Plutarch am Ilmensee – Eine Vermessung Oberschwabens (Teil 4)

Die Wirtin lässt Grüße ausrichten an die Wirtsleute meiner nächsten Station. Das gefällt mir, das würde ich gerne öfter machen: den Tag lang durch die Gegend wandern, um Grüße auszurichten.

„Die Porträtmaler suchen die Ähnlichkeit aus dem Gesicht und den Zügen um die Augen zu gewinnen, in denen sich der Charakter darstellt, und schenken den übrigen Körperteilen weniger Aufmerksamkeit. In entsprechender Weise muß man es auch mir gestatten, daß ich mich mehr mit den kennzeichnenden seelischen Zügen befasse und daraus das Lebensbild eines jeden zeichne. Die großen Heldentaten und die Schlachten aber überlasse ich anderen.“ (1)

Zwischen zwei bewaldeten Höhenzügen liegt der Ilmensee, ein Relikt der Eiszeit mit einer Nord-Süd-Ausdehnung von etwa einem Kilometer. Steinzeitmenschen hatten an seinem Ufer Pfahlbauten errichtet, im 20. Jahrhundert war er vor Renaturierungsmaßnahmen ein Sammelbecken für Phosphor und andere Rückstände aus Landwirtschaft und Abwässer. Auf seinem Grund liegt eine Kirchglocke aus dem Dreißigjährigen Krieg, versenkt vor den anrückenden Schweden.

An seinem nördlichen Ende liegt das Dorf Ilmensee, dazwischen Uferbäume, ein Schilfgürtel und ein Freibad, dessen Wiese sich am Ostufer weit nach Süden erstreckt und in Bootsanlegestellen übergeht. Auf dieser Wiese liege ich auf meinem Allzweckschal, ein gelbes Reclambändchen des antiken Biographen Plutarch neben mir, und schaue auf den Ilmensee. Sein Wasser gleicht einer flirrenden Fläche in steter Bewegung – ein Spiel aus Licht und Schatten, dort dunkler, wo Bäume ihr Spiegelbild auf den See hinauswerfen. Wo Menschen schwimmen, entzündet sich das Wasser in weißem Licht. Noch die kleinste Bewegung zaubert Licht, der Glanz umgibt die Menschen, als wären sie, vom See reich beschenkt, höhere Wesen. Bewegt sich der Körper, folgt ihm ein Schweif aus Licht. Es ist eine vollkommen gewöhnliche Angelegenheit und trotzdem, versenkt man sich in diesen Anblick, eine Erscheinung von äußerster Schönheit.

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Landschaftlich ist die Etappe von Altshausen nach Ilmensee die vielleicht schönste auf meinem Weg durch Oberschwaben. Die Hügel recken sich höher, die Häuser tragen bunte Farben, alles wagt hier ein wenig mehr. Ein Weiler wie Mauren stellt die perfektionierte Werbung für ein idyllisches Landleben, ohne das zu wollen, denn wer verirrt sich schon dorthin, um den man werben wollte. Einmal auf einer Landstraße ein paar Radfahrer, sonst bin ich allein unterwegs. In Unterwaldhausen stehen drei Männer um eine Landmaschine auf dem Feld. Der mir Nächste, den Oberkörper frei in der Augustsonne, blickt den Fremden unsicher an – unsicher immerhin, nicht misstrauisch wie schon so oft auf dieser Wanderung beschrieben. Ich grüße ihn, mache eine scherzhafte Bemerkung und schon bin ich im Gespräch. Ganz von selbst bin ich in meinen Dialekt gefallen, es fällt mir leichter, je weiter ich nach Süden komme. Zu den Menschen ist er eine Brücke.

Trotzdem bin ich nicht ganz hier. Mein Körper geht, er findet inzwischen von selbst sein Tempo, seinen Rhythmus. Die Gedanken aber schweifen ab, sie sind fahrig, die Sinne richten sich nach innen. An diesem Tag schreibe ich kein einziges Wort auf meinem Weg ins Notizbuch. Verfalle stattdessen in Fantasien, während ich zwischen einsamen Kornfeldern von Hügel zu Hügel wandere, in Endzeitbilder. Monströsitäten aus einer Serie, die ich während einer Erkältung in der dunklen Jahreszeit in mich aufgesogen habe, erheben sich aus ihren Gräbern und Zombies treten aus den Wäldern, um mich zu jagen. Die Apokalypse der Untoten hat sich offenbar ins Bild des Wanderers im 21. Jahrhundert eingeschrieben. Wer sonst sollte allein über menschenleere Straßen ziehen als der Überlebende des zivilisatorischen Zusammenbruchs?

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Als ich ins Wasser steige, wird das Licht zu moorigem Grün. Das Wasser ist angenehm warm und es ist eine Lust, sich dem Nass hinzugeben, sich tragen zu lassen, hinauszuschwimmen. Es ist das erste Mal in diesem Jahr, dass ich in einem See (und nicht einem Freibad oder immerhin einem Weiher) schwimme. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wann ich das zuletzt gemacht habe. (Und im Meer? Wann bin ich das letzte Mal im Meer geschwommen?) Es verstört mich. So sollte das Leben nicht sein. Warum tue ich nicht mehr, warum tue ich nicht alles, um das zu ändern?

Zwei überdrehte junge Lesben, jede ihrer Gesten hat etwas Überzeichnetes, küssen sich auf halbem Weg ins Wasser. Eine Junge mit Windpockennarben an den Armen ist ganz aufgeregt: zwei Frauen, die sich küssen! Ach, Junge, du wirst noch viel lernen müssen. Unterschiedlich die Reaktion seiner Großeltern. Für ihn hat die Beobachtung nicht mehr Relevanz, als dass sich eben zwei Menschen küssen. Sie ist aufgestört. „Etwas ungewöhnlich ist das doch!“, sagt sie, in genau diesen Worten. Die Stadt ist fern. Für einen Augenblick vermisse ich sie.

Im Norden ziehen reinweiße Wolken vorüber, aufgebauscht, wie aufgesprüht am Himmel, man möchte hineinbeißen in diese Köstlichkeiten. Morgen würde es gewittern, heißt es seit Tagen. Heute aber heißt es erst einmal, den restlichen Tag zu genießen. Und den Beinen Ruhe zu gönnen. Sie schlagen sich gut: Füße, Beine, Gelenke, ich bin erleichtert, wie wenig sie schmerzen. Aber wie sie nur aussehen! Voller Macken aus den letzten Monaten, dort die Striemen der Brombeerranken im Pfälzer Wald immer noch zu sehen, hier die dunklen Scharten im Schienbein, als ich nächtens, den Blick aufs Smartphone geheftet, gegen einen Betonpoller gelaufen bin, rote Schwellungen, wo mich Bremsen gestochen haben, ein Hitzeausschlag, wo Stoff und Schweiß zusammenkommen, und eine Wolf vom ersten Wandertag, der mich jeden Abend zwingt, das Blut aus der Hose auszuwaschen. Immerhin, sie haben ein Leben, meine Beine.

Am späten Nachmittag liegt die Gluthitze schwer auf dem Dorf. Es ist der heißeste Tag in 2015. Die Messinggriffe der Kirchtür sind sengend heiß. Über dem Garagentor des Pfarrhauses hängt groß der Gekreuzigte. Gegenüber spielt jemand auf der E-Gitarre, langsam und träge fließen die psychedelischen Wiederholungen über die Straße. Gerne würde ich mich mit einem kühlen Bier auf die Terrasse des Hauses setzen und mich treiben lassen von den Klängen. Am Eck ein Kaugummiautomat mit vier befüllten Behältern, einem Relikt aus den 80er-Jahren gleich, aber der Einwurf ist sauber auf Cent und Euro beschriftet. Hier lebt eine Vergangenheit weiter und ohne dem Fremdenverkehr wäre dieses Dorf zwischen den beiden Höhenzügen längst tot, wäre da kein Blumenladen, in den eben die Auslagen aus Blütenpflanzen und Kirschfrüchten ins Haus geräumt werden, wäre da keine Dorfbäckerei mehr, hinter deren Scheiben Licht brennt, ohne die Feriengäste stünden da an der Hauptstraße nicht gleich drei Gaststätten, würde es kein Dorfcafé geben und keine Saufhalle mit Chicken Wings aus Geflügelmassenvernichtungsfabriken, keinen Allgäuer Beef-Abend, der wenig mit dem Allgäu zu tun haben dürfte, nicht den Pizzaservice mit den indischen und thailändischen Gerichten versteckt hinter der Bankfiliale. Vielleicht nicht einmal das Bett, in dem ich heute Nacht schlafen werde.

In der Abenddämmerung folge ich dem Lehrpfad rund um den See. Ich lese alle Tafeln. Den Hinweis auf einen Haifischzahn, mit dem ein Schild vor dem Freibad wirbt, finde ich nicht.

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(1) Plutarch: Alexander. Caesar. Übersetzt und herausgegeben von Marion Giebel. Stuttgart 1980. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 1990, S. 3.

9 Gedanken zu „Plutarch am Ilmensee – Eine Vermessung Oberschwabens (Teil 4)

  1. Lieber Holger, ich schrieb es wohl schon mal: So gern geh ich virtuell mit dir spazieren. Was du alles wahrnimmst auf dem Weg und in dein Notizbuch schreibst oder vielleicht auch in der Erinnerung speicherst, die nicht faul ist vom schnellen Druck auf den Auslöser des Fotoapparats!

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