Am liebsten kaufe ich Weihnachtsgeschenke in einer Buchhandlung, immer schon. Und da die Aststifte in dem Kinderladen nicht mehr zu bekommen sind, rutscht ein Posten mehr auf die Buch- und Hörspielliste. Hängengeblieben bin ich dann bei Ausgaben von Latte Igel. Kein Vergleich zu dem Taschenbüchlein von Ravensburger oder so, das ich aus meiner Kindheit kenne, sondern großzügig bebilderte, hübsche Halbleinenbände. Da müssen Latte Igel und seine Freunde zum Beispiel den Wasserstein suchen gegen die anhaltende Trockenheit in ihrem Wald – doch der Stein wird vom grimmen Bärenkönig und seinen Kriegern, kühn gezeichneten Luchsen, besser lässt sich eine wilde Waldkriegerschar gar nicht darstellen, bewacht. Nach allerhand Abenteuern finden sie den Wasserstein schließlich im Hort des Diebes Fjodor. Fast hätte ich mir das Buch selbst gekauft.

Dann wurde es doch ein anderes (für mich) und jetzt kommt der Wolf Andreas ins Spiel. Denn er hatte im Frühjahr auf seinem Blog von seinen Leseeindrücken von Karl Bruckmaiers „The Story of Pop“ berichtet (1, 2 und 3). Ich hatte mir das Buch notiert und natürlich wieder vergessen und dann gehe ich in der Buchhandlung aus einem Impuls zurück in die Musikabteilung, weil ich mir gerade vorstellen könnte, über Musik zu lesen, ich da, wenn man so will, plötzlich einen gewissen musikalischen Bildungshunger verspüre, und da sehe ich den Bruckmaier liegen und erinnere mich. Und weiß wieder, das will ich, schon alleine deswegen, weil Bruckmaier seine Geschichte des Pops mit dem frühmittelalterlichen al-Andalus beginnt. Es gibt in der Auslage eine Broschurausgabe (Heyne) und eine schwarze Leinenausgabe (Murmann) und ich greife zu Letzterer, da kann ich gar nicht anders, auch wenn ein empfindungsloser Finanzberater mir vielleicht auf die Finger klopfen würde: „Brauchen Sie‘s?“ Also, ich finde, schon.

Ich freue mich darauf, es gleich aufzuschlagen und hineinzulesen, suche mir am Marienplatz ein sonniges Plätzchen. Die Weihnachtsgrüße im Ratzer ums Eck lasse ich lieber, sonst höre ich dort doch noch in die neue Platte von Hellmut Hattler hinein und finde am Ende noch Gefallen daran und dann klopft mir der Bankberater nochmals auf die Finger. Ich schlage also den Bruckmaier auf, schon das Leinen zu berühren ist schön, und habe, als ich auf der ersten Seite des Vorworts bin, bereits eine fünffache Gänsehaut von dem Buch bekommen.

„Gibt es einen Schöpfer, der an uns Interesse hat?“, bauen zwei vertrocknete Frauen einen Stand mit Broschüren auf. Nein und nein, meine Damen. Den Geist des Weihnachten schätze ich trotzdem. Nicht den des Kommerzes, der Blinklichter, der Schmalzbeschallungen, dieser gefräßigen Maschinerie, die mir in diesem Jahr mächtiger denn je erscheint. Sondern den eines Charles Dickens, den, der uns innehalten, uns für Feineres aufmerken, uns zusammenfinden lässt, durchaus auch den von Kerzen hinter Fenstern und gemeinsamem Geschichtenlesen und Lebkuchengewürzen. Aber ich verstehe, dass Weihnachten für manche eine Qual, für andere die Hölle ist: Einsamkeit, Armut, Verlogenheit und Missbrauch.

Die Göttin hat mir Tee gekocht
Und Rum hineingegossen;
Sie selber aber hat den Rum
Ganz ohne Tee genossen.

(Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen)

Jetzt muss ich nur noch überlegen, was ich mit dem Vorschlag von Danares und dem Kaffeehaussitzer mache. Ich glaube, denen war es ernst.

Ich wünsche allen das Beste, das Bestmögliche! Vielleicht ja sogar selige, liebevolle Feiertage.

19 Gedanken zu „Krokodile auf der Sandbank, Sonnenschein, kurz vor Weihnachten

  1. Es freut mich, daß Du an die Einsamen denkst, für die diese Zeit in der Tat eine seelische Hölle ist, wenn sie sehen, daß andere beisammen sind, Menschen haben, zu denen sie gehören, und viele das nicht einmal zu schätzen wissen und sich beklagen. An so vieles wird gedacht vor und in der Weihnachtszeit, nur an die Einsamen nicht. Danke, daß Du an sie erinnerst.
    Auch für Dich das Beste!

  2. Lieber Tiger, ich glaube nicht, daß ich jemals einen besseren und schöneren Text zu Weihnachten gelesen habe wie diesen, dem deinigen! Er ist mir direkt ins Herz gegangen! Ich wünsch Dir von allem natürlich das Aller- allerbeste und Tee mit viel Rum ob mit oder ohne Göttin, aber mit Kerzen und Menschen, in deren Augen sich die Flammen spiegeln! Viele liebe Grüsse

  3. Und irgendwie ist es dann doch eine Winterreise geworden, lieber Holger. Danke für diesen feinen Report, da wird mir ganz warm ums Herz. Dir selbst natürlich auch das Allerbeste!

  4. Lieber Zeilentiger, da haben uns die Elektronhindernisse auf verschiedenen Apparaturen gegenseitig genarrt. Ebenerst erhalte ich den Hinweis auf Deinen Bericht. Adjektiv(e) fehlt!?
    Ach klar, Dein Bericht ist exquisit und geht geradenwegs ins Herz.
    Ganz herzlichen Dank dafür und herzliche Grüsse aus dem blauhimmlischen Bembelland, Ihr Herr Ärmel

      • Lieber Zeilentiger, ich bin untröstlich und bewerfe mein unwürdiges Haupt mit Staub.

        Wie konnte ich Sie nur in dieser mir nicht zustehenden vertrauten Form anschreiben. Weh&Ach.
        Nehmen Sie es einem alternden Mann nicht übel und für sich selbst als mahnendes Beispiel mit in Ihre hoffentlich glänzende Zukunft.

        Fast verschämt teile ich Ihnen auf Ihre überaus freundliche Nachfrage mit, dass die diesjährigen Weihnachtstage für mich wunderschön für waren.
        Aber jetzt, nach der peinlichen Entdeckung meiner Tastaturfehlgriffe ist Weihnachten vorbei.

        Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht mit leichten Träumen, Ihr Herr Ärmel (etwas verwirrt noch immer) – achso, Ärmel aus dem Bembelland natürlich ~~~ eieiei

      • Verehrter Herr Ärmel, da gehe ich taktvoll (wenngleich grinsend, was Sie nicht sehen konnten) über Ihren Bruch der Form hinweg und da graben Sie es selbst aus, wo Schweigen genügt hätte! Da kann ich Ihnen jetzt Ihre Zerknirschung natürlich nicht mehr nehmen, da müssen Sie jetzt durch.

        Die allerbesten, heiteren Grüße!

      • Und schon wieder – – ach ach ach – – wie komme ich bloss da durch und raus – – warten Sie…
        Wer sagte noch diesen berühmten Satz: „wer spricht vom leben, durchkommen ist alles“? War das Ralf Marion Rille? Nee, so hiess der auch nicht ~~~~ ach

  5. Mensch, ich seh ja jetzt erst, welch ungeheuerlicher Dinge ich hier bezichtigt werde. Ich hoffe, der Bruckmaier ist dir eine Bereicherung, mir war er es, und ich hab auch die Leinenausgabe, wider die Vernunft empfindungsloser Finanzerbsenzähler.

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